Eva HildesheimerSeltenes Zeugnis jüdischen studentischen Lebens
Nationalsozialisten hatten der Philosophiestudentin den Weg zu akademischer Bildung verbaut – Nachkommen überreichten Mitschriften zu zwei Vorlesungen von Karl Jaspers
Mitschriften von zwei Vorlesungen des Heidelberger Philosophen Karl Jaspers (1883 bis 1969) hat das Universitätsarchiv der Ruperto Carola als private Schenkung erhalten. Die beiden Hefte aus den Jahren 1932 und 1933 stammen von Eva Hildesheimer (1914 bis 2010), einer jüdischen Studentin von Karl Jaspers, die ihr Studium 1933 abbrach und Deutschland im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten verließ. Ihr Sohn Giora Teltsch überreichte die historischen Dokumente im Juni 2024 im Rahmen einer kleinen Feierstunde an die Rektorin der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Frauke Melchior. Mit dem Leben Eva Hildesheimers und der Situation jüdischer Studierender in dieser Zeit befasst sich Prof. Dr. Frank Engehausen, der am Historischen Seminar zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts forscht.
Von Frank Engehausen
Der Antisemitismus an der Universität Heidelberg in den Jahren unmittelbar vor und nach 1933 ist gut erforscht, jedenfalls soweit er sich gegen die als „nicht-arisch“ diffamierten Angehörigen des Lehrkörpers richtete, und auch in der öffentlichen Erinnerung der Ruperto Carola werden die entrechteten und vertriebenen jüdischen Dozenten (und eine Dozentin) gewürdigt, zum Beispiel mit einer 1993 im Foyer der Alten Universität angebrachten Gedenktafel. Ein ganz anderes Bild ergibt sich für die Heidelberger jüdischen Studierenden, die nach 1933 zunächst noch an der Universität geduldet, aber vielfach schikaniert wurden. Ihre Schicksale sind bislang noch nicht systematisch erforscht worden, und auch in der lokalen Erinnerung an die nationalsozialistischen Verfolgungsopfer spielen sie allenfalls eine marginale Rolle. Dies mag daran liegen, dass sich im Gedenken die akademischen Hierarchien widerspiegeln und damit den Studierenden als nur temporären und wenig exponierten Universitätsangehörigen geringere Aufmerksamkeit zufällt; zugleich aber dürfte auch die schwierige Quellenlage eine Erklärung bieten: Während sich die Vertreibungsschicksale der Dozenten unter anderem anhand ihrer im Universitätsarchiv verwahrten Personalakten recht genau rekonstruieren lassen, bieten die Studierendenakten in der Regel nur rudimentäre Informationen über Alter, Wohnort, Studienfächer und Einschreibungszeiten.
Vor diesem Hintergrund haben außergewöhnliche Zeugnisse jüdischen studentischen Lebens an der sich rasch in eine nationalsozialistische Vorzeigehochschule wandelnden Universität Heidelberg besondere Bedeutung. Ein solches Zeugnis bilden die beiden dem Universitätsarchiv überlassenen Hefte mit Vorlesungsmitschriften, die im Sommersemester 1932 und im Wintersemester 1932/33 von Eva Hildesheimer angefertigt wurden. Die in Hamburg geborene Tochter eines schließlich in Mannheim ansässigen Chemikers hatte sich zum Sommersemester 1932 als 18-Jährige in Heidelberg für ein naturwissenschaftliches Studium immatrikuliert, war dann aber zur Philosophie gewechselt – vermutlich maßgeblich unter den Eindrücken, die sie von ihrem Dozenten Karl Jaspers gewonnen hatte. Aus dessen Vorlesungen stammen die nach Heidelberg zurückgelangten Mitschriften: Im Sommer 1932 las er über die „Geschichte der neueren Philosophie“ und im Winter 1932/33 über „Kant“. Beides waren arbeitswochenstrukturierende Veranstaltungen, die montags, dienstags, donnerstags und freitags (im Sommer 12 bis 13 Uhr, im Winter 17 bis 18 Uhr) stattfanden. Hildesheimers Mitschriften zu den beiden Vorlesungen umfassen jeweils ungefähr 50 Seiten: Sie skizzieren für das Sommersemester Jaspers’ Überblick über die neuere Philosophie von Cusanus bis Leibniz und für das Wintersemester seine Systematik zu Kants Philosophie. Die letzten Notizen, vermutlich geschrieben, als Adolf Hitler Ende Januar 1933 in Berlin den Weg in das Amt des Reichskanzlers fand, halten Jaspers’ Ausführungen zum Wesen des moralischen Tuns bei Kant fest.
