Rolf Rendtorff: Predigt über Psalm 130,1-4 am 9. November 1988 in der Peterskirche in Heidelberg

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. (Psalm 130,1-4)

 

Liebe Gemeinde,

 

Wer hat eigentlich die Synagogen angezündet? Ich möchte dazu eine Geschichte erzählen, eine wahre Geschichte aus der Frühzeit unserer christlichen Kirche. Es geschah vor genau 1500 Jahren, im Jahre 388, dass in einer kleinen Stadt am Euphrat, in Kallinikon, die Synagoge niedergebrannt wurde. Die Täter waren Christen, und der örtliche Bischof hatte sie zu der Tat angestiftet. Kaiser Theodosius war über diesen Rechtsbruch in seinem Reich empört und befahl die Bestrafung der Schuldigen und den Wiederaufbau der Synagoge auf Kosten der Kirche. Da erhielt er einen Brief des Bischofs Ambrosius von Mailand, in dem dieser schrieb: "Ich erkläre, dass ich die Synagoge in Brand gesteckt habe." Und er fuhr fort: "Was soll der Wiederaufbau einer Synagoge: Ort des Unglaubens, Heimstätte der Gottlosigkeit, Schlupfwinkel des Wahnsinns, der von Gott selbst verdammt worden ist." Der Kaiser zögerte mit der Antwort. Da zwang ihn der Bischof öffentlich in der Kathedrale in Mailand, seine Anweisungen zum Wiederaufbau der Synagoge zurückzunehmen und den Tätern Straffreiheit zu gewähren. "Ich habe die Synagoge angezündet." Der große Kirchenlehrer Ambrosius behauptete zwar die Unwahrheit. Aber wie viele Christen haben seither im Brustton der Überzeugung sagen können: Ich habe die Synagoge angezündet! Und sie konnten sich dabei auf eine ganze Reihe von großen Theologen und Lehrern der Kirche berufen, nicht zuletzt auch auf Martin Luther, der im Jahre 1543 in seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" den Christen, und insbesondere der Obrigkeit, seinen "treuen Rat" gab, "dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun, unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien und solch öffentliches Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilliget haben." Auch Luther hat keine Synagogen angezündet, aber er hat mitgeholfen, den Boden dafür zu bereiten, dass andere Christen in Deutschland es getan haben.

Es geht immer wieder die Rede, die Deutschen hätten nichts gewusst, damals, als sich der sogenannte "spontane Volkszorn" erhob, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, und die Synagogen verbrannt und zertrümmert wurden. Aber wer hat denn die Synagogen angezündet? Wir sind dafür nicht auf Vermutungen angewiesen, denn alles wurde exakt registriert und gemeldet. So schrieb der Brigadeführer der SA-Brigade 50 in Darmstadt mit Namen Lucke am 11. November 1938 folgende Meldung an die vorgesetzte SA-Gruppe Kurfalz in Mannheim:

Am 10.11.1938 3 Uhr morgens erreichte mich folgender Befehl:

"Auf Befehl des Gruppenführers sind sofort innerhalb der Brigade 50 sämtliche jüdische Synagogen zu sprengen oder in Brand zu setzen. Nebenhäuser, die von arischer Bevölkerung bewohnt werden, dürfen nicht beschädigt werden. Die Aktion ist in Zivil auszuführen. Meutereien und Plünderungen sind zu unterbinden. Vollzugsmeldung bis 8.30 Uhr an Brigadeführer oder Dienststelle."

Und dann folgt eine lange liste von zerstörten Synagogen in Darmstadt, Bensheim, Heppenheim und an vielen anderen Orten, insgesamt 36 Synagogen allein im Raum südlich von Darmstadt. Wie viele Menschen braucht man, um nachts innerhalb weniger Stunden 36 Synagogen zu zerstören? Wie viele Familien sind durch die nächtliche Aktion aufgeschreckt worden und haben am nächsten Morgen die Berichte der heimgekehrten Helden angehört, die stolz berichten konnten: Ich habe die Synagoge angezündet? Und dies geschah in Deutschland. Viele Tausende von nichtjüdischen deutschen Familien waren unmittelbar in dieses Geschehen mit einbezogen, gar nicht zu reden von den weiteren Tausenden oder eher Hunderttausenden von Schaulustigen, die am nächsten Tag zu den Stätten der Zerstörung pilgerten. Ich war auch einer von ihnen. Ich war damals 13 Jahre alt. Wir fuhren nach der Schule mit unseren Fahrrädern zur Grünen Schanze in Stettin.Viele Menschen waren da versammelt und sahen hinter der Polizeiabsperrung zu, wie der schwarze Qualm aus den Trümmern der großen Synagoge aufstieg.Später fuhren wir zum jüdischen Friedhof, der an unserem Schulweg lag. Dort waren die Brandstifter noch am Werk und trugen alles, was sie im Friedhofsgebäude fanden, heraus und waren es in das Feuer, das davor brannte. Ich erinnere mich besonders deutlich an die großen, weißen Gebetsmäntel, die ich damals zum ersten Mal sah und deren Bedeutung für Juden ich erst viel später kennen und verstehen lernte.

