Friedrich Heyer: Predigt über 1 Thess 1, 1.4.5; 5, 23.24 am 14. 5. 1978 (Pfingsten) in der Peterskirche Heidelberg

A. Die Kirche – ein Erbe und doch zugleich ein Animator von Erwartung für die Zukunft: dass dies das Thema der Pfingstpredigt sein werde, zeigten die Plakate an. Als Exempelfall dafür möge die Kirche der Hafenstadt Saloniki dienen. Hören wir Ausschnitte aus dem Brief des Paulus an die Kirche der Thessalonicher, dem ältesten Brief, den der Apostel an eine von ihm erweckte Gemeinde gerichtet hat und der nicht wie viele Briefe sonst weggeworfen, sondern als Erbstück weitergegeben wurde, 1 Thess 1, 1.4.5; 5, 23.24:

„Paulus, Silvanus und Timotheus an die Gemeinde der Thessalonicher ...Wir wissen, liebe Brüder, von Gott geliebt, um Eure Erwählung. Unsere Predigt des Evangeliums kam zu Euch ja auch nicht mit bloßem Gerede, sondern in echter Dynamik und im Heiligen Geist und mit absoluter Gewißheit. Ihr seid jetzt alle Söhne des Lichts und Söhne des Tages. … Er aber, der Gott des Friedens, heilige Euch durch und durch und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unversehrt auf die Zukunft unseres Herrn Jesus Christus. Getreu ist, der Euch ruft. Er wird´s auch tun“.

 

Liebe Gemeinde! Nur noch 73 Jahre fehlen, dann erreicht die ererbte Kirche von Saloniki ein Alter von zwei Jahrtausenden. Am Weinstock Christus reiften an diesem Ort viele Reben. Die Kirche dieser griechischen Stadt hat eine Kette von Heiligen hervorgebracht. In den römischen Bädern, heute noch zu besehen, predigte und litt der christliche Legionssoldat, der heilige Demetrius. Es waren Christen dieser Stadt – der hl. Kyrill und Method, die im 9. Jahrhundert zur Slavenmission, zu den Mähren und Bulgaren auszogen, das geeignete Alphabet erfanden und die kirchenslavische Bibelübersetzung schufen, eine Basis für die Missionierung ganz Rußlands. Gregor Palamas hat hier im 14. Jh. der ostkirchlichen Mystik des Hesychasmus seine Gestalt und theologische Rechtfertigung gegeben. Die Christen der Stadt Saloniki finden, wenn sie Jahr um Jahr das Allerheiligenfest aller Heiligen von Saloniki begehen, die Erwählung, von der Paulus gesprochen hatte, bestätigt. Man würde in der deutschen Geschichte kein gleiches kostbares Erbe registrieren können.

 

B I. Worin dies Erbe, das nun schon 2000 Jahre lang tradiert wird, besteht, macht Paulus deutlich: Es ist die Kirche als Hervorbringung des gepredigten Evangeliums. Aber wie mußte jeweils gepredigt werden, damit das Erbe übergebbar war? Paulus betont: „Unsere Predigt des Evangeliums bestand nicht in bloßem Gerede, sondern in voller Dynamik, im Heiligen Geist, in absoluter Gewißheit“. Damit zeigt sich schon, daß dieses Erbstück „Kirche“ anders weiterzugeben war als sonst ein Erbstück. Eine geerbte Porzellanfigur ist einmal fix und fertig aus dem Brennofen gezogen worden, und weil sie so zerbrechlich ist, steht sie möglichst unangerührt im Glasschrank. Kirche vererben, die einmal von der Predigt des Evangeliums erweckt wurde wie die der Thessalonicher, kann aber nur geschehen, wenn nicht bloß mit Worten Inhalte weitergegeben werden, sondern Pfingsten muß sich ereignen: Die Evidenzkraft des Heiligen Geistes muß sich, wenn gepredigt wird, je und je erweisen, die Dynamik des Evangeliums sich auswirken, absolute Gewißheit vermittelt werden. Und das ist so passiert.

Gewiß, Kirche kommt zustande, indem ein Stück Geschichte (die Heilsgeschichte, deren Mitte Christus ist) durch weiterlaufende Geschichte an uns vermittelt wird. Aber in diesem Vorgang bricht das göttliche Pneuma ein – sonst entartet das, was einmal im Geiste gepredigtes Evangelium war, zur Ideologie oder es wird als belastendes Erbe empfunden.

So wird dann auch die geerbte Kirche anderswo gesehen. Als sich 1910 Freireligiöse, Freidenker und Monisten zum „Komitee Konfessionslos“ konstituierten und die erste Kirchenaustrittsbewegung in Deutschland mit einer Versammlungslawine gestartet wurde, argumentierte man: Entledigt euch dieses toten Erbes!

