Hannah ArendtDenken ohne Geländer
Die Jaspers-Schülerin Hannah Arendt prägte den Begriff der „Banalität des Bösen“
Mehr als 40 Jahre nach dem Tod Hannah Arendts stoßen ihr Werk und ihre Person nach wie vor auf großes Interesse. Ein seit 2013 auf Youtube zu sehendes Gespräch des Zweiten Deutschen Fernsehens mit ihr und dem Journalisten Günter Gaus aus dem Jahr 1964 verzeichnet mehr als eine Million Zugriffe. Anfang 2018 erschien aus Arendts Nachlass der 1967 fertiggestellte Essay „Die Freiheit, frei zu sein“, der wochenlang auf den Bestsellerlisten stand. Erklären lässt sich das neu erwachte Interesse damit, dass sich die aus NS-Deutschland geflüchtete jüdische Denkerin, die sich selbst als „politische Theoretikerin“ bezeichnete, mit Themen beschäftigte, die heute noch aktuell sind: Die Lage von Geflüchteten, die Ursprünge politischer Gewalt, Totalitarismus und die Unbegreiflichkeit des Bösen.
„Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin“, sagte die Schülerin des Heidelberger Philosophen Karl Jaspers in dem am 28. Oktober 1964 ausgestrahlten Gespräch mit Günter Gaus in dessen ZDF-Sendereihe “Zur Person“. In seinen Lebenserinnerungen schrieb der Journalist, dieses Gespräch sei „in den vier Jahrzehnten das mich am tiefsten bewegende, für mich eindrucksvollste, ausdrucksstärkste geblieben“.
Vor der Begegnung mit der damals knapp 58-jährigen Arendt habe er erwartet, „einen Blaustrumpf zu treffen“, tatsächlich aber hätten er und seine Frau sich „spätestens bei unserem zweiten Blick und nach ihrem dritten Satz (...) in diese Frau aus der Generation unserer Mütter“ verliebt. Ganz ähnlich lauten die heutigen Internet-Kommentare zu dem etwas mehr als einstündigen, vollkommen schnörkellosen Interview, die von „Es ist so aktuell heute wie damals“ über „Je öfter ich zuhöre, desto beeindruckender ist sie“ bis zu „Ein Intellekt, in dessen Weiten man sich verlieren könnte; wahrhaft zum Verlieben“ reichen.
In den 1960er-Jahren stand Hannah Arendt in der Kritik und wurde angefeindet – wegen des von ihr geprägten Begriffs der „Banalität des Bösen“ im Zusammenhang mit Adolf Eichmann, einem der Hauptorganisatoren des Holocaust. 1961 hatte sie im Auftrag der Zeitschrift „The New Yorker“ den Prozess gegen Eichmann in Israel verfolgt und 1963 das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ veröffentlicht. Daraufhin wurde ihr vorgeworfen, sie habe den Juden die Verantwortung für ihre Vernichtung zugeschrieben und zugleich Eichmanns Verantwortung kleingeredet, wogegen sie sich verwahrte. Tatsächlich beschrieb sie Eichmann als „einen wenig intelligenten, autoritätshörigen, subalternen Schreibtischtäter, der bis Kriegsende nicht begriffen habe, was er eigentlich tat“, wie die Historikerin Annette Vowinckel schreibt. Arendt selbst sagte dazu in dem Gespräch mit Gaus: „Ich war wirklich der Meinung, dass der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3.600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen, und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut! Diese Reaktion nehmen mir die Leute übel, dagegen kann ich nichts machen.“
Mein Beruf, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin.
Hannah Arendt
Kennzeichnend für das Denken Hannah Arendts war, dass sie keiner Schule angehörte, keiner bestimmten Theorie folgte und sich keinen intellektuellen Zwängen beugte – sie selbst bezeichnete das als „Denken ohne Geländer“. Stark geprägt wurde sie von Karl Jaspers, mit dem sie bis zu dessen Tod 1969 freundschaftlich verbunden war. Nach ihrem Studienbeginn in Marburg bei Martin Heidegger, mit dem sie eine heimliche Affäre hatte, studierte sie ab 1926 in Heidelberg bei Jaspers und wurde bei ihm mit einer Arbeit über den „Liebesbegriff bei Augustin“ promoviert. Jaspers habe „eine Rückhaltlosigkeit, ein Vertrauen, eine Unbedingtheit des Sprechens, die ich bei keinem anderen Menschen kenne“, erklärte sie Günter Gaus. „Dieses hat mich schon beeindruckt, als ich ganz jung war. Er hat außerdem einen Begriff von Freiheit, gekoppelt mit Vernunft, der mir, als ich nach Heidelberg kam, ganz fremd war. (...) Wenn es irgendeinem Menschen gelungen ist, mich zur Vernunft zu bringen, dann ist es ihm gelungen.“
Arendts Werk, das vor 30 Jahren schon einmal eine Renaissance erlebte, war „in wichtigen Teilen auf die Erkenntnis der Bedingungen gerichtet, unter denen politisches Handeln und Verhalten zustande kommen“, wie Gaus es beschrieb. Ihr Interesse an politischen Fragen lässt sich mit ihrer eigenen Biografie erklären, die sie für Annette Vowinckel zur „Kronzeugin für das ganze 20. Jahrhundert“ werden ließ. Ihr Schicksal als ausgebürgerte Exilantin spiegelt sich in ihrem 1943 veröffentlichten und heute wieder aktuellen Essay „Wir Flüchtlinge“ wider: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ In ihrem 1951 veröffentlichten ersten großen Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ entwickelte sie ein Erklärungsmodell totalitärer Herrschaft, das nach dem Fall der Mauer auf neues Interesse stieß. Als großen Bruch in ihrem Leben beschrieb Arendt gegenüber Gaus aber nicht den Tag der Machtergreifung, sondern den Moment, als sie 1943 von Auschwitz erfahren habe: „Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. (...) Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen (...). Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.“
Im Grunde gebe es vier Hannah Arendts, erklärte der Philosoph Thomas Meyer 2018 in einem Interview: „Diejenige, die wissenschaftlich sehr ernst genommen wird, die Heilige, die Verdammte – und es gibt die Unbekannte. Weil wir von ihrem Werk immer noch nur einen Bruchteil kennen und in ihrem Nachlass gigantische und spannende Sachen liegen.“
Hannah Arendt
Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren und wuchs in Königberg in einer jüdisch-assimilierten Familie auf. 1924 begann sie in Marburg ein Studium der Philosophie, Theologie und Klassischen Philologie, das sie ab 1926 an der Universität Heidelberg fortsetzte, wo sie 1928 bei Karl Jaspers promoviert wurde. 1933 floh sie nach kurzer Gestapo-Haft nach Paris, wo sie 1940 den Philosophen Heinrich Blücher heiratete. 1941 emigrierten beide nach einer mehrwöchigen Internierung nach New York. In den USA war Arendt als Publizistin tätig und lehrte unter anderem an den Universitäten Princeton, Chicago und New York. Nach ihrer Ausbürgerung durch die Nazis 1937 wurde sie 1951 amerikanische Staatsbürgerin. Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 in New York.