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Gustav Radbruch Ein folgenreicher Aufsatz

Gustav Radbruch schrieb Rechtsgeschichte mit einer These zum Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit

Gustav Radbruch

Während seines Jurastudiums in Heidelberg in den 1920er-Jahren las Fritz Bauer, der 40 Jahre später als hessischer Generalstaatsanwalt die Auschwitz-Prozesse initiierte, begeistert die Schriften Gustav Radbruchs. Das Werk des Heidelberger Rechtsphilosophen und Strafrechtlers, der in der Weimarer Republik Justizminister war und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten als erster Hochschullehrer aus politischen Gründen entlassen wurde, beeinflusste nicht nur die Arbeit Fritz Bauers: Die auf den Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaats beruhende „Radbruch’sche Formel“ zum Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit wurde in der Bundesrepublik prägend für die juristische Aufarbeitung des NS-Regimes und später die Mauerschützenprozesse. Aber auch mit seinem generellen rechtsphilosophischen Werk sowie als Befürworter eines liberalen Strafrechts, Gegner der Todesstrafe oder Vorkämpfer für die Öffnung von Justizämtern für Frauen hat Gustav Radbruch wichtige Spuren in der deutschen Rechtsgeschichte hinterlassen. 

„Eine Betrachtungsweise, die Radbruch nur als Wissenschaftler oder nur als Politiker sieht, wird ihm nicht gerecht“, schrieb 1968 der damalige Bundesjustizminister (und spätere Bundespräsident) Gustav Heinemann im Geleitwort einer Gedächtnisschrift für seinen frühen Amtsvorgänger. „Hinter Radbruchs wissenschaftlichen Äußerungen wie hinter seinem politischen Wirken wird das Bild eines Menschen deutlich, der juristischer Skepsis, politischem Engagement und sozialer Solidarität gleichermaßen verbunden war.“ 

Dabei hatte der 1878 als Sohn eines wohlhabenden Lübecker Kaufmanns geborene Gustav Radbruch nicht aus persönlicher Neigung, sondern auf Wunsch seines Vaters Jura studiert. Nach der Promotion ging er 1903 nach Heidelberg, wo er sich habilitierte und zunächst als Privatdozent tätig war, bevor er 1910 außerordentlicher Professor wurde. Er wurde Teil des berühmten Kreises um Max Weber, in dem er unter anderem im Austausch mit dem Philosophen Wilhelm Windelband „die bleibende Grundlage für meine wissenschaftliche Arbeit in der methodologischen Erkenntnis der sogenannten südwestdeutschen philosophischen Schule“ fand, wie er später schrieb. In dieser Zeit begann auch Radbruchs lebenslange Freundschaft mit Karl Jaspers und dessen Frau Gertrud. 

Hinter Radbruchs wissenschaftlichen Äußerungen wie hinter seinem politischen Wirken wird das Bild eines Menschen deutlich, der juristischer Skepsis, politischem Engagement und sozialer Solidarität gleichermaßen verbunden war.

Gustav Heinemann

Zehn Jahre blieb Radbruch in Heidelberg, bis er 1914 einem Ruf an die Universität in Königsberg folgte, wo er seine zweite Frau Lydia heiratete. Doch schon bald begann der Erste Weltkrieg, an dem Radbruch als einfacher Gefreiter teilnahm. Die „enge Kameradschaft mit den Männern aus dem Volke“ machte ihn, der es schon vorher „nicht besser als andere haben“ wollte, „endgültig zum Sozialisten“, so dass er Ende 1918 in die SPD eintrat. 1919 übernahm er eine Professur an der Universität Kiel. Als es im März 1920 im Zuge des Kapp-Putsches auch in Kiel zu Unruhen kam, trat Radbruch als Vermittler auf, woraufhin ihm die Sozialdemokraten anboten, für den Reichstag zu kandidieren. Radbruch sagte zu und wurde Abgeordneter.

Mit fortschrittlichen Gesetzesinitiativen, etwa zur Straflosigkeit von Abtreibung während der ersten drei Monate, machte der einzige Jurist seiner Fraktion auf sich aufmerksam. Im Oktober 1921 wurde er Reichsjustizminister, zunächst im Kabinett Joseph Wirth und dann bei Gustav Stresemann. Er erarbeitete verschiedene Gesetze wie das Jugendgerichtsgesetz und setzte sich für Resozialisierung und die Abschaffung von Zuchthaus und Todesstrafe ein, was allerdings in der Weimarer Republik noch nicht umgesetzt wurde. Ende 1923 beendete Radbruch seine Ministertätigkeit und kehrte 1924 auf seine Professur zurück.

