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Margarete Mitscherlich„Jeder Patient ist eine Art Roman“

Für die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich war Heidelberg bis zuletzt Heimat

Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich, geborene Nielsen, wurde 1917 geboren und studierte von 1941 bis 1944 in Heidelberg Medizin. 1947 lernte sie den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908 bis 1982) kennen, den sie 1955 heiratete und der sie mit der Psychoanalyse vertraut machte. 1949 gründete Alexander Mitscherlich die Abteilung für Psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg, aus der später die Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin hervorging, die erste deutsche Klinik dieser Fachrichtung. Ab 1951 arbeitete auch Margarete Mitscherlich dort. 1967 zog das Ehepaar mit dem gemeinsamen Sohn nach Frankfurt am Main. Im gleichen Jahr veröffentlichten sie das viel diskutierte Buch „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“, das die Abwehrhaltung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung bei der Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit thematisierte. Ab den 1970er Jahren engagierte sich Margarete Mitscherlich in der Frauenbewegung. 2010 erschien ihr Buch „Die Radikalität des Alters“.

Das Interview wurde im Juni 2011 geführt. Ein Jahr später, im Juni 2012, starb Margarete Mitscherlich kurz vor ihrem 95. Geburtstag.

 

Frau Mitscherlich, Sie haben insgesamt rund 20 Jahre in Heidelberg gelebt, seit 1967 leben Sie in Frankfurt. Was sehen Sie eher als Heimat an – Frankfurt oder Heidelberg?

Als Heimat empfinde ich zunächst den dänischen Ort Gravenstein, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Meine zweite Heimat ist Heidelberg, wo ich jede Straße kannte. Ich habe von 1941 bis 1944 dort studiert, und obwohl damals Krieg war und eine fürchterliche Zeit, habe ich mich dort wirklich zu Hause gefühlt und bin 1950 dorthin zurückgegangen. In Frankfurt hatte ich viel mehr Mühe, mich einzugewöhnen.

 

Warum sind Sie zum Studieren nach Heidelberg gekommen?

Ich habe zunächst in München studiert und bin dann nach Jena gegangen, weil zu Beginn des Krieges viele Universitäten eine Zeit lang geschlossen wurden. In Jena habe ich mein Physikum abgelegt und bin dann nach Heidelberg gewechselt, weil dort eine Freundin von mir studiert hat.

 

Wie haben Sie die Nachkriegszeit erlebt, um die es in Ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ geht?

Die unmittelbare Nachkriegszeit habe ich gar nicht in Deutschland erlebt. Ich wurde 1944 bei der Gestapo angezeigt und verhört, habe es aber geschafft, im Juli 1944 zurück nach Dänemark zu gehen. 1947 bin ich in die Schweiz gegangen und habe bis 1949 in Ascona am Lago Maggiore und in Zürich als Ärztin gearbeitet. Ich wurde dann schwanger, wollte aber nicht in der sehr bürgerlichen Schweiz ein uneheliches Kind in die Welt setzen und bin deshalb nach Deutschland zurückgekehrt. 1949 habe ich am Bodensee meinen Sohn geboren.

 

Aula der Neuen Universität

Wie erlebten Sie die Ruperto Carola, als Sie 1950 dorthin zurückkamen?

Als ich zurückkam, gab es bereits den Marshallplan und die Währungsreform, Deutschland war am Aufsteigen – und tat so, als hätte es eigentlich nie etwas mit Adolf Hitler und dem Zweiten Weltkrieg zu tun gehabt. An der Universität hatte ich den Eindruck, dass sich nicht viel geändert hatte: Als Studenten hatten wir sehr wohl gewusst, welche Professoren glühende Nazis waren – die waren nicht mehr da, aber das waren nicht sehr viele. Die meisten waren Mitläufer, soweit ich das übersah, und die waren alle mehr oder weniger noch in Amt und Würden, als ich ankam. Wenn ich sagte: Hier hat sich ja kaum was geändert, schlug mir so eine Stimmung entgegen: Ach ja, es hat da ja mal einen Hitler gegeben – aber damit hatten wir eigentlich nichts zu tun, und jetzt vertragen wir uns ja alle wieder!

 

Aber das hat sich in den vergangenen 60 Jahren ja geändert.

Ich sehe es heute durchaus so, dass die große Mehrheit der Deutschen wirklich davon überzeugt ist, dass die zwölf Jahre Nationalsozialismus ein Verbrechen ohnegleichen waren, und dass sie wollen, dass so etwas nie wieder geschieht. 1950 hätte ich das nicht gedacht, als die Mehrheit nichts von ihrer Vergangenheit wissen wollte, sie leugnete und verdrängte. Aber man muss auch sehen, dass die ganze Nazizeit ein einziges Trauma war, in jeder Hinsicht. Es war ein absolut mörderischer Terror, wir alle hatten Angst, gleichzeitig machte man sich aber auch Vorwürfe, warum man nicht aktiver dagegen gekämpft hat. Man war ja auch selbst feige und hatte immer wieder Ängste.

