Anna SeghersIkone der Exilliteratur
Aus der Heidelberger Studentin Netty Reiling wurde die international bekannte Schriftstellerin Anna Seghers
Im Jahr 1944 drehte Fred Zinnemann den Hollywood-Film „Das siebte Kreuz“ über die erfolgreiche Flucht von sieben Häftlingen aus einem NS-Konzentrationslager. Das Drehbuch des Films, in dem viele vor den Nazis geflüchtete Deutsche Nebenrollen übernahmen, beruhte auf dem gleichnamigen Roman der jüdischen Schriftstellerin Anna Seghers, die dank ihrer Flucht vor den Nazis die Shoah überlebte. Das 1942 im Exil erschienene Werk, das Marcel Reich-Ranicki als „großes literarisches Kunstwerk“ und „Roman gegen die Diktatur schlechthin" bezeichnete, begründete Anna Seghers’ Weltruhm. Ihre ersten literarischen Schritte machte die überzeugte Kommunistin, die später lange Jahre Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR war, direkt nach ihrer Studienzeit in Heidelberg, während der sie noch den Name Netty Reiling trug und die Anregung zu ihrem Künstlernamen Anna Seghers erhalten haben soll.
Geboren wurde Netty Reiling am 19. November 1900 im nicht weit von Heidelberg entfernten Mainz als einziges Kind eines jüdischen Kunsthändlers und seiner Frau. Nach dem Abitur begann sie im April 1920 ein Studium an der Ruperto Carola, die Vorreiterin des Frauenstudiums in Deutschland war. Sie schrieb sich für die Fächer Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie ein, wechselte 1921 für kunstgeschichtliche Studien nach Köln und kehrte 1922 an die Universität Heidelberg zurück, wo sie am 4. November 1924 mit einer Arbeit zum Thema „Jude und Judentum im Werk Rembrandts“ promoviert wurde.
In ihrer Heidelberger Zeit freundete sich Netty Reiling mit dem ersten Doktoranden des Sinologischen Instituts Philipp Schaeffer an, der 1943 als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde. „Schaeffer hatte großen Einfluss auf die junge Frau, er eröffnete ihr neue Bezugsfelder, so die intensive Beschäftigung mit China“, heißt es im 2020 erschienen „Anna-Seghers-Handbuch“. „Er war es, der über seine dem Alltag enthobenen wunderbaren Geschichten ihre Affinität zu Märchen und Sagen noch bestärkte und sie mit jungen Emigranten in Kontakt brachte.“ Zu diesen gehörte auch der ungarische Student László Radványi, den Netty Reiling 1925 heiratete. „Sorglos, offenherzig waren wir damals. Wie waren wir bereit, uns zu freuen! Wir fanden immer etwas zum Freuen“, schrieb sie später über ihre Heidelberger Jahre.
Wenige Wochen nach Netty Reilings Promotion erschien Ende 1924 in der Weihnachtsausgabe der „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt“ ihre erste Erzählung „Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Antje Seghers“. Hier verwendete sie erstmals das Pseudonym „Seghers“, zunächst noch mit dem Vornamen Antje; ihre nächste Veröffentlichung, die Erzählung „Grubetsch“, erschien 1927 ohne Vorname nur unter „Seghers“, bevor 1928 Netty Reilings erster Roman „Aufstand der Fischer von St. Barbara“ unter dem ab dann verwendeten Namen Anna Seghers veröffentlicht wurde. In einem Brief an den Schriftsteller Carl Zuckmayer, den sie aus kurzzeitig gemeinsamer Heidelberger Studienzeit kannte, erklärte sie 1976 diese Wahl mit der Figur eines Kapitäns in ihrer ersten Erzählung, „der als mein Großvater dargestellt wurde und Seghers hieß. Also, glaubte ich damals fest und steif, muss auch die Enkelin Seghers heißen“. Es gibt Mutmaßungen, dass Netty Reiling durch Wilhelm Fraenger auf diesen Namen kam: Fraenger war ein ehemaliger Assistent am Kunsthistorischen Institut, der 1922 eine Studie über den niederländischen Maler Hercules Seghers verfasste. Zu Netty Reilings Zeit war er zwar nicht mehr an der Universität tätig, sie soll aber wie auch Carl Zuckmayer zum Umfeld des von ihm gegründeten Heidelberger Kreises „Die Gemeinschaft“ gehört haben.
