Roman Luckscheiter»Einer der Momente, bei denen ich spürte, dass Heidelberg europäische Geschichte atmet«
Roman Luckscheiter ist nach Stationen beim DAAD nun Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission
Dr. Roman Luckscheiter (*1970) ist Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission mit Sitz in Bonn. Zuvor war er ab 2008 für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) tätig, wo er in leitender Funktion unter anderem für die Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremdsprache, Grundsatzfragen transnationaler Bildung und zahlreiche Stipendienprogramme verantwortlich war. Von 2014 bis 2018 leitete er die Außenstelle des DAAD in Kairo mit Zuständigkeit für Ägypten und den Sudan. Seine akademische Ausbildung hat Roman Luckscheiter in Freiburg und Heidelberg absolviert. Er studierte Deutsch und Französisch auf Lehramt und wurde 2000 in Heidelberg mit einer Arbeit zum postmodernen Impuls in der Literatur von 1968 promoviert. Nach einem DAAD-Postdoc-Stipendium, das ihm einen zweijährigen Forschungsaufenthalt in Paris ermöglichte, kehrte er 2002 als Assistent in der germanistischen Literaturwissenschaft an seine Heidelberger Alma Mater zurück, wo er bis 2008 forschte und lehrte. Seine Publikationen behandeln unter anderem die Geschichte der Intellektuellen und die deutsch-französischen Literaturbeziehungen; sie umfassen auch zahlreiche Essays und Rezensionen in überregionalen Tageszeitungen. Roman Luckscheiter ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Das Interview wurde im Oktober 2023 per Mail geführt.
Herr Luckscheiter, Sie haben die Universität Heidelberg sowohl als Student als auch als Wissenschaftlicher Assistent erlebt – welche Erinnerungen aus dieser Zeit sind für Sie prägend?
Bevor ich 1993 zum Studium nach Heidelberg kam, hatte ich ein Jahr als Assistenzlehrer für Deutsch an einem Lycée in Frankreich verbracht. Als Heidelberger Student der Romanistik und Germanistik bekam ich dann 1994 die Gelegenheit, beim deutsch-französischen Jugendtreffen dem Gespräch zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand in der Alten Aula beizuwohnen. Das war einer der Momente, bei denen ich spürte, dass Heidelberg europäische Geschichte atmet. Als ich später wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Helmuth Kiesel in der Germanistik war, fand Literaturgeschichte nicht nur mit Büchern statt: Die großen Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Zeit kamen in die Neue Aula: Günter Grass, Martin Walser, Peter Handke. Das hat mich insofern geprägt, als Heidelberg es mir ermöglicht hat, Unmittelbarkeit zu erfahren: Literatur, Geschichte und Politik, das war nichts Abstraktes, Entferntes, sondern etwas Gelebtes, Präsentes, Ansprechbares. Auch meine Begegnungen mit Hilde Domin vor Ort zähle ich zu diesen Erfahrungen. Die Tatsache, dass in meiner Studienzeit die E-Mail als Kommunikationsmittel ihre Anfänge nahm, verbinde ich mit dem Keller der UB, wo damals auf wenigen PCs der Zugang zur Zukunft möglich war. Die Jahre meiner Assistenztätigkeit am Lehrstuhl von Prof. Wilhelm Kühlmann waren von tiefgreifenderem Wandel bestimmt: von der Einführung des Bologna-Prozesses, von erster Digitalisierung – und von der Einführung von Studiengebühren, über die wir wenigstens literarische Exkursionen finanzieren konnten.
Warum haben Sie sich für Heidelberg als Studienort entschieden?
Das habe ich einem französischen Freund zu verdanken. Sein Ratschlag war, diejenige Universität in Deutschland auszusuchen, die weltweit am bekanntesten sei. Das war für mich Heidelberg.
Pflegen Sie denn heute auch noch Kontakte aus Ihrer Heidelberger Zeit?
Einige, aber längst nicht in dem Maße, wie es wünschenswert wäre. Am leichtesten ist es, Kontakt mit denjenigen zu halten, mit denen sich seither auch berufliche Überschneidungen ergeben beziehungsweise herausgestellt haben – da ist es auch interessant zu sehen, wie sich jeweils die Wege in die Wissenschaft, den Journalismus oder ins Verlagswesen ergeben haben. Den nachhaltigsten Kontakt aus dieser Zeit habe ich mit meiner Frau, die ich 2007 im Heidelberger Rathaus geheiratet habe.
Wie sind Sie zum DAAD gekommen und was waren dort Ihre Aufgaben?
Wieder durch Zufall: Ich wurde auf eine Ausschreibung des DAAD aufmerksam, der die Leitung eines neu aufzubauenden Referats für die Förderung der Auslandsgermanistik und von Deutsch als Fremdsprache weltweit suchte. Da mich mein Fach schon nach China, in die USA, ins Baltikum und regelmäßig nach Frankreich gebracht hatte, erschien mir das als Wink des Schicksals, und so habe ich meine Unterlagen in letzter Sekunde in den Briefkasten am Uniplatz eingeworfen. So sehr ich beim DAAD anfangs die akademische Selbstständigkeit vermisste, so sehr erkannte ich über die Jahre auch den hohen „Impact“-Faktor, den die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, also zum Beispiel die Organisation des wissenschaftlichen Austauschs und die Unterstützung der Germanistik im Ausland, mit sich bringt. Ich übernahm später das Referat für „Grundsatzfragen von Hochschulprojekten im Ausland“ und entdeckte auf einer Dienstreise die umwerfende Schönheit Ägyptens, wo ich bald darauf die Leitung der DAAD-Außenstelle in Kairo übernehmen durfte.
