Eine neue Ära für die Bibliotheken

8. August 2023

Der scheidende Direktor der Universitätsbibliothek, Veit Probst, über Digitalisierung und infrastrukturelle Erfolgsrezepte

Die Digitalisierung durchdringt alle Bereiche unseres Lebens. Welchen Umbruch sie für die wissenschaftlichen Bibliotheken bedeutet, erläutert Dr. Veit Probst im Interview. In ihrem revolutionären Charakter sieht der Direktor der Universitätsbibliothek, der sich zum Ende des Sommersemesters in den Ruhestand verabschiedet, durchaus eine Parallele zur Erfindung des Buchdrucks. In Heidelberg hat Veit Probst daher von Anfang an auf die digitale Welt gesetzt. Maßgeblich den Erfolg in diesem Bereich befördert hat eine Reform der bibliothekarischen Infrastruktur.

Dr. Veit Probst

Vor Kurzem wurde der Codex Manesse in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen. Ein schönes Abschiedsgeschenk für Sie!

Probst: Das kann man so sagen. Der Codex Manesse mit seinem außerordentlichen universellen Wert ist zweifellos das bedeutendste Stück unserer historischen Sammlung. Der Aufnahme in das Weltdokumentenerbe voraus ging ein aufwendiges und mehrjähriges Verfahren. Umso schöner, dass es jetzt geklappt hat.

 

Zu den formalen Voraussetzungen, die erfüllt werden mussten, zählte unter anderem die Digitalisierung. Das war für Sie sicherlich die kleinste Hürde.

Probst: Tatsächlich gehört der Codex Manesse zu den ersten mittelalterlichen Handschriften überhaupt, die wir digitalisiert und über das Internet bereitgestellt haben. Als ich 2002 die Leitung der Universitätsbibliothek übernahm, war mir schnell klar, dass für die Bibliotheken gerade eine neue Ära anbricht. Mein Ehrgeiz war es seitdem, die Digitalisierung als lohnende Herausforderung anzugehen und diesen Prozess nicht nur hier in Heidelberg, sondern etwa auch in Gremien der Wissenschaftsorganisationen aktiv mitzugestalten.

Wie fing es damit in der Universitätsbibliothek an?

Probst: Den Anfang machten wir mit einer kleinen Digitalisierungswerkstatt sowie ersten Schritten bei der Bestandsdigitalisierung. Zwischen 2006 und 2009 haben wir dann mit der Digitalisierung der in der Universitätsbibliothek Heidelberg befindlichen Handschriften der Bibliotheca Palatina ein erstes großes Projekt realisiert. Manfred Lautenschläger hat mit seiner finanziellen Förderung dabei einen entscheidenden Impuls gegeben. Über den Zwischenschritt der Bearbeitung der Lorscher Klosterbibliothek gelang es uns schließlich nach langwierigen und höchst komplizierten Verhandlungen, auch die übrigen Handschriften der Palatina, die sich seit dem 17. Jahrhundert im Vatikan befinden, vor Ort zu digitalisieren. Damit wurde es möglich, die kurfürstliche Büchersammlung, die zu den berühmtesten historischen Bibliotheken der Welt zählt, virtuell wieder zusammenzuführen. Auf diesem Weg haben wir gleichzeitig die Digitalisierungswerkstatt zu einem großen Digitalisierungszentrum mit aktuell zehn Hochleistungsscannern weiterentwickelt.

Wir haben Downloads in zweistelliger Millionenhöhe jedes Jahr.

Dr. Veit Probst

Bei der reinen Digitalisierung ist es aber nicht geblieben...