Sorglos, offenherzig waren wir damals. Wie waren wir bereit, uns zu freuen! Wir fanden immer etwas zum Freuen.
Anna Seghers
Für ihren ersten Roman, der eine Revolte besitzloser Fischer gegen ihre Ausbeuter schilderte und 1934 von Erwin Piscator verfilmt wurde, erhielt Anna Seghers noch im gleichen Jahr den Kleist-Preis. Zu dieser Zeit lebte sie mit ihrem Mann und ihren 1926 und 1928 geborenen Kindern Peter und Ruth in Berlin. Radványi, der nach der Hochzeit den Namen Johann Schmidt angenommen hatte, war 1924 Mitglied der KPD geworden, seine Frau trat der Partei 1928 bei und wurde ein Jahr später Gründungsmitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte das Leben der kommunistischen Jüdin über Nacht; nach kurzzeitiger Gestapo-Haft ging sie 1933 mit ihrer Familie zunächst in die Schweiz und von dort nach Frankreich, wo sie mit der Arbeit an „Das siebte Kreuz“ begann. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs wurde Johann Schmidt 1940 verhaftet und in einem südfranzösischen Lager interniert, seine Frau musste sich mit den beiden Kindern im besetzten Paris verstecken, bevor es ihr gelang, ins unbesetzte Gebiet zu fliehen. Nach der Freilassung Schmidts gelang es der Familie, 1941 über mehrere Stationen nach Mexiko auszureisen. Ihre Erfahrungen dieser Zeit verarbeitete Anna Seghers in ihrem 1944 erschienen Roman „Transit“, der ebenfalls international bekannt wurde.
1947 kehrte Anna Seghers nach 14 Jahren Exil über New York, Stockholm und Paris nach Berlin zurück, um am Aufbau eines antifaschistischen Deutschlands mitzuarbeiten. Mit ihrer Arbeit wolle sie dazu beitragen, „dass eine Gesellschaft entstehen möge, in der man ein besseres, gerechteres, gütigeres Leben findet für alle Menschen“, sagte sie später in einem Interview. Sie trat der neu gegründeten SED bei, lebte aber zunächst in West-Berlin. 1947 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen und sie hielt auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress eine viel beachtete Rede über das Exil und den Freiheitsbegriff. 1950 zog sie nach Ost-Berlin und wurde Mitglied des Weltfriedensrats und Gründungsmitglied der Akademie der Künste.
Ab 1952 wurde Anna Seghers als Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR, die sie bis 1978 blieb, zur zentralen Figur des ostdeutschen Literaturbetriebs. Als 1957 Walter Janka, dem Leiter des ihre Bücher verlegenden Aufbau-Verlags, wegen angeblicher staatsfeindlicher Umtriebe ein Schauprozess gemacht wurde, setzte sie sich zwar hinter den Kulissen für ihn ein, äußerte aber, wie auch bei anderen Ereignissen wie dem Aufstand des 17. Juni, öffentlich keine Kritik an der SED-Linie. Dass sie ihre herausragende Stellung im DDR-System nicht für Kritik nutzte, wurde Anna Seghers zum Vorwurf gemacht, zumal das linienkonforme Verhalten in Widerspruch zum Humanismus ihrer Exilzeit stand und in ihren Briefen an Freunde außerhalb der DDR zwischen den Zeilen durchaus ihre Desillusionierung angesichts der realen Umsetzung der sozialistischen Ideale deutlich wurde. Nach ihrem Tod am 1. Juni 1983 ging ihr künstlerischer Nachlass an die Akademie der Künste, wo er im Anna-Seghers-Archiv betreut wird.