Folgen der einschneidenden politischen Veränderungen von 1933
Wie Jaspers, der 1937 wegen seiner „nicht-arischen“ Ehefrau als „jüdisch versippt“ in den Ruhestand gedrängt wurde, die einschneidenden politischen Veränderungen am Jahresanfang 1933 kommentiert hat, geht aus den Mitschriften ebenso wenig hervor wie Eva Hildesheimers eigene Wahrnehmungen der fatalen Tagesgeschehnisse. In die nationalsozialistische Fratze von Hass und Borniertheit hatte sie in den Vormonaten schon aus der Nähe blicken müssen, als im Sommersemester 1932 eine von rechtsradikalen Studenten getragene Kampagne gegen den Statistik-Professor Emil Julius Gumbel, der als Sozialist, Pazifist und Jude gleich in dreifacher Hinsicht eine politische Zielscheibe war, die Universität erschüttert hatte. Abgesehen von solchen Exzessen dürfte der Kontakt zu oder zumindest der Anblick von Nationalsozialisten, die seit 1930 die größte politische Gruppe unter den Heidelberger Studierenden stellten, für sie alltäglich gewesen sein. Sich auszumalen, was geschehen konnte, wenn die radikalen und bisher oppositionellen Aktivisten Rückenwind durch die Machtübernahme erhielten und der Nationalsozialismus sich auch im Lehrkörper und in den Gremien der Universität ausbreitete, bedurfte keines besonderen politischen Gespürs, sondern nur eines Normalmaßes von gesundem Menschenverstand.
Für das Sommersemester 1933 immatrikulierte sich Eva Hildesheimer nicht erneut; ihr Abgangszeugnis datiert vom 22. April 1933. Zu diesem Zeitpunkt war die Welle von Entlassungen „nicht-arischer“ und politisch missliebiger Dozenten an der Universität Heidelberg bereits angelaufen: Ein in Karlsruhe hastig für das Land Baden erstellter Erlass hatte am 5. April die Beurlaubung sämtlicher Juden im öffentlichen Dienst angeordnet, und zwei Tage später hatte das reichsweite „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die personellen „Säuberungen“ auf eine feste scheinlegale Grundlage gestellt. Was mit den jüdischen Studierenden geschehen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch offen: Der Vorsitzende der Heidelberger Studentenschaft, Gustav Adolf Scheel, der in dieser Situation die Chance witterte, vom nationalsozialistischen Krawallredner zu einem einflussreichen universitätspolitischen Akteur aufzusteigen, hatte beim badischen Kultusministerium schon am 7. April 1933 beantragt, in Heidelberg „Studenten und Studentinnen jüdischer Abstammung nur nach dem numerus clausus entsprechend der jüdischen Bevölkerungsziffer im Reich“ zu immatrikulieren; das diesem Anliegen sinngemäße „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“, das entsprechende Quoten (1,5 Prozent der Neuimmatrikulierten und fünf Prozent der Gesamtstudierenden) festlegte, kam allerdings erst am 25. April zustande, also drei Tage nach Hildesheimers Exmatrikulation. Sollte sie noch einen Blick in die erste Ausgabe der Heidelberger Studentenzeitung vom Sommersemester 1933 geworfen haben, so hätte sie einen Eindruck von dem gewinnen können, was die jüdischen Studierenden darüber hinaus zu erwarten hatten: den Ausschluss von der Unterstützung durch das Studentenwerk und von der Stipendienvergabe.
Neue Existenz in Jerusalem und Haifa
Dies alles und auch die öffentliche Bücherverbrennung am 17. Mai 1933 auf dem Universitätsplatz, die sich gegen einen vermeintlichen „jüdischen Geist“ richtete, sowie die Besetzung des Hauses der jüdischen Verbindung Bavaria durch SA-Männer kurz darauf erlebte Eva Hildesheimer nicht mehr in Heidelberg. Ihre Eltern, Hanna und Dr. Aaron Arnold Hildesheimer, die von Jugend an Zionisten waren, fassten schnell den Entschluss, gemeinsam mit Eva und ihrem jüngeren Bruder Wolfgang, dem später bekannten Schriftsteller und Mozart-Biographen, Deutschland zu verlassen. Die Familie ging zunächst nach London, wo sie auf die Einwanderungspapiere nach Palästina wartete; Eva absolvierte in dieser Zeit einen Ausbildungskurs für Kindergartenerzieherinnen. In Jerusalem, wo sich die Familie am Jahresende 1933 niederließ, war sie zunächst in diesem Beruf tätig und baute dann eine Organisation auf, die sich um vernachlässigte Kinder in den Armenvierteln der Stadt kümmerte. Gleich nach der Ankunft in Palästina schloss sie sich der zionistischen Untergrundorganisation Haganah an, in der sie sich zu einer Kommunikationsoffizierin und Kommandantin einer Fraueneinheit ausbilden ließ.