Probst: Der nächste wichtige Schritt waren umfassende Online-Editionen – unsere Programmlinie heiEDITIONS, die beständig ausgebaut wird und eine Infrastruktur für digitale Editionen beinhaltet. Hier kooperieren wir weltweit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter von den Universitäten Cambridge, Santiago de Compostela oder Bern, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Genutzt wird dabei nicht zuletzt unsere besondere Expertise im Bereich Softwarelösungen. Auch das online verfügbare Dürer-Portal, ein digitales Werkverzeichnis des bedeutenden Künstlers, kann in diesem Zusammenhang genannt werden wie überhaupt unsere Angebote im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Fachinformationsdienste für die Disziplinen Kunstgeschichte, Altertumswissenschaften und Südasienwissenschaften. Ermöglicht wurden die meisten Projekte digitaler Editionen über die Einwerbung von Drittmitteln. Dabei ist es uns gelungen, in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als 35 Millionen Euro an Fördergeldern zu generieren.

 

Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist sicherlich der 2015 gegründete Universitätsverlag Heidelberg University Publishing heiUP, der aktuelle wissenschaftliche Originalpublikationen zugänglich macht.

Probst: Dieser Schritt verdeutlicht die unglaubliche Herausforderung an spezifischen Kompetenzen, die mit dem Weg in die digitale Welt verbunden war und weiterhin ist. Hier arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten aus den Bereichen IT und Verlagswesen eng mit solchen aus dem klassischen Bibliothekswesen zusammen. Wissenschaftliche Publikationen tendieren immer mehr zum Online-Angebot, bei dem die klassische Darstellung und Analyse mit den zugrunde liegenden Forschungsdaten verknüpft wird – das können Film- und Fotodaten sein, Umfragedaten aus den Sozialwissenschaften oder auch umfangreiche naturwissenschaftliche Messdaten. In der Erstellung solcher Veröffentlichungen nehmen wir eine Vorreiter-Rolle ein und versorgen damit nicht nur unsere Universität, sondern sind ein weltweit wahrgenommener Dienstleister, der weit mehr als seine historischen Schätze online verfügbar macht. Wir haben Downloads in zweistelliger Millionenhöhe jedes Jahr.

Was ist außer Open Access, also dem freien Zugang, dabei noch von Bedeutung?

Probst: Open Access steht an erster Stelle, da wir die Möglichkeiten digitalen Publizierens als Auftrag begreifen, Forschungsergebnisse sichtbar und für jedermann zugänglich zu machen. Neben der Nutzung und Weiterentwicklung innovativer Publikationsformen sichern wir die Qualität der heiUP-Publikationen durch ein Peer-Review-Verfahren. Im Universitätsverlag veröffentlicht werden vor allem Monographien, Sammelbände und Lehrbücher. In Ergänzung zu den digitalen Formaten bieten wir im Übrigen auch gedruckte Ausgaben an.

Verabschiedung Dr. Veit Probst vor Publikum in der Alten Aula

Die Digitalisierung ist zweifellos ein Leitmotiv Ihrer Amtszeit. Welche weiteren Aufgabenstellungen waren für die Universitätsbibliothek in den vergangenen zwanzig Jahren prägend?

Probst: Wesentlich befördert wurde dieser Transformationsprozess von einer buchorientierten Bibliothek, wie ich sie übernommen habe, zu einem digitalen Hochleistungszentrum durch die zu Beginn meiner Amtszeit getroffene Entscheidung, die damals über 100 dezentralen Institutsbibliotheken unter dem Dach der Universitätsbibliothek zu vereinen. Im Rahmen eines Konzentrationsprozesses konnten wir diese Zahl auf 37 verringern. Zu den Höhepunkten zählte dabei etwa die Schaffung der CATS-Bibliothek – der Bibliothek des Centre for Asian and Transcultural Studies. Entstanden aus der Zusammenführung sechs ehemaliger Institutsbibliotheken, ist sie heute die zweitgrößte Asien-Bibliothek deutschlandweit. Wir konnten auf diese Weise etwa die Arbeitseffizienz steigern, durch die Umschichtung von Stellen wurden neue Kapazitäten geschaffen, die nicht zuletzt dem Bereich Digitalisierung zugutekamen. Diese Reform der Organisationsstruktur, die von den beiden Rektoraten unter Prof. Dr. Peter Hommelhoff und Prof. Dr. Bernhard Eitel maßgeblich unterstützt wurde, war entscheidend für alle weiteren Entwicklungen. Letztlich konnte ich als Direktor der Universitätsbibliothek wie ein Unternehmer agieren und nicht wie ein Behördenleiter.

