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ForschungAntidepressiva machen Fische zur leichten Beute: Verlust der natürlichen Reaktion auf Stress

Pressemitteilung Nr. 68/2020
19. August 2020

Interdisziplinäres Projekt Effect-Net zu Auswirkungen von Medikamenten in der aquatischen Umwelt

Rückstände von Arzneimitteln in Gewässern – in diesem Fall ein Antidiabetikum und zwei Antidepressiva – wirken auch bei Fischen. Besonders starke Effekte haben Medikamente zur Behandlung von Depressionen. Bei ihnen verlieren die Fische ab einer bestimmten Konzentration der Substanzen im Wasser ihre natürliche Reaktion auf Stress. Das zeigen Untersuchungen im Rahmen des interdisziplinären Projekts „Effect Network in Water Research“ (Effect-Net). Hier arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Heidelberg und Tübingen sowie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) zusammen, um die Effekte von Medikamenten und Lebensmittelzusatzstoffen in der aquatischen Umwelt zu erforschen. Begleitend dazu befassen sich Politikwissenschaftler mit dem Verbraucherverhalten und der Frage, ob Verbraucher gegebenenfalls auf teurere, aber dafür weniger die Umwelt belastende Medikamente umsteigen würden.

Fischbecken

Wie die Verhaltensuntersuchungen mit Zebrabärblingen und Bachforellen zeigen, wirken Antidepressiva besonders stark: Die Forscher arbeiteten mit zwei ausgewählten Wirkstoffen (Fluoxetin, Citalopram), die in großen Mengen zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden. Diese neuroaktiven Substanzen führten bereits in außerordentlich geringen umweltrelevanten Konzentrationen zu Verhaltensveränderungen. So reagieren die Embryonen von Zebrabärblingen normalerweise sehr empfindlich, wenn sich die Beleuchtung ihrer Umgebung ändert. Sie schwimmen dann hektisch hin und her und versuchen sich zu verbergen. Unter dem Einfluss der Antidepressiva änderte sich dies: Je höher die Konzentration der beiden Arzneistoffe im Wasser war, desto weniger zeigten die Fische diesen Schutzreflex, wenn die Beleuchtung ihrer Umgebung wechselte. Die Fische hatten ihre natürliche Reaktion auf Stress verloren.

Dies stellten die Forscher auch in ihren Untersuchungen mit Bachforellen fest. „Vergleichbar mit der Abnahme von Depressionszuständen, wie sie beim Menschen beobachtet wird, scheinen die Fische ihr natürliches Angstverhalten mit steigender Konzentration der Wirkstoffe im Wasser abzulegen. Das macht sie zu einer leichten Beute für Raubfische“, erläutert Prof. Dr. Thomas Braunbeck, Biologe am Centre for Organismal Studies (COS) der Universität Heidelberg und Koordinator von Effect-Net.

Auch bei einem Antidiabetikum, das bei Typ-2-Diabetes verabreicht wird, konnten die Wissenschaftler Effekte belegen. In Langzeitexperimenten zeigte sich, dass sich der Wirkstoff in umweltrelevanten Konzentrationen – also Mengen, wie sie beispielsweise in Flüssen nachweisbar sind – dazu führt, dass die Fische mehr Kohlenhydrate in der Leber ablegten und an Gewicht verloren. Außerdem veränderte sich die Bakterienzusammensetzung im Darm der Tiere: So fanden die Forscher beispielsweise auch vermehrt Bakterienarten, die die Bachforellen schwächen können. „Dies kann längerfristig zu Veränderungen in der Entwicklung und der Vitalität führen“, so Prof. Dr. Rita Triebskorn vom Institut für Physiologische Ökologie der Universität Tübingen. „Zusätzlich konnten wir zeigen, dass das Antidiabetikum krankmachende Gene in Bakterien, die sich in der Darmflora befinden, verstärkt aktiviert. Diese können dann ebenfalls die Gesundheit der Fische negativ beeinflussen“, sagt Prof. Dr. Thomas Schwartz vom Institut für Funktionelle Grenzflächen des KIT.

Ein weiterer Aspekt des interdisziplinären Forschungsprojektes ist das Verhalten der Verbraucher. Vielen Menschen ist bewusst, dass Medikamente in Gewässer gelangen und dort Organismen schaden können. Dies ergab eine repräsentative Umfrage, die Prof. Dr. Jale Tosun vom Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg im Rahmen von Effect-Net durchgeführt hat. Dabei wurden mehr als 2.000 Personen befragt, unter anderem auch zur Verantwortung für die Verunreinigung, zu ihren Einstellungen gegenüber Regulierungsmaßnahmen und zur Bereitschaft, das persönliche Konsumverhalten zu ändern. Weniger verbreitet als das Wissen um Medikamentenrückstände in Gewässern ist das Bewusstsein für die persönliche Verantwortung. „Die Befragten halten mehrheitlich Landwirtschaft und Industrie für hauptsächlich verantwortlich“, betont die Heidelberger Politikwissenschaftlerin.

Wie die Umfrage weiter gezeigt hat, würden die Verbraucher grundsätzlich umweltfreundlichere Produkte nutzen. Um ihr Verhalten entsprechend zu ändern, fehlt es jedoch häufig an spezifischen Kenntnissen zu weniger umweltbelastenden Alternativen. Allerdings sind deutlich weniger Menschen bereit, für diese Arzneimittel auch mehr zu bezahlen. Vor die Wahl gestellt, ob es künftig staatliche Regulierungen wie ein Verbot von Produkten oder finanzielle Maßnahmen wie eine Steuer auf umweltschädliche Medikamente geben sollte, bevorzugen besonders Verbraucher mit einem stark ausgeprägten Umweltbewusstsein staatliche Eingriffe, wie Prof. Tosun erläutert.

Das Projekt „Effect Network in Water Research“ wird im Rahmen des Netzwerks „Wasserforschung Baden-Württemberg“ vom Land über fünf Jahre gefördert. Auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse arbeiten Sozial- und Politikwissenschaftler außerdem an Konzepten zur Steuerung von Konsumentenverhalten und an Vorschlägen für die Umweltgesetzgebung. Eine Reihe von Publikationen sind bereits erschienen. Die Arbeiten haben 2016 begonnen. Mit endgültigen Ergebnissen des Projekts ist Ende 2021 zu rechnen.