Plenarsitzung im Reichstag mit Justizminister Radbruch

1926 nahm er einen Ruf nach Heidelberg an und kam zurück an den Neckar. „Hier fühlte ich mich auf der Höhe meiner Lehrtätigkeit, aber ich war auch in die zahlreichen politischen Zwistigkeiten verstrickt, in jenen Jahren vor 1933, die die Heidelberger Universität erschütterten“, schrieb er später. Beispielsweise war er einer der wenigen Unterstützer des Statistik-Professors Emil Gumbel, der als Justizkritiker und Pazifist heftiger Kritik und einer rechtsgerichteten Kampagne ausgesetzt war. In einem Untersuchungsausschuss der Universität übernahm Radbruch die Verteidigung Gumbels, dem dennoch im August 1932 die Lehrerlaubnis entzogen wurde. Nicht einmal ein Jahr später traf es Radbruch selbst: Nach der Machtergreifung wurde er am 8. Mai 1933 als deutschlandweit erster Professor aus politischen Gründen aus seinem Amt entfernt.

Radbruch: Entlassungsmitteilung 1933

Die Jahre der „inneren Emigration“ beschrieb Gustav Radbruch als „Zeit voll trauriger Erfahrungen“, in der er neben zahlreichen Freunden und Bekannten auch seine beiden Kinder verlor: Seine Tochter verunglückte tödlich, sein Sohn kam in der Schlacht von Stalingrad ums Leben. Lehraufträge im Ausland musste er unter Druck ablehnen, nur ein Studienaufenthalt in Oxford 1935/1936 war möglich. „Ich unterbrach meine wissenschaftliche Arbeit keineswegs, doch arbeitete ich auf etwas anderen Gebieten“, schrieb er: Unter anderem veröffentlichte er eine hochgelobte Biographie über den Begründer der Staatsrechtsdogmatik Feuerbach und schloss die kunsthistorische Dissertation seiner Tochter ab. „Während ich in Deutschland völlig übergangen wurde, wuchs mein Einfluss im Ausland stetig. Meine ‚Rechtsphilosophie‘ wurde ins Spanische, Portugiesische und Polnische übersetzt.“

Nachdem Heidelberg am 30. März 1945 von US-amerikanischen Truppen besetzt worden war, wurde Radbruch in den „Dreizehnerausschuss“ aus politisch unbelasteten Hochschullehrern berufen, der den Neuaufbau der Universität organisierte. Seine Entlassung 1933 wurde rückgängig gemacht, er leitete als Dekan den Aufbau der Juristischen Fakultät und lehrte wieder – all das gab ihm „neue Lebensfreude“, wie er schrieb. Zum September 1948 wurde er auf seinen Wunsch hin emeritiert, da er die Studierendengeneration, die nach dem Waffenstillstand ihr Studium begonnen hatte, bis zum Abschluss geführt hatte. Seinen Ruhestand konnte Radbruch allerdings nur etwas länger als ein Jahr genießen: Einen Tag nach seinem 71. Geburtstag wurde er am 22. November 1949 mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert, wo er am Tag darauf starb. Er wurde auf dem Bergfriedhof beigesetzt. Ihm zur Erinnerung trägt ein Studierendenwohnheim in der Heidelberger Altstadt seinen Namen. Seine Witwe Lydia gab 1951 Radbruchs Lebenserinnerungen heraus, ordnete seinen wissenschaftlichen Nachlass, den sie der Universitätsbibliothek Heidelberg übergab, und gründete in seinem Namen eine Stiftung, die sich dem Strafvollzug widmet.

Gustav Radbruch 1949

In der Fachwelt bleibt Gustav Radbruch vor allem wegen seines 1946 als Quintessenz aus zwölf Jahren Unrechtsherrschaft veröffentlichten Aufsatzes mit dem Titel „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ unvergessen, dessen Kern als „Radbruch’sche Formel“ in die Rechtsgeschichte einging: Diese besagt, dass Gesetze im Regelfall zwar verbindlich sind, bei einem übermäßigen Widerspruch zur Gerechtigkeit aber zum „unrichtigen Recht” werden, so dass die Gerechtigkeit Vorrang erhält. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht beriefen sich in ihrer Rechtsprechung zum NS-Unrecht und in den Mauerschützenprozessen explizit auf die Radbruch’sche Formel. „Kaum ein anderer Aufsatz in der Geschichte des Rechts dürfte folgenreicher gewesen sein“, bilanzierte die „Legal Tribune Online“ in einem Beitrag zu Gustav Radbruch. 

(Erscheinungsjahr 2025)


 

Porträt Radbruch: Karikaturen