Rolf Rendtorff: Zum Verhältnis von Christen und Juden

Jürgen Kegler | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

 

Rolf RendtorffRolf Rendtorff (Quelle: Universitätsarchiv)

Rolf Rendtorff:

Geboren am 10. Mai 1925 in Preetz/Schleswig-Holstein, gestorben am 1. April 2014 in Heidelberg

1963-1990 Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät Heidelberg und Prediger im Universitätsgottesdienst

 

Als Rolf Rendtorff im Jahr 1963 als Ordinarius für Altes Testament nach Heidelberg berufen wurde, kam er an eine Fakultät, in der renommierte Theologieprofessoren lehrten: in seinem Fachgebiet Gerhard von Rad, sein Doktorvater, und Claus Westermann, im Neuen Testament Günther Bornkamm, im Fach Kirchengeschichte Heinrich Bornkamm und Hans Freiherr von Campenhausen, in der Systematischen Theologie Edmund Schlink und Peter Brunner und in der Praktischen Theologie der kurze Zeit später zum Landesbischof der Badischen Landeskirche gewählte Hans-Wolfgang Heidland, ferner Wilhelm Hahn, der später Kultusminister in Baden-Württemberg wurde, und Herbert Krimm. Einige von ihnen waren in der Bekennenden Kirche aktiv gewesen, während Rolf Rendtorff durch ein konservatives Elternhaus geprägt war und als Soldat im Krieg in der Marine im Rang eines Leutnants Dienst tat. Es war für ihn eine große Herausforderung, ein eigenständiges Profil zu entwickeln. Er tat dies auf zweifache Weise.

Er trat in die SPD ein – nach eigener Aussage war er damit der einzige sozialdemokratische Professor an der Universität Heidelberg. Dieser politische Schritt hatte große Auswirkungen: Er galt als ein entschiedener Befürworter einer Demokratisierung der Universität und wurde im Jahr 1970 als "Reformrektor" im Senat gegen eine weitgehende konservative Professorenschaft mit Stimmen von studentischen Vertretern, dem Mittelbau und reformwilligen Professoren gewählt. Für Aufsehen in der Öffentlichkeit sorgte sein Entschluss, eine Einladung des Oberbefehlshaber der NATO, des amerikanischen Generals James Polk, mit Hinweis auf die Invasion amerikanischer Truppen aus Vietnam nach Kambodscha und der Tötung von vier Studierenden durch Nationalgardisten im Staat Ohio anlässlich einer Demonstration gegen diese Invasion, abzulehnen. Nach vielen Konflikten mit radikaler werdenden Studentengruppen, konservativen Ordinarien, die ihn mit Dienstaufsichtsbeschwerden überzogen, und Gremienentscheidungen, die Reformen blockierten, trat er 1972 nicht erneut zur Kandidatur um das Rektorat an. 1976 kandidierte er für den Bundestag, erhielt jedoch nicht die erforderliche Mehrheit der Erststimmen für ein Mandat und war nicht über die Landesliste ausreichend abgesichert.

Der zweite, für sein weiteres Wirken wohl noch wichtigere Schritt war ein vielfältiges Engagement für ein neues Verhältnis zu Israel. Auf der politischen Ebene durch die Forderung nach der Einrichtung von Botschaften in Israel und Deutschland (sein geheimer Wunsch, Botschafter in Israel zu werden, erfüllte sich jedoch nicht), auf der theologischen Ebene durch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Juden und Christen. Er initiierte und förderte den Austausch von Wissenschaftlern und das Programm "Studium in Israel" für Theologiestudierenden. Er selbst erlernte Ivrit, und er war nicht nur stolz darauf, dass er einer der wenigen Alttestamentler war, der das heutige Hebräisch sprechen konnte, er hielt auch in Israel Vorträge in Ivrit. Auch bei diesen Engagements musste er mit vielen Widerständen kämpfen, aber es gelang ihm, auf Synodensitzungen Synodale zu sensibilisieren, das Verhältnis von Kirche und Israel neu zu bestimmen und Änderungen in den Grundordnungen vorzunehmen. Von großer Bedeutung war der Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden", da er Vorbild wurde für viele folgende Beschlüsse von Synoden der Gliedkirchen der EKD. Nicht mehr das Trennende wurde betont, sondern das Gemeinsame.

