ForschungVirusenzym verknüpft RNA-Ketten mit Wirtsproteinen
18. August 2023
Forschung an Bakteriophagen enthüllt ein bislang unbekanntes biologisches Prinzip
Viren haben die Fähigkeit, geeignete Wirtszellen umzuprogrammieren und dort die genetische Kontrolle zu übernehmen. Um das Transkriptions- und Translationssystem des Wirtes zu manipulieren, nutzen Bakteriophagen – auf Bakterien spezialisierte Viren – einen besonderen Mechanismus: Ein Virusenzym verknüpft RNA-Ketten mit ausgewählten Wirtsproteinen, was letztlich zum Absterben der Zelle führt. Entdeckt hat dieses bislang unbekannte biologische Prinzip ein Team von Biowissenschaftlern, angeführt von Prof. Dr. Andres Jäschke vom Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg und Dr. Katharina Höfer vom Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg.
Viren sind infektiöse organische Strukturen, die keinen eigenen vollständigen genetischen Apparat besitzen. Sie können sich daher nur in geeigneten Wirtzellen vermehren, die sie zu diesem Zweck umprogrammieren. Die Mechanismen dieser Umprogrammierung sind oft noch ein Rätsel, aber von enormem wissenschaftlichem, medizinischem und wirtschaftlichem Interesse. Ihr Verständnis könnte zu neuen Ansätzen für antivirale Medikamente führen. Bei der Erforschung von Viren sind die Wechselwirkungen zwischen RNA-bindenden Proteinen und Ribonukleinsäuren (RNAs) von großer Bedeutung; RNAs spielen eine Schlüsselrolle bei der Proteinbiosynthese.
Im Mittelpunkt der Heidelberger und Marburger Untersuchungen stand der Bakteriophage T4. Dieses Virus infiziert das Bakterium Escherichia coli, das einen Modellorganismus für die Forschung darstellt. Der Phage hat, wie Prof. Jäschke erläutert, „erstaunliche Strategien“ entwickelt, um eine Bakterienzelle zu übernehmen. Nachdem T4 in die Zelle eingedrungen ist, nutzt er als Biokatalysatoren unter anderem drei verschiedene ADP-Ribosyltransferasen (ARTs). Diese ART-Enzyme übertragen Teile eines Coenzyms – des Nicotinamid-Adenin-Dinucleotids (NAD) – auf verschiedene Proteine der Wirtszelle. Dadurch werden mehr als 30 Wirtsproteine in ihrer Funktion verändert. Dies hat letztlich zur Folge, dass die Zelle abgetötet wird.
Die Forschungsgruppe von Prof. Jäschke hat bereits 2014 entdeckt, dass NAD nicht nur in freier Form existiert, sondern auch an bestimmte Ribonukleinsäuren angehängt sein kann. Diese Entdeckung hat den Grundstein für viele weitere Forschungen gelegt, denn NAD-RNAs wurden in verschiedenen Organismen in unterschiedlichen Formen und Größen gefunden. „Das Coenzym Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid spielt eine zentrale Rolle im Stoffwechsel von Bakterien, ebenso wie von höheren Organismen. Allerdings war bislang unklar, welchen biologischen Zweck diese NAD-Modifikation von RNA erfüllt“, sagt der Heidelberger Wissenschaftler.
„Wir haben ganz unterschiedliche Hypothesen getestet, basierend auf den bekannten biologischen Funktionen des Nicotinamid-Adenin-Dinucleotids. Die meisten dieser Untersuchungen führten ins Nichts, bis auf eine“, so Prof. Jäschke. „Unsere Annahme war, dass ART-Enzyme nicht nur das NAD, sondern auch die Verknüpfung von NAD und RNA als Substrate akzeptieren und somit RNA-Ketten auf die Zielproteine übertragen würden. Obwohl bereits Ende 2016 erste Ergebnisse aus unserem Labor diese Annahme zu bestätigen schienen, konnte sie erst jetzt in einem großen Forscherteam zweifelsfrei belegt werden.“ Die Wissenschaftler bezeichnen diesen Vorgang – die Bindung einer ganzen Ribonukleinsäure an ein Protein – als RNAylierung.
Beim Bakteriophagen T4 haben die Forscherinnen und Forscher ein ART-Enzym mit der Bezeichnung ModB untersucht. Sie konnten nachweisen, dass ModB tatsächlich NAD-RNAs nutzen kann, um ganze RNA-Ketten in einer RNAylierungsreaktion an Proteine anzuhängen. Nach den Worten von Dr. Höfer weisen die Ergebnisse „auf eine völlig neue biologische Rolle der NAD-modifizierten RNA hin, nämlich die Aktivierung der RNA für die enzymatische Übertragung auf ein Protein“. Die Wissenschaftlerin hat das Projekt zuerst an der Universität Heidelberg bearbeitet und forscht seit 2020 dazu in Marburg.
Der Vorgang ist offenbar für eine effiziente Phageninfektion unerlässlich, denn T4- Mutanten ohne ModB töten Bakterien deutlich langsamer als der Phage mit ModB. Das ART-Enzym bindet verschiedene Ribonukleinsäuren spezifisch an bakterielle Proteine, die an der Proteinbiosynthese beteiligt sind, wie die Wissenschaftler anhand lebender Zellen gezeigt haben. Die RNAylierung könnte Teil der Phagen-Strategie sein, die Translation bakterieller Proteine zu stoppen und es dem Phagen so zu ermöglichen, die Biosynthese seiner eigenen Proteine zu regulieren, so Doktorand Maik Wolfram-Schauerte vom Max-Planck-Institut in Marburg.
Die aktuellen Erkenntnisse sind möglicherweise auch über Viren hinaus von großer Bedeutung, da ART-Enzyme in nahezu allen Organismen, auch im Menschen, vorkommen. Die RNAylierung könnte, so die Wissenschaftler, ein Phänomen von breiter biologischer Relevanz sein, das weit über virale Infektionen hinausgeht. An den Forschungsarbeiten mitgewirkt hat auch Prof. Dr. Henning Urlaub vom Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen. Gefördert wurden sie von unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des ERC Advanced Grant von Prof. Jäschke sowie von der Max-Planck-Gesellschaft. Die Forschungsergebnisse sind in „Nature“ erschienen.
Originalpublikation
M. Wolfram-Schauerte, N. Pozhydaieva, J. Grawenhoff, L.M. Welp, I. Silbern, A. Wulf, F.A. Billau, T. Glatter, H. Urlaub, A. Jäschke, K. Höfer: A viral ADP-ribosyltransferase attaches RNA chains to host proteins. Nature (16 August 2023)