Alexander Mitscherlich

In „Die Unfähigkeit zu trauern“ haben Alexander und ich mehr von den falschen Idealen gesprochen als vom Einfluss des Terrors. Auch ich habe meine Ideale verloren, denn als Kind eines dänischen Vaters und einer deutschen Mutter habe ich Deutschland in meiner Kindheit und zu Beginn der 1930er Jahre sehr idealisiert. Das war dann traumatisch, langsam erkennen zu müssen, dass das eigene Ideal mit Recht, Anstand und Menschlichkeit nur wenig zu tun hatte. Das hat mich sehr geprägt – aber wenn ich jetzt zurückdenke, denke ich doch vor allem an die rasende Angst. Freunde von mir kannten die Geschwister Scholl, und es war uns allen klar: Wer sich aktiv dagegenstellt, ist in kürzester Zeit tot.

Alexander und Margarete Mitscherlich, Buchcover, Die Unfähigkeit zu trauern

Sie haben zunächst Literatur studiert, warum sind Sie dann zur Medizin gewechselt?

Da ich mich völlig mit meiner Mutter identifiziert habe, die Lehrerin war, wollte ich auch Lehrerin werden. Aber dann kam ich nach München und stellte fest, dass diese ganzen geisteswissenschaftlichen Fächer doch sehr „nazi-infiziert“ waren, gerade Deutsch und Geschichte. Da habe ich mir gedacht: Medizin können sie nicht braun machen – Herz ist Herz, Leber ist Leber.

 

Und was hat Sie später an der Psychoanalyse so fasziniert?

Ich hatte bereits in früher Kindheit den Nickname „Leseratte“, weil ich viel gelesen habe. Für mich waren vor allem Romane eine andere Welt, und ich fand es immer interessant, dass es auch ein anderes Leben und andere Welten gibt. Das ist bei der Psychoanalyse nicht anders: Mich hat von Anfang an daran interessiert, dass man die Menschen und das Leben auch anders sehen kann, dass andere Menschen etwas anderes erleben. Die unbewussten Motive, die in der Psychoanalyse eine große Rolle spielen, durchziehen ja auch die ganze Literatur und Lyrik: Warum verliebt man sich in eine bestimmte Person, warum handelt man in einer bestimmten Art und Weise?

 

Sie sind jetzt 94 Jahre alt, haben aber noch bis vor kurzem Patienten behandelt.

Ja, noch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich im Sigmund-Freud-Institut ein Praxiszimmer. Da dort aber gerade alles umgebaut wird, habe ich das aufgegeben. Ab und zu rufen mich noch alte Patienten an, mit denen ich spreche. Ich habe meinen Beruf sehr gerne ausgeübt, das ist schon ein Jammer, das man ihn irgendwann aufgeben muss – das entbehre ich sehr. Jeder Patient ist ja auch eine Art Roman.

 

1987 haben Sie in Ihrem Buch „Die Zukunft ist weiblich“ die These vertreten, dass die Werte – auch die der Männer – weiblicher würden. Inzwischen haben Mädchen Jungen beim Bildungserfolg überholt, wir haben eine Bundeskanzlerin und eine Generalbundesanwältin, und beim Männerfußball zählen nicht mehr machohafte Führungsfiguren, sondern das Team. Hat sich Ihre These somit bewahrheitet?

Ganz klar. Allerdings hat sich schon allein durch die Industrialisierung die Aufteilung der Welt in Männer und Frauen geändert – da heute auch Frauen alles mit Maschinen und Computern machen können, hat sich die primitive Vorstellung überholt, dass der Mann stark sein und die Frau beschützen muss. Die Muskelkraft und körperliche Stärke von Männern spielt in der Wirtschaft heute keine Rolle mehr, an der Spitze kann auch eine Frau stehen – auch wenn das leider meistens (wegen der mangelnden Betreuung von Kindern) immer noch nicht der Fall ist. Denn was die Betreuung von Kindern angeht, liegt bei uns immer noch Einiges im Argen. Aber bestimmte Behauptungen über Eigenschaften, die Männer und Frauen angeblich – quasi genetisch – haben sollen, sind inzwischen zum Glück widerlegt. Die Männer, so sehe ich es, sind weiblicher geworden und die Frauen männlicher, zumindest in der westlichen Kultur – wenn auch noch lange nicht genug.

 

(Das Interview führte Mirjam Mohr)