Fiona SieberDie Großmeisterin
Die Physikstudentin Fiona Sieber zählt zur deutschen Schachspitze
Rund 88.000 Mitglieder verzeichnet der Deutsche Schachbund. Nur zehn Prozent von ihnen sind Frauen – darunter auch Fiona Sieber, die an der Universität Heidelberg Physik studiert. Seit Jahren gehört sie zur deutschen Spitze des von Männern dominierten Sports. Im September 2022 gewann sie in Antwerpen die Studenten-WM, offiziell FISU World University Championship Mind Sports. Und bei einem Turnier in Wien im Juni 2023 überzeugte die Masterstudentin auf derart hohem Niveau, dass sie nun Anrecht auf den Titel „Großmeisterin der Frauen“ hat.
„Fiona Sieber mag es aggressiv“, beschrieb vor einigen Jahren eine Tageszeitung den Spielstil der damals noch Jugendlichen. Ungern liest die Heidelberger Studentin derart plakative Beschreibungen über sich, gibt aber zu, dass ihre Züge durchaus so charakterisiert werden können: „Ich setze den gegnerischen König gerne matt und erzeuge Druck.“ Dafür scheue sie sich auch nicht, eigene Figuren zu opfern. Gegenspielerinnen und -spieler können in einer Schachdatenbank über 1.000 Partien der Studentin einsehen und ihren Spielstil studieren – beispielsweise, dass sie üblicherweise mit dem Spielzug „Bauer auf e4“ eröffnet. Längst ist Fiona Sieber auf einem Niveau angekommen, bei dem eine derartige Vorbereitung für Turniere zum Standard gehört. Unterstützt wird sie bei ihrer sportlichen Karriere durch das Spitzensport-Stipendium der Metropolregion Rhein-Neckar und das „Powergirls“-Programm des Deutschen Schachbundes.
Für die Spielstärke von Schachspieler:innen gibt es einen einfachen Wert: ihre ELO-Zahl. Diese ist in der Schachwelt etwa so aussagekräftig wie Weltranglistennummern im Tennis. Dabei beruht die Berechnung der ELO-Zahl auf einer komplexen Formel: Berücksichtigt werden verschiedene Gewichtungsfaktoren, darunter auch die jeweiligen ELO-Werte der Gegner und damit das zu erwartende Ergebnis für ein Spiel. Der Laie muss lediglich wissen: Je höher die ELO-Zahl, desto besser der Spieler. Ein durchschnittlicher Hobbyspieler wird in etwa einen Wert von 1.300 erzielen, ab einer Zahl von 2.000 zählt man zu dem Kreis der Schachexpertinnen und -experten. Bei dem im Juni 2023 in Wien gespielten Turnier, bei dem sie als einzige Frau antrat und keine ihrer neun Partien verlor, erzielte Fiona Sieber eine überragende ELO-Leistung von 2511 – und damit sogar 200 Punkte mehr, als sie zur Normerfüllung des Titels „Großmeisterin der Frauen“ gebraucht hätte. „Ich bin sehr stolz auf diese Leistung“, freut sich die 23-Jährige über das Ergebnis.
Im Nationalkader bin ich schon. Jetzt warte ich nur noch auf den Anruf des Bundestrainers.
Fiona Sieber
Der Schachsport gilt gemeinhin als Männerdomäne. Zwar gibt es populäre Formate wie die Netflix-Serie „Das Damengambit“, deren Protagonistin einen kometenhaften Aufstieg in die obere Liga der Schachspieler hinlegt, die Realität aber sieht anders aus. So sind etwa die Top 100 der aktiven Spieler allesamt männlich. Erklärungsversuche für das Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern im Schachsport gibt es viele. Die Rede ist etwa von unterschiedlichen Begabungen und Neigungen, einer fehlenden Förderung, der Diskriminierung von Frauen bis hin zu anhaltendem Chauvinismus und Einschüchterungen – schlüssig ist das jedoch nicht. Fiona Sieber selbst empfindet keine Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts. Und in ihrer Jugend hatte sie auch kein Problem damit, auf Turnierfahrten oft das einzige Mädchen zu sein. „Viele junge Schachspielerinnen hören deswegen aber irgendwann auf.“ Damit das Geschlechterverhältnis in Zukunft ausgeglichener ist, bemüht sie sich als Trainerin, ihr Wissen insbesondere an junge Frauen weiterzugeben und diese zu ermutigen.
Wie aber ist Fiona selbst zum Schachsport gekommen? Mit sieben Jahren bringt der Vater ihr das Schachspielen bei. „Ich war sofort begeistert“, erinnert sich die Studentin. Innerhalb von einem Abend beherrscht sie die Züge der verschiedenen Figuren und spielt so gerne, dass ihre Eltern einen Verein für sie suchen. Bald folgen erste Turniererfolge, und mit 13 Jahren gewinnt sie in ihrer Altersklasse erstmals die Deutsche Meisterschaft. Und was braucht es für diese Erfolge? „Mir liegt das logische Denken, und ich kann mich lange intensiv konzentrieren.“ Das seien Eigenschaften, die ihr auch im Physikstudium sehr entgegenkämen. Zudem hat Fiona Sieber Biss: »Wenn ich ein Problem habe, das ich nicht sofort lösen kann, dann bleibe ich dran und gebe nicht auf, bis ich ihm auf den Grund gegangen bin.“
Bis Anfang nächsten Jahres möchte sie ihre Masterarbeit fertigschreiben und sich danach ein Jahr lang ganz und gar auf den Schachsport konzentrieren. „Ein Vollzeitberuf und das professionelle Schachspiel sind schwer zu kombinieren. Bevor ich in den Beruf einsteige, möchte ich herausfinden, was ich im Schach noch erreichen kann.“ Ihr Vorbild dabei ist die Ungarin Judit Polgár, eine der wenigen Frauen, die sich ganz oben in der Weltspitze behaupten konnten, die gegen Weltmeister wie Boris Spasski und Garri Kasparow gewann. „An ihrem Spiel gefällt mir das Kämpferische und die Vielseitigkeit“, so Fiona Sieber. Ihr nächstes Ziel ist die Teilnahme an der Schacholympiade, dem bedeutendsten Mannschaftswettbewerb im Schach, der im kommenden Jahr wieder ausgetragen wird. „Im Nationalkader bin ich schon. Jetzt warte ich nur noch auf den Anruf des Bundestrainers“, meint sie lachend. Mit ihrem Erfolg in Wien dürften ihre Chancen hierauf durchaus gestiegen sein.
(Erscheinungsjahr 2023)