Das Hauptgebäude der Universitätsbibliothek im Herzen der Heidelberg Altstadt, in der auch dieses Interview stattfindet, ist seit längerer Zeit mit Gerüsten versehen. Auch im Inneren wurde in den vergangenen Jahren viel gebaut.

Probst: Die Bauaktivitäten stellen ebenfalls einen bedeutenden Faktor der infrastrukturellen Erneuerung dar. Hier im Altbau bauen wir seit Langem sukzessive um. Im Moment sind wir bei der Fassadensanierung, im ehemaligen Speicher im sechsten Obergeschoss sind neue Büros geplant. Als ich dieses Haus übernommen habe, gab es viel zu wenig Lese- und Arbeitsplätze für die Nutzerinnen und Nutzer. Nach großen Umbauphasen, vor allem im Zuge der Übernahme des benachbarten Triplex-Gebäudes, verfügen wir hier mittlerweile über attraktive Lesebereiche mit mehr als 1.100 Plätzen. Weitere 500 Plätze entstehen im neuen Hörsaal- und Lernzentrum audiMAX, das gerade auf dem Campus Im Neuenheimer Feld gebaut wird. Ebenso ein Meilenstein der baulichen Entwicklung war neben der erwähnten CATS-Bibliothek auch die 2009 eröffnete Campus-Bibliothek Bergheim der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

 

Abschließend ein Blick voraus: Wie sieht die Bibliothek der Zukunft aus?

Probst: Die Bibliotheken, die die Herausforderungen des digitalen Wandels annehmen, werden auch künftig erfolgreich sein. Auch wenn die klassische Buchausleihe immer weiter zurückgeht, bleiben Bibliotheken als Orte zum Arbeiten und Lernen attraktiv, sofern sie dieses Potential, etwa durch entsprechende bauliche Maßnahmen, nutzen. Ein weiteres wichtiges Thema, das auch in der aktuellen Exzellenzstrategie-Ausschreibung eine zentrale Rolle spielt, ist schließlich das Forschungsdatenmanagement. Hier geht es für uns als Bibliothek vor allem um Fragen der Bereitstellung von Forschungsdaten bis hin zur digitalen Langzeitarchivierung. Daher haben wir unsere Zusammenarbeit mit dem Universitätsrechenzentrum massiv verstärkt und dazu jüngst auch eine gemeinsame Strategie für die Universität Heidelberg vorgelegt.

Zur Person

Veit Probst studierte an den Universitäten Heidelberg und Mannheim sowie als Stipendiat am Deutschen Historischen Institut in Rom. Im Jahr 1989 wurde er mit einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit zu Petrus Antonius de Clapis, einem italienischen Humanisten, an der Universität Mannheim promoviert. Im Anschluss an das Bibliotheksreferendariat trat er in die Heidelberger Universitätsbibliothek ein und war zunächst für die wissenschaftliche Erschließung der Palatina-Handschriften zuständig. Nach mehreren Stationen übernahm er im Jahr 2002 das Amt des Direktors der Universitätsbibliothek. Seine 21-jährige Amtszeit endet am 30. September. Im Anschluss daran wird er sich im Rahmen eines Buchprojekts dem Leben und Werk von Jan Gruter (1560 bis 1627) widmen – dem ersten Geschichtsprofessor an der Heidelberger Universität und dem letzten Bibliothekar der Bibliotheca Palatina, bevor diese 1622 im Zuge des Dreißigjährigen Krieges als Beute in die Vatikanische Bibliothek gelangte.

Porträt: Dr. Veit Probst