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Günter Stock„Man muss Wissenschaftlern die Freiheit geben, sich irren zu dürfen“

Der Weg des Mediziners Günter Stock führte von der Universität Heidelberg an die Spitze der deutschen Akademien der Wissenschaften

Günter Stock

Günter Stock (*1944) studierte von 1965 bis 1970 an der Ruperto Carola Medizin und war anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Physiologischen Institut. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Universität Göteborg habilitierte er sich 1978 in Heidelberg für das Fach Physiologie, 1980 übernahm er eine Professur für Vegetative Physiologie. 1983 wechselte Günter Stock zur Schering AG, bei der er zunächst den Bereich Kardiovaskuläre Pharmakologie und ab 1987 das Institut für Pharmakologie leitete. Von 1989 bis 2005 war er als Mitglied des Schering-Vorstands zuständig für Forschung und Entwicklung. Von 2006 bis 2015 war Günter Stock Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und von 2008 bis 2015 Präsident der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Seit 2012 ist er Präsident des Zusammenschlusses von 53 europäischen Wissenschaftsakademien, ALLEA. 2015 übernahm Günther Stock das Amt des Vorstandsvorsitzenden der Einstein Stiftung Berlin. Stock ist zudem Mitglied verschiedener Kuratorien, Aufsichtsräte und wissenschaftlicher Institutionen. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise, darunter das Große Bundesverdienstkreuz für sein „herausragendes persönliches Engagement in der Wissenschafts- und Forschungspolitik“.

Das Interview wurde im Mai 2013 geführt.

 

Herr Stock, Sie haben an der Universität gearbeitet, in der Industrie und jetzt an der Akademie der Wissenschaften. Was antworten Sie auf die Frage nach Ihrem Beruf?

Auf diese Frage würde ich zu jedem Zeitpunkt meines Berufslebens geantwortet haben, dass ich Wissenschaftler bin. Natürlich war ich vorwiegend Wissenschaftsmanager. Wissenschaft kann man aber auf zwei Arten verwalten: Entweder bürokratisch – oder mit Leidenschaft, indem man dafür sorgt, dass die Menschen, für die man Verantwortung trägt, anständige Wissenschaft betreiben können. In mancher Position ist man eher ein fragender Wissenschaftler als ein experimentierender, aber als fragender Wissenschaftler ist man auch Teil einer Wissenschaftlergruppe. Das bin ich jetzt auch – aber ich bin auch ein Lernender, denn als Mediziner sind einem die  insbesondere geisteswissenschaftlichen Langzeitprojekte der Akademie der Wissenschaften zunächst nicht so geläufig. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat über 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich kann dort also sehr gut einbringen, was ich im Management gelernt habe. Wo Menschen zusammenarbeiten, gibt es immer vergleichbare Herausforderungen: Man muss Mittel verwalten, wie ich es in der Industrie auch musste, allerdings hingen da einige Nullen mehr an den Zahlen, um die es ging – aber die Sorgfalt muss die gleiche sein. Die Inhalte sind anders, aber die Managementaufgabe ist gar nicht so unterschiedlich.

Günter Stock

Welche Fähigkeiten braucht man denn als Wissenschaftsmanager?

Es schadet mit Sicherheit nicht, wenn man selbst als Wissenschaftler gearbeitet hat. Ein Manager sollte auch nie die Leidenschaft für die Wissenschaft verlieren, und er muss bereit sein, die Irrtümer, die begangen werden müssen, um wissenschaftlich voranzukommen, so zu tolerieren, dass die Menschen, für die er Verantwortung trägt, nie das Gefühl haben, dass sie Angst vor Irrtümern haben sollten. Man muss ihnen immer die Freiheit geben, sich irren zu dürfen, dann leisten sie nicht nur das, was der Tagesplan von ihnen verlangt, sondern sie gehen ein Stück weiter. Denn dann wissen sie, dass sie auch ein Risiko eingehen dürfen und sogar sollen. Das halte ich für eine ganz wichtige Eigenschaft  im Wissenschaftsmanagement – Freiräume zu schaffen. Man braucht auch Menschenkenntnis, und gerade wenn man in größeren Einheiten mehrere Hierarchiestufen zu verantworten hat, ist es ganz wichtig, dass man nicht den falschen Leuten Personalverantwortung zuweist – das ist verheerend. Das sind die zentralen Punkte, die man beherrschen oder zumindest anstreben sollte – auch wenn man nie fehlerfrei agieren wird.

 

Wenn Sie an den Beginn Ihrer Laufbahn zurückdenken: Warum haben Sie sich für Ihr Studium die Universität Heidelberg ausgesucht?

Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung: Ich wollte Medizin studieren, und es gab beim Numerus Clausus Vorteile für die Landeskinder. Ich war damals schon in festen Händen in meiner Heimatstadt Pforzheim und hatte überlegt, nach Heidelberg, Tübingen oder Freiburg zu gehen. Und Sie werden es nicht glauben: Die Zugverbindung von Pforzheim nach Heidelberg war die günstigste und schnellste, also habe ich mich für Heidelberg entschieden – so einfach war das! Eine sehr pragmatische Lösung – aber am Ende auch die richtige.

 

Denn Sie sind lange in Heidelberg geblieben.

Ja, ich habe 1965 mit meinem Studium begonnen und im Dezember 1970 mein Staatsexamen gemacht und meine Dissertation abgeschlossen. Danach habe ich als Assistent in der Physiologie angefangen. Heidelberg habe ich nur für meine Postdoc-Zeit in Schweden verlassen, dann bin ich wieder zurückgekommen. Ich habe lange Zeit in der Akademie-Straße gearbeitet, bis wir in die Neubauten Im Neuenheimer Feld umgezogen sind – nach den Chemikern und Zoologen sind die medizinischen Grundlagenfächer als eine der ersten auf den Campus gezogen. So war ich einer der ersten Besiedler des Neuenheimer Felds und war dort bis exakt zum 1. Februar 1983.

 

Wie sind Ihre Erinnerungen an Ihre erste Zeit in Heidelberg?

Ich habe noch die große Aufregung um den Heidelberger Pädagogen und Religionsphilosophen Georg Picht miterlebt, der den Begriff der „Bildungskatastrophe“ prägte. Ich weiß nicht mehr, ob ich nach Heidelberg gefahren bin oder ob das schon während meiner Studentenzeit war – jedenfalls habe ich Picht auf dem Universitätsplatz reden gehört. Er hat für einen Riesenauflauf gesorgt. Das war wirklich einer der eindrucksvollsten Momente in meiner Anfangszeit.

 

Und warum sind Sie als Post-Doktorand nach Schweden gegangen?

Ich war dort von 1972 bis 1973 an einem pharmakologischen Institut. Mich interessierte damals das Dopamin als einer der wichtigen Transmitter, denn ich habe mich für Emotionen und die entsprechenden Abläufe im Gehirn interessiert. Also bin ich nach Schweden in das Labor von Arvid Carlsson gegangen, der bereits Ende der 1950er Jahre die Bedeutung des Dopamins als Transmitter im zentralen Nervensystem nachgewiesen hatte und dann auch vor wenigen Jahren dafür den Nobelpreis bekam. Nach meiner Rückkehr nach Heidelberg habe ich versucht, die mir bereits bekannte Elektrophysiologie mit dem Biochemischen zu verbinden, das ich in Schweden gelernt hatte. Das war eine sehr spannende Zeit.

 

Günter Stock

Das hört sich an, als hätten Sie ursprünglich eine Forscherkarriere an der Universität geplant.

Ich hatte in meinem Leben immer ganz klare Pläne. Mein Vater wollte, dass ich Lehrer werde – ich selbst wollte Theologie studieren und habe mich dann relativ spät entschieden, doch Medizin zu studieren, um Landarzt zu werden. Dann habe ich aber in der Physiologie- und in der Neurologievorlesung gelernt, dass Forschung für mich noch interessanter ist. Und dann habe ich tatsächlich auf Universität und Universitätslehrer gesetzt – ich war leidenschaftlicher Lehrer und Forscher und hätte nie geglaubt, dass ich einmal in die Industrie gehen würde, das war überhaupt nicht mein Lebensplan!

 

Aber wie kam es dann, dass Sie zu dem Pharmaunternehmen Schering gegangen sind?

1982 wurde die Frage an mich herangetragen, ob ich mir vorstellen könne, zu Schering nach Berlin zu kommen. Das Unternehmen wollte neue Gebiete eröffnen, dafür haben sie einen Wissenschaftler gesucht, der in den Gebieten Herz-Kreislauf und Neurologie/Psychiatrie bewandert war. Ich war damals 38 Jahre alt und eigentlich fest auf Universitätspfaden, aber dieses Angebot zum Aufbau einer Abteilung mit 46 Mitarbeitern – eine Professur war damals „üppig“ ausgestattet mit zwei Assistenten – war so verlockend und verführerisch, dass ich es angenommen habe. Und dann haben wir dieses schöne Heidelberg eingetauscht gegen das für uns damals schreckliche Berlin. Aber Berlin war dann doch eine sehr, sehr positive Überraschung – sowohl mit Blick auf die Arbeit als auch als Stadt.