Die Beispielpredigt, die Rolf Rendtorff am 9. November 1988, dem Jahrestag der deutschlandweiten Zerstörung jüdischen Eigentums und jüdischer Gotteshäuser durch organisierte nationalsozialistische Banden, SA und SS in führender Rolle, hielt, spiegelt diese seine Bemühungen um ein neues Verhältnis von Christen und Juden in besonderer Weise. Die Predigt beginnt mit der aufrüttelnden Frage: "Wer hat eigentlich die Synagogen angezündet"? Aber sie lenkt zunächst den Blick in die Geschichte, erzählt eine Episode, die 1500 Jahre zurück liegt. Und in der ein - später als Lehrer der Kirche verehrter - Bischof infame antijüdische Polemik betreibt und sich selbst stolz - gegen die Wahrheit - als Brandstifter bezichtigt. Über Martin Luthers antijüdische Aussagen springt die Predigt dann in die Zeit des Nationalsozialismus, zitiert aus dem Bericht eines SA-Brigadeführers nach Mannheim, der die Zerstörung von 50 Synagogen meldet. Aber es geht dem Prediger nicht um die juristische Frage nach den Tätern, sondern darum zu zeigen, dass eine solch riesige und über einen weiten Raum Südhessens und Nordbadens organisierte Zerstörung nicht ohne die Unterstützung der Bevölkerung geschehen konnte. Der geografische Raum ist dem Predigtort Heidelberg geschuldet, damit soll nicht die deutschlandweite Zerstörung relativiert werden, es soll gleichsam der Blick "vor die Haustür" gelenkt werden. Und so stellt sich die zentrale Frage nach der Mitschuld, der kollektiven Beteiligung an diesen Verbrechen. Die Predigt will aber nicht mit dem Finger auf die Schuldigen zeigen, vielmehr bezieht sich der Prediger auf doppelte Weise mit ein in die Schuldverflechtung. Er schildert seine Erlebnisse als Zuschauer bei Verbrennungen von Büchern und Kultobjekten im Alter von 13 Jahren, ein Alter, in dem er die Tragweite des Geschehens und auch die Bedeutung der zerstörten Objekte für jüdische Gemeinden noch gar nicht erkennen konnte. Und er bezieht seinen Vater mit ein, in dessen Predigt ihm exemplarisch der damals weit verbreiteten theologisch begründete Antijudaismus begegnete. "Nie hat ein Volk in größerer Entscheidungsstunde gestanden als dieses Volk in den Tagen, da Jesus unter ihm lebte. Nie hat ein Volk furchtbarer sich entschieden gegen den ihm angebotenen Gottesfrieden. Nie hat darum auch ein Volk furchtbareres Gottesgericht erlebt." In diesem Geist ist er erzogen worden: Die Zerstörung jüdischen Eigentums (und Lebens) durch Menschen ist ein furchtbares Gottesgericht: Man ahnt, welch ungeheuren Lebensweg der Prediger gegangen sein muss, sich von diesem Geist zu lösen und zum engagierten Fürsprecher einer Neubesinnung des Verhältnisses von Theologie, Kirche und Juden zu werden und zu einer Wertschätzung der jüdischen Frömmigkeit als Wurzel der christlichen zu gelangen.

Die Predigt wird zur Anklage. Anklage an Christen, Kirchenleitungen und Theologen, die den Antijudaismus weiter verbreitet haben und so mitschuldig geworden sind an den Verbrechen an Juden. In dieser Tiefe der Schuld gibt es nur die Möglichkeit, mit den Worten aus der jüdischen Bibel Gott um Vergebung anzuflehen.

Die Predigt warnt dann davor, den 9. November isoliert als Gedenktag zu verstehen. Er steht vielmehr im Zusammenhang einer Entwicklung, die zum Holocaust geführt hat. Vielmehr wird dieser Tag nur dann richtig "begangen", wenn er zu einer Veränderung im Verhältnis zu Israel und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit theologischem Antijudaismus führt. An diesem Punkt wird die Predigt zu einem Programm. Einem Programm für Theologinnen und Theologen, für die Universität und ihre theologische Fakultät, ausgehend von der Frage: Gehört der Antijudaismus zum Grundbestand christlicher Theologie? Muss christlicher Glaube antijüdisch sein? Das wird ja immer noch an theologischen Fakultäten gelehrt! Das Programm klingt dann so: Die Wurzeln des christlichen Antijudaismus aufdecken und an seiner Überwindung arbeiten! Hier wird wie in einem Brennglas das Engagement Rendtorffs für ein neues Miteinander von Juden und Christen, von Kirche und Israel deutlich.

Dieses Engagement hat vielfältige Auswirkungen gehabt, auch und gerade in der neutestamentlichen Wissenschaft, wo sich ein neues Verständnis der Schriften des Apostel Paulus entwickelt hat, das von seinen jüdischen Wurzeln her seine Theologie zu verstehen gelernt hat. Nicht zuletzt zeigt sich Rendtorffs Einfluss und das Engagement der von ihm unterstützten Absolventen des Studienprogramm "Studium in Israel" in der Reform der Perikopenordnung, die verstärkt Texte aus der jüdischen Bibel als Predigttexte vorsieht.

Der Holocaust ist das Ende des Christentums. Dieser Satz von Elie Wiesel führt am Ende noch einmal in eine dramatische Tiefe. Wir alle sollen diesen Satz als Anfrage an uns selbst stellen. "Erst dann sind wir ganz in der Tiefe angelangt". In der Tiefe, von der der Psalm spricht, und aus der der Ruf zu Gott um Vergebung erst glaubwürdig und wahrhaftig wird. Dieser Ruf wird dann zu einer Bitte um die Erneuerung des Glaubens. Geradezu selbstverständlich wird der Psalm des antiken Israel so in unsere Gegenwart geholt und zum Weg von Buße zu Vergebung, von Schulderkenntnis und Bitte um Erneuerung.

 

 

Predigtbeispiel: Predigt über Psalm 130,1-4 am 9. November 1988 in der Peterskirche in Heidelberg


 

LITERATUR

Rolf Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch. Autobiographische Reflexionen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007.

Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Verlag Bonifatius-Druckerei Paderborn / Chr. Kaiser Verlag München,1988 (²1989).

 

 

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Letzte Änderung: 01.07.2022
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