Wie sah Ihre Arbeit als Leiter der DAAD-Außenstelle in Kairo aus? Was haben Sie aus dieser Phase Ihres Berufslebens mitgenommen?
Die Außenstelle des DAAD am Nil gibt es seit über 60 Jahren – da ist ein unglaublich starkes Netzwerk an Beziehungen zwischen den beiden Ländern entstanden und ein großes Interesse an Deutschland. Es gibt gemeinsame deutsch-ägyptische Stipendienprogramme und Hochschulkooperationen, einige deutsche Universitäten haben Verbindungsbüros dort, und die German University in Cairo hat sich als attraktive Brückenbauerin etabliert. Im Hinblick auf die drängendsten Herausforderungen, die Ägypten zu bewältigen hat (in „meinen“ vier Jahren ist die ägyptische Bevölkerung um rund 10 Millionen Menschen gewachsen), erwies sich das als hervorragendes Fundament, auf dem deutsche und ägyptische Hochschulen ertragreiche Kooperationen in der Medizin, den Agrarwissenschaften, im Bereich Wasser oder zum Kulturgutschutz eingehen konnten. Wir haben dann regionale Cluster dazu gebildet, insbesondere auch mit dem Sudan. Mit Formaten wie den „Cairo Climate Talks“ konnten wir gemeinsam mit der Deutschen Botschaft regelmäßig viele Menschen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zusammenbringen und illustrieren, dass in Zeiten des Klimawandels Lösungen nur über Grenzen hinweg gefunden werden können. Zugleich habe ich aus meinem Aufenthalt zwischen 2014 und 2018 mitgenommen, wie wichtig der Einsatz für die Freiheit der Wissenschaften und für die Meinungsfreiheit ist.
Was sind nun Ihre Aufgaben als Generalsekretär der deutschen UNESCO-Kommission? Wie sieht für Sie ein typischer Arbeitstag aus – falls es so etwas überhaupt gibt?
Die UNESCO verfügt als einzige UN-Organisation über ein Netzwerk von 200 Nationalkommissionen, die ihre Mitgliedsstaaten jeweils eingerichtet haben, um die Themen, Ziele und Programme der UNESCO in die Politik und die Zivilgesellschaft des Landes zu tragen und zugleich dafür zu sorgen, dass aus dem Land heraus auch Impulse für die UNESCO-Arbeit gesetzt werden können. Insofern sind wir sowohl nach Paris, dem Sitz der UNESCO, als auch nach Berlin, dem Sitz des uns fördernden Auswärtigen Amts, orientiert, fungieren aber als unabhängiger Verein. Ich leite dessen Geschäftsstelle mit rund 60 Angestellten in Bonn und rund 25 in Berlin. Unser Ziel ist es, über Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation „Frieden im Geiste der Menschen“ zu bewirken, wie es in der Präambel der Verfassung der UNESCO festgehalten ist. Zum einen beraten wir zu diesem Zweck die Regierungen in Bund und Ländern zu allen Fragen, die sich aus der Mitgliedschaft in der UNESCO ergeben, und begleiten die Umsetzung von Initiativen und Konventionen der UNESCO in Deutschland. Zum anderen kümmern wir uns um die „UNESCO-Familie“ in Deutschland: die 52 Welterbestätten, rund 300 UNESCO-Projektschulen, 16 UNESCO-Lehrstühle, acht Geoparks, die Biosphärenreservate und die UNESCO-Cities, zu denen auch Heidelberg zählt (als City of Literature). Darüber hinaus zeichnen wir Initiativen für Bildung für nachhaltige Entwicklung aus und pflegen das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes.
Als multilaterale Mittlerorganisation behandeln wir viele Themen natürlich auch gemeinsam mit unseren Partnern der anderen Nationalkommissionen und befördern so auch den Dialog insbesondere mit dem Globalen Süden. Eine Besonderheit ist unser Freiwilligendienst „kulturweit“, über den junge Menschen bis zu zwölf Monate ins Ausland können, um dort an Einsatzstellen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ihren Horizont zu erweitern. Eigene Impulse setzen wir derzeit zum Beispiel mit unserer „Fair Culture“-Initiative, um die Prinzipien des Fair Trade auf den Kultursektor zu übertragen, oder mit unserem Recreation-Programm, das es Schülerinnen und Schülern aus dem ukrainischen Kriegsgebiet ermöglicht, für drei Wochen an deutschen Schulen aufgenommen zu werden, um in Kultur- und Sportangeboten wieder etwas Normalität und neue Freundschaften zu erfahren. Insofern gibt es für mich als Generalsekretär kaum „typische“ Arbeitstage, sondern vor allem die Verpflichtung, den Verein zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass wir ausreichende Mittel für die Erfüllung unserer vielfältigen Aufgaben haben.