 

War es also rückblickend für Sie der richtige Zeitpunkt zum Wechsel?

Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt werden können. Als ich zu Schering kam, war alles dort noch eher klassische Forschung, und es war eine große Herausforderung, diese Forschung komplett auf molekulare Medizin und neue Techniken wie die Biotechnologie umzustellen. Eine solche Aufgabe bekommt man nicht ohne weiteres noch einmal. Ich war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, wie mir im Nachhinein klar wurde. Aber das sind Dinge, die man nicht planen kann, man muss irgendwann vom geplanten Weg abgehen und sich für etwas Neues öffnen. Ich habe immer gut geplant –  aber dann doch immer etwas anderes gemacht.

 

Das heißt, Ihr weiterer Weg, der Sie zur Akademie der Wissenschaften führte, war so auch nicht geplant?

Nein. Ich war von 1983 bis Ende 2005 bei Schering, die letzten 16 Jahre im Vorstand. Als ich 60 Jahre alt wurde, habe ich angefangen, im Unternehmen Gespräche zu führen, dass ich gerne nochmal eine neue Herausforderung annehmen würde. Wir haben dann über zwei Jahre meine Nachfolge sorgfältig geplant und vorbereitet. Eigentlich wollte ich zurück in ein Laboratorium – ein kühner Gedanke in diesem Alter –, aber dann fragte die Akademie, in der ich zehn Jahre zuvor Mitglied geworden war, ob ich dort Präsident werden wolle. Das habe ich gerne angenommen. Auch dieses überraschende Angebot hat sich für mich als trefflich herausgestellt.

 

Sie haben nun verschiedene Seiten der Forschung kennengelernt: Die akademische Wissenschaft und die industrielle. Kann man das heutzutage überhaupt noch trennen?

Ach, woher denn! Wer das tut, ist gestrig. Das gemeinsame Prinzip verantwortlicher Wissenschaft ist die Ergebnisorientierung. Nun hat die Industrie natürlich relativ eingegrenzte Ziele, in meinem Fall war das Ziel, neue Medikamente zu finden. Aber das ist ungeheuer spannend, und gerade mit dem Aufkommen der neuen molekularen Medizin hat sich die Welt dramatisch verändert. Früher hatte man ungefähr 500 Zielstrukturen im Organismus, die im Lehrbuch beschrieben waren, das waren die Rezeptoren, Enzyme und so weiter. Dann hat die Chemie raffinierte Moleküle geschaffen, um diese Zielstrukturen entweder zu blockieren oder zu aktivieren. Mit der molekularen Medizin haben wir gelernt, zu neuen Proteinen zu kommen, aber vor allem zur genetischen Struktur. Das heißt, man musste auf verschiedenen Stufen Forschung betreiben und der Findungs- und Erfindungsprozess wurde plötzlich in den molekularen Bereich verlagert. Heute haben wir mit Sicherheit 20.000 Zielstrukturen, die es anzugehen gilt. Gerade im biologischen Bereich musste die industrielle Forschung also entweder allein ganz nach vorne in die molekulare Struktur gehen oder sich dafür Partner suchen. Und damit wurde diese scheinbare und künstliche Trennung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung, die institutionell und mental begründet war, aufgehoben – aber es gab sie nie wirklich, denn jede medizinische Forschung ist letztlich auf den Menschen hin gerichtet.  Die sogenannte neugiergetriebene Grundlagenforschung und die sogenannte angewandte Forschung sind keine sequentiellen Vorgänge, sondern häufig interagierende, interdependente Vorgänge. Daher ist auch die institutionelle Trennung beider Forschungsfelder nur bedingt zukunftsfähig – jedenfalls im biologisch-medizinischen Bereich.

 

Sie könnten zum Ende Ihres Berufslebens ein weiteres Mal etwas ganz anderes machen. Würde Sie denn die Politik reizen, mit der Sie ja in Berlin immer wieder zu tun haben?

Ich habe viele Berührungspunkte mit der Politik. Das beginnt mit der wissenschaftlichen Politikberatung in der Akademie, aber ich mache auch sonst sehr viel mit politischem Bezug. Die Entscheidungen, die in der Politik getroffen werden, sind schon sehr interessant. Viele Mechanismen, wie solche Entscheidungen getroffen werden, gefallen mir aber nicht wirklich. Und von daher müsste der Reiz schon groß und die Herausforderung wirklich wichtig sein, dass ich mir das nochmal überlegen würde.

 (Das Interview führte Mirjam Mohr)