1937 zog Eva, die inzwischen den Namen Hava führte, mit ihren Eltern nach Haifa um, wo ihr Vater eine Margarinefabrik aufbaute. 1939 heiratete sie Simon Ernst Teltsch, der in den 1920er Jahren aus Österreich nach Palästina ausgewandert war. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Ihr Sohn Giora Teltsch wusste lange Zeit nichts von der Existenz dieser Erinnerungsstücke an ihre kurze Studienzeit in Heidelberg. Warum Hava Teltsch die Vorlesungsmitschriften aufbewahrt hat, kann nur gemutmaßt werden: ganz sicher nicht zum Gedenken an eine unbeschwerte Studienzeit, vielleicht aus Wertschätzung des Professors, bei dem sie in Heidelberg fast täglich gehört hat, und vermutlich zur Erinnerung daran, dass die nationalsozialistische Machtübernahme ihr den Weg zu akademischer Bildung verbaut, damit ihre beruflichen Karrierepläne ruiniert und sie und ihre Familie aus Deutschland vertrieben hat. Nach der Gründung des Staates Israel war Hava Teltsch vielfältig ehrenamtlich tätig: bei der Unterstützung von Einwanderern, in Frauenorganisationen und weiterhin in der Kinderfürsorge. In den 1960er Jahren erschloss sie sich ein neues Berufsfeld als Mitarbeiterin im israelischen Außenministerium, wo sie in der Abteilung für internationale Zusammenarbeit für Entwicklungshilfefragen zuständig war. Nach ihrer Pensionierung 1978 intensivierte sie ihre ehrenamtliche soziale und kulturelle Arbeit auf verschiedenen Feldern wieder. Hava Teltsch starb im Jahr 2010.
Schleichendes Ende der jüdischen Studierenden
Nachdem Eva Hildesheimer zum Sommersemester 1933 die Universität Heidelberg verlassen hatte, waren dort noch 180 Jüdinnen und Juden immatrikuliert. Bereits zum folgenden Wintersemester reduzierte sich ihre Zahl um mehr als die Hälfte auf 79. Sie sank in den folgenden Jahren kontinuierlich bis auf fünf im Sommersemester 1937; im Wintersemester 1938/39 waren dann keine „Volljuden“ mehr unter den Heidelberger Studierenden. Von den 180 Jüdinnen und Juden des Jahres 1933 wurde nur ein sehr kleiner Teil aktiv vertrieben – etwa durch Relegation, wenn es sich um frühere Angehörige kommunistischer oder sozialistischer Studentengruppen handelte. Das Gros brach, wie Eva Hildesheimer, ihr Studium resigniert ab, der kleinere Teil bemühte sich darum, irgendwie noch zu einem Studienabschluss zu gelangen, und nahm dafür die nahezu vollständige Isolation von den „arischen“ Kommilitoninnen und Kommilitonen in Kauf, die nach dem Willen der nationalsozialistischen Studentenschaft politisch gleichgeschaltet und in die angeblich entstehende „Volksgemeinschaft“ integriert werden sollten.
Über die Schicksale der marginalisierten und drangsalierten jüdischen Studierenden des Jahres 1933, die nur noch als lästiges Überbleibsel der liberalen Ära der Heidelberger Universitätsgeschichte, die die Nationalsozialisten ein für alle Mal beenden wollten, geduldet wurden, ist – wie eingangs erwähnt – bislang wenig bekannt. Dies gilt sowohl für die Individuen als auch für die Netzwerke, die sie untereinander geknüpft hatten. Dass es Verbindungen gab, die von großer Dauer waren, zeigt die Biographie von Eva Hildesheimer / Hava Teltsch, die in ihrer kurzen Heidelberger Studienzeit der im Juli 1933 aufgelösten „Zionistischen Studentinnengruppe“ angehörte und unter den Kommilitoninnen und Kommilitonen einige Freundschaften schloss, die fast lebenslang intakt blieben: zum Beispiel zum 1933 in Heidelberg promovierten Rudolf (Reuben) Hecht, der 1936 nach Palästina emigrierte und seit Ende der 1970er Jahre als Berater des israelischen Ministerpräsidenten Menachim Begin beträchtlichen außenpolitischen Einfluss hatte, oder zu Gustav (Gershom) Schocken, der nach seiner Heidelberger Exmatrikulation 1933 sein Studium in London fortsetzte, ebenfalls nach Palästina ging, Ende der 1950er Jahre Abgeordneter in der Knesset war und über mehrere Jahrzehnte als Herausgeber der wichtigsten liberalen israelischen Tageszeitung „Haaretz“ amtierte.
Allein diese Karrieren deuten schon an, dass das schleichende Ende der jüdischen Studierenden seit 1933 nicht nur für sie eine Verlustgeschichte darstellte, sondern auch für die Universität Heidelberg: Sie beraubte sich selbst durch einen allen wissenschaftlichen Prinzipien Hohn sprechenden Rassismus beträchtlicher intellektueller Ressourcen und stand auch wegen der Exklusion der jüdischen Studierenden am Ende der zwölfjährigen Diktatur so da, wie es Eike Wolgast schon vor fast 40 Jahren formuliert hat: äußerlich unversehrt und innerlich fast ganz zerstört.