Das Komitee vertrat die Überzeugung, mit der uns Abendländern überkommenen Kirche läßt sich heute nichts mehr anfangen. „Werter Gesinnungsfreund“, schrieb das von einem Dr. Heimerich verfaßte Flugblatt, das in die Briefkästen geworfen wurde, „Sie sind innerlich längst vom Kirchenglauben abgekommen. Sie glauben nicht mehr an den persönlichen, überweltlichen, dreieinigen Gott, von dem die Kirche lehrt, dass er in sechs Tagen Welt und Menschen geschaffen habe, daß er als unser Erlöser von der Jungfrau geboren, zur Hölle niedergefahren sei und daß er als Hl. Geist unter uns wirkte. Dies alles und noch viel mehr steht im Bekenntnis der Kirche, der Sie noch angehören. Dabei befolgen Sie schon lange nicht mehr die kirchlichen Vorschriften und fühlen sich höchstens noch durch den Steuerzettel unliebsam an Ihre Zugehörigkeit erinnert…. Betrachten Sie es nicht als Ihre Pflicht der Ehrlichkeit, einer solchen Gemeinschaft den Rücken zu kehren?“

Wie eine Leiche in der Anatomie aus der chemischen Lauge gezogen wird und die einzelnen Gliedmaßen abgetrennt werden, so ist hier ein totes Erbe in Einzelbestandteile aufgelöst und das einzelne erscheint, glaubenslos rezitiert, völlig sinnlos. Die eigentliche Transmission von Kirche aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart aber geschieht ganz anders, nämlich wenn mit dem sinnvermittelnden Wort, das schon längst gesprochen, aber noch lange nicht verhallt ist, der Heilige Geist spricht.

Es war Mode geworden, hämisch von der „etablierten Kirche“ zu reden. Wir sollten darunter verstehen: vom Heiligen Geist etabliert. Was bloß im kulturmorphologischen Prozeß aus der Vergangenheit auf uns überkommen und gesellschaftlich etabliert ist, ist als solches noch nicht Kirche. Wenn der Geist uns zur Kirche etabliert, kleben wir nicht aus tradierten Einzelsätzen unser Credo zusammen, sondern blitzartig ist uns der ganze Horizont erleuchtet. Wir gewinnen eine ganze Weltinterpretation und werden eines ganzen Heiles gewiß. Denn das Evangelium, im Geist gepredigt und aufgenommen, macht Christus unter uns gegenwärtig, wie er den Kranken die Hände auflegt, die Ungerechten gerecht macht, von niemandem Beachtete, deren es viele gibt, erwählt, die in Finsternis stecken zu Söhnen des kommenden Tages macht. Zu sagen, Kirche sei verpflichtendes Erbe, ist nicht genug. Sie ist Geistausgießung. Wäre sie das nicht, kämen wir nicht auf den Punkt, zu sagen: Hier redet Gott mit mir.

 

II a. Das ist es, was aus vergangener Geschichte als Erbe, vom Geist verlebendigt, an Heilschaffendem zu uns kommt. Eben diesselbe aber verbürgt uns Zukunft, eröffnet uns eine Perspektive auf künftiges Heil. Paulus stellt sich dabei nicht hin, als wäre er der starke Mann, der Magier, der auch über Zukunft verfügen könnte, als könnte er uns so sichern, daß niemand abgleitet. Auch kennt er keine Theorie über einen angeblich inevitablen Ablauf der Geschichte. Der Apostel überläßt hier Gott das Feld, dem Gott des Friedens, der jetzt ruft und in dessen Ruf seine Treue zu erkennen ist. Nur bis zur Fürbitte wagt sich Paulus heran, bis zum Segensgestus: „Euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesus Christus“.

 

Zukunft unseres Herrn Jesus Christus? Gibt es überhaupt andere Zukunft als Christus? Die weltimmanenten Zukunftsvisionen, mit denen man eineinhalb Jahrhunderte lang das Hoffnungsbild der Christen, die künftige Gottesherrschaft, ersetzt hat, verändern sich zu Schreckensbildern. Die Utopien, denen man eine die Gesellschaft führende Funktion zusprach, entlarven sich als Verführer. Nur eine Christusrealisierung bleibt uns als wahre Zukunft angeboten. Die Hoffnungen, die wir uns selbst machten, verdämmern. Die Hoffnung, die uns Gott macht, hält Stich.