Die UNESCO tritt für einen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff ein, der auch eine kulturelle Dimension beinhaltet – was bedeutet das konkret? Und wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Flagship-Initiative „Transforming Cultural Heritage“ der Universität Heidelberg?
Im Bildungsziel der UN-Agenda 2030 ist der ganzheitliche (und damit auch die kulturelle Dimension umfassende) Anspruch der Nachhaltigkeit gut zusammengefasst: Wir müssen „sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung“. Der Umgang mit unserem kulturellen wie natürlichen Erbe spielt dabei eine ganz zentrale Rolle, und deswegen haben die Welterbestätten auch eine Vorbildfunktion. Initiativen wie „Transforming Cultural Heritage“ sind sehr zu begrüßen. Mir gefällt, dass hier der Entwicklungsgedanke im Umgang mit dem Erbe im Vordergrund steht, dass der Fokus auf Interdisziplinarität und Innovation liegt und dass die gesellschaftliche Dimension unseres Erbes deutlich wird. 2022 haben wir übrigens gemeinsam mit dem Heidelberg Zentrum für Kulturelles Erbe das 50-jährige Jubiläum der Welterbekonvention mit einer internationalen Tagung begangen – für mich eine schöne Gelegenheit, um auch dienstlich wieder nach Heidelberg zurückzukommen!
Was sehen Sie als die wichtigsten aktuellen Herausforderungen für Wissenschaft und Bildung – weltweit und in Deutschland? Wie ist es um die Wissenschaftsfreiheit bestellt?
Im aktuellen Weltbildungsbericht der UNESCO aus dem Jahr 2023 steht der technologische Wandel im Zentrum. Darin wird deutlich, dass das Recht auf Bildung inzwischen auch Recht auf Zugang zum Internet umfassen muss. Aber weltweit sind noch 500 Millionen Schülerinnen und Schüler außen vor. Der freie, chancengerechte – und eben auch digitale – Zugang zu Bildung und Wissenschaft ist ein Kernanliegen der UNESCO, die sich für Open Education Resources einsetzt und 2021 zu Open Science eine völkerrechtlich bindende Empfehlung verabschiedet hat. Für die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit benötigen wir in der globalen Wissensgesellschaft internationale Allianzen – denn wir müssen feststellen, dass in vielen Ländern die Freiräume von Wissenschaft enger werden. Wenn wir von Zugängen sprechen, müssen wir – global gesehen – auch die Situation von Mädchen und Frauen in Bildung und Wissenschaft in den Blick nehmen und dafür sorgen, dass der afghanische Albtraum und die nach wie vor hohe Analphabetenrate im 21. Jahrhundert überwunden werden. Für den deutschen Kontext beobachte ich eine wachsende Dringlichkeit, dass sich die Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber weiter öffnet, um über Partizipation die Menschen auch für ihre aufklärerisch-kritische Grundhaltung und für das Prinzip der Nachhaltigkeit zu gewinnen.
Nicht nur in Deutschland sehen wir eine Entwicklung dahin, dass überprüfbare Fakten zugunsten von erwünschten Wahrheiten ignoriert werden, bis hin zu Wissenschaftsleugnung. Wie kann dem eine Organisation wie die UNESCO entgegenwirken?
Das Schlüsselwort heißt: Medienkompetenz, erst recht im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Wir brauchen eine neue Art der Alphabetisierung, die weit über Schreiben und Lesen hinausgeht. Die UNESCO bietet hierfür eine Vielzahl von Initiativen an, von Informationsangeboten in den Sozialen Medien, über pädagogische Handreichungen bis hin zur Förderung von Hochschulnetzwerken, die sich dem Thema verpflichten. Wir brauchen auch ein selbstverständlicheres Verhältnis zur Idee des Lebenslangen Lernens, für die ein eigenes UNESCO-Institut in Hamburg Konzepte und Leitfäden für die ganze Welt entwickelt. Am Ende läuft alles immer wieder auf Bildung hinaus. Dort aber, wo bewusst falsche Informationen verbreitet werden, geht es auch um politische Regulierung von entsprechenden Plattformen.
Eine abschließende Frage: Was bedeutet es für Sie als Heidelberger Germanisten, dass seit Kurzem der Codex Manesse zum UNESCO-Weltdokumentenerbe „Memory of the World“ gehört?
Ich erinnere mich noch gut an das Mediävistikseminar, in dem wir die berühmten Verse von Walther von der Vogelweide übersetzt haben, wie schon einige Generationen vor uns. Die Einzigartigkeit des Codex war uns damals schon bewusst. Dass er nun offiziell zum Erbe der Menschheit gezählt werden kann, hat etwas Bewegendes: Die Miniaturen und Erzählungen sind nun Teil einer kulturellen Identität, die sich jenseits von Landes- und Sprachgrenzen verortet. In Heidelberg gelernt zu haben, wie man sie versteht und übersetzt, ist ein gutes Gefühl.
(Die Fragen stellte Mirjam Mohr)