ForschungMentale Verarbeitungsgeschwindigkeit verändert sich kaum über die Lebensspanne
Pressemitteilung Nr. 16/2022
18. Februar 2022
Heidelberger Studie zeigt, dass die Geschwindigkeit der kognitiven Informationsverarbeitung über Jahrzehnte weitgehend stabil bleibt
Die mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit – die Geschwindigkeit, mit der wir schnelle Entscheidungsaufgaben lösen können – verändert sich über Jahrzehnte hinweg nicht wesentlich. Zu diesem Schluss kommen Psychologen der Universität Heidelberg. Unter Leitung von Dr. Mischa von Krause und Dr. Stefan Radev wurden Daten aus einem groß angelegten Online-Experiment mit über einer Million Teilnehmern ausgewertet. Die Ergebnisse der neuen Studie legen nahe, dass die Geschwindigkeit der kognitiven Informationsverarbeitung zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr weitgehend stabil bleibt und erst im höheren Lebensalter abnimmt. Die bisherige Annahme, die mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit beginne bereits im jungen Erwachsenenalter zu sinken, stellen die Heidelberger Forscher damit infrage.
„Die gängige Annahme lautet: Je älter wir werden, desto langsamer reagieren wir auf externe Reize. Danach wäre die mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit mit etwa zwanzig Jahren am schnellsten und sinke dann mit zunehmendem Alter“, sagt Dr. von Krause, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der von Prof. Dr. Andreas Voß geleiteten Arbeitseinheit Psychologische Methodenlehre am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Um diese These zu überprüfen, werteten die Wissenschaftler Daten aus einer groß angelegten amerikanischen Studie – in diesem Fall zu impliziten Vorurteilen – neu aus. In dem Online-Experiment mit über einer Million Teilnehmern mussten die Probanden durch Drücken einer Taste Bilder den Kategorien „weiße“ oder „schwarze“ Personen sowie Wörter den Kategorien „gut“ oder „schlecht“ zuordnen. Nach Angaben von Dr. von Krause spielte der inhaltliche Fokus bei der Heidelberger Studie jedoch keine Rolle. Vielmehr nutzten die Forscher den großen Datensatz als Beispiel für eine Reaktionszeitaufgabe, bei der die Dauer kognitiver Entscheidungen gemessen wurde.
Bei der Auswertung der Daten stellten Dr. von Krause und seine Kollegen zwar fest, dass die Reaktionszeiten der Probanden mit zunehmendem Alter durchschnittlich stiegen. Mithilfe einer mathematischen Modellierung konnten sie jedoch belegen, dass dieses Phänomen nicht auf Veränderungen der mentalen Verarbeitungsgeschwindigkeit zurückzuführen ist. „Vielmehr sind ältere Probanden aus unserer Sicht vor allem deshalb langsamer, weil sie vorsichtiger antworten und sich mehr auf die Vermeidung von Fehlern konzentrieren“, erklärt Mischa von Krause. Gleichzeitig sinkt über den Verlauf des Erwachsenenlebens die motorische Reaktionsgeschwindigkeit: Ältere Teilnehmer des Experiments brauchten länger, um die passende Taste zu drücken, nachdem sie die richtige Antwort gefunden hatten.
Erst bei Teilnehmern mit einem Alter von über 60 Jahren – so ein weiteres Ergebnis der Studie – zeigte sich, dass auch die durchschnittliche Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung fortschreitend abnahm. „Es sieht so aus, als ob wir im Laufe unseres Lebens zunächst keine wesentlichen Einbußen bei der mentalen Verarbeitungsgeschwindigkeit befürchten müssen – insbesondere nicht im Verlauf eines typischen Berufslebens“, so Mischa von Krause. „Generell ist auch festzuhalten, dass es unter den Probanden in allen Altersgruppen Menschen mit hoher und niedriger mentaler Verarbeitungsgeschwindigkeit gab. Unsere Ergebnisse beziehen sich auf die durchschnittliche Ausprägung.“
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die Forschungsarbeiten im Rahmen des Graduiertenkollegs „Statistische Modellierung in der Psychologie“ (GRK 2277) gefördert. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature Human Behaviour“ veröffentlicht.
Originalveröffentlichung
M. von Krause, S. T. Radev, A. Voß: Mental speed is high until age 60 as revealed by analysis of over a million participants. Nature Human Behaviour (17 February 2022).