Es gibt Signale in unserem jetzigen Leben, die Zukunft zu signalisieren scheinen: hier ein Schmerz in unserem Körper, da ein spürbares Altern, dort ein Mangelphänomen im ausgeplünderten Planeten, hier eine bedrohliche Tendenz zu ethischem Verfall in unserer Gesellschaft, dort ein Atompilz am Horizont. Müßte dies, was sich hier kundtut, als unser Endpunkt gelten, so blieben wir darauf fixiert. Der Heilige Geist muß uns das Charisma und damit die Kraft gewinnen lassen, über die tödlichen Endpunkte buchstäblich „hinwegzusehen“. Nicht, was hier signalisiert wird, wird unsere Zukunft sein. Christi Kreuz und Auferstehung besitzt demgegenüber eine überlegene Zukunftsmächtigkeit.

b. Sobald wir wissen, wo unsere Zukunft liegt, orientieren wir uns ganz darauf. So kann unsere Wegstrecke auf Zukunft hin nur ausgefüllt sein mit unserer Heiligung – wenigstens, wenn es konsequent zugehen soll. Aber wo setzen wir schon diese Konsequenz in unserem Leben durch? Paulus schiebt es dann auch nicht einfach uns zu, daß wir als Heiligungsriesen die nötigen Konsequenzen ziehen sollen. Aber er traut es Gott zu, uns zu dieser Konsequenz zu bringen: „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch“.

Wenn es Gottes Sache ist, Heiligung in unser Leben hereinzubringen, dann ist es gut, daß wir uns in der Nähe des heiligen Gottes aufhalten, vor dem die Dämonen scheuen. Die orthodoxen Mönche auf dem Athos pflegen dann das Jesusgebet fortlaufend zu sprechen: „Jesus, du Sohn Gottes, erbarme Dich über mich Sünder!“. Der Seelenführer, der Starez, übt sein Seelsorgekind ins immerwährende Sprechen dieses Gebetes ein – hundertmal hintereinander, tausendmal, bis es inwendig weiterbetet, selbst während des Schlafens, so daß der Versucher keinen Platz findet, auf dem er landen könnte.

Sicher ist es hilfreich sich von Taufstein, Kanzel und Altar der Kirche, wo zukunftsverbürgende Vergangenheit für uns gegenwärtig wird, nicht zu trennen. Da wird man sich seiner Taufe als sakramentaler Vorbezeichnung für das Leben eines geheiligten Gotteskindes bewußt. Da übt das Wort aus Gottes Munde seine heiligende Kraft an uns aus. Da macht Brot und Wein vom Altar uns Christus konform.

In einem Kloster auf der griechischen Insel Lesbos, in dem ein Schulinternat untergebracht war, erlebte ich, wie der Abt während der Mahlzeiten stets nach wenigen Minuten laut den Christusnamen dazwischenrief: „Christos“ und noch einmal nach wenigen Minuten später: „Christos!“. So wurde mit dem Namen Christus in die Gegenwart hineingeholt. Mögen wir den heiligen Namen in uns immer wiederholen!

Noch gibt es in uns den partiellen Atheismus auch der Christen, von der Sünde dominierte Bereiche. Gott ist aber dabei, durch und durch zu heiligen. Er macht ganze Sache. Paulus sagt: „Er wird’s auch tun“.

 

c. Gewiß, Gott ist es, der Gott des Friedens, der Menschen heiligt und unsträflich auf die Zukunft Christi bewahrt. Er ist Subjekt des Heiligungsgeschehens, er der Initiator. Aber damit ist die Mittelsfunktion von Menschen nicht ausgeschaltet. Mir ist unvergeßlich wie in der Zeit des Heraufkommens der Hitlerideologie in der apologetischen Zentrale des Johannesstifts von Berlin-Spandau der damalige Leiter Künneth die Besucher zu den Stundengottesdiensten in der Kapelle rief und stets die Paulussätze des 1. Thessalonicherbriefes als Segenswort sprach und gleichsam auf die Häupter der Anwesenden legte: „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch. … Getreu ist der euch ruft. Er wird’s auch tun“ In der damaligen Verwirrung der Geister half das zur Orientierung auf Christi Zukunft, weg von der trügerischen Hoffnung aufs tausendjährige Reich. Paulus selbst hatte sich im Fall Saloniki nicht als Person ausgeschaltet. Man könnte sich vorstellen, daß der Apostel in seinem Absteigequartier auf der Athenreise segnend die Hände in die Richtung Saloniki ausstreckte, während er die Schlußworte seines Briefs in die Feder diktierte: „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahret werden auf die Zukunft unseres Herrn Jesus Christus …“. Des Apostels Segen möge auch uns heute erreichen.

 

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Friedrich Heyer: Predigt als Weg in die Zukunft
 

 

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Letzte Änderung: 24.11.2022
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