Ich weiß nicht mehr genau, was wir damals gedacht und gesprochen haben. Ich weiß auch nicht, ob und was über diese Ereignisse zu Hause gesprochen wurde und ich kann mich auch nicht erinnern, ob und was wir damals im Kindergottesdienst, im Religionsunterricht, so lange es ihn noch gab, und dann im Konfirmandenunterricht über die Juden gehört haben. Ich möchte aber als ein Beispiel dafür, wie damals gedacht und geredet wurde, einige Sätze aus einer Predigt zum 10. Sonntag nach Trinitatis zitieren, an dem das altkirchliche Evangelium von der Klage Jesu über Jerusalem und seinen bevorstehen Untergang handelt. Da heißt es:

Das jüdische Volk ist hochbegabt wie wenige Völker der Geschichte. Es ist reich begnadet durch eine einzigartige Geschichte der Gottessehnsucht und des Glaubens. Aber in seiner großen Stunde der Entscheidung hat es sich falsch entschieden. Als Jesus in der Vollmacht Gottes zu ihm kam, hat es ihn verworfen und an das Kreuz geschlagen. In seiner Seele und um seine Seele kämpften letzte Gewalten einen furchtbaren Entscheidungskampf. Die widergöttlichen Kräfte waren stärker. Nie ist ein Volk Gott so nahe gewesen, wie das jüdische Volk. Nie hat ein Volk in größerer Entscheidungsstunde gestanden als dieses Volk in den Tagen, da Jesus unter ihm lebte. Nie hat ein Volk furchtbarer sich entschieden gegen den ihm angebotenen Gottesfrieden. Nie hat darum auch ein Volk furchtbareres Gottesgericht erlebt.

Das Gottesgericht über das jüdische Volk, hier, in der Zerstörung seiner Synagogen, war es nun wieder mit Händen zu greifen. Es wird immer wieder gefragt, warum die Kirchen geschwiegen haben, damals als die Synagogen brannten. Was hätten sie denn sagen sollen? Sie hatten doch nie etwas anderes gelehrt, als dass Gott die Juden gestraft hätte, nun schon seit bald zweitausend Jahren. Deshalb hatten sie ja auch nur eben dies sagen können, und viele haben es wohl auch gesagt, dass hier wieder einmal das Gericht, das leider nicht unverdiente Gericht Gottes über dem jüdischen Volk sichtbar wurde.

Die Predigt, aus der ich zitiert habe, stammt von meinem Vater, gehalten im Sommer 1934 in der Wartburgkirche in Stettin. Viele haben damals so gedacht und gepredigt, und auch nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes wurden immer noch die gleichen theologischen Ideen vertreten, so wenn der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahre 1948 in einem "Wort zur Judenfrage" erklärte:

Daß Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals...

Aber war es denn wirklich Gott, der das jüdische Volk immer wieder strafte? Waren es nicht Menschen, immer wieder Menschen, und später vor allem Christen, immer wieder Christen, die ihre Aggressionen an den Juden ausließen. Nicht Gott hat die Synagogen angezündet, und er hat es auch niemandem befohlen. Es waren Christen, die sie angezündet haben, und es waren hochrangige Bischöfe, Kirchenlehrer und Reformatoren, die sie dazu ermutigt haben. Nicht Gott hat die Juden verfolgt, gequält, massakriert und schließlich in die Gaskammern geschickt. Menschen waren es, und meistens getaufte Christen, die "zur Ehre Gottes und seines Sohnes, unseres Herrn und Heilands Jesus Christus", ihre Mordgelüste an den wehrlosen Juden austobten. Es ist uns nicht erlaubt und es gibt auch keine Möglichkeit für uns, die Verantwortung dafür wegzuschieben, weg von den Christen und weg von den Deutschen. Diese Verbrechen sind "im deutschen Namen durch Deutsche" verübt worden, wie Richard von Weizsäcker es kürzlich präzise formuliert hat. Und es hat in der deutschen Bevölkerung keinen erkennbaren Widerstand dagegen gegeben, wohl aber Zustimmung und Mitmachen auf breiter Front.

Tiefer konnte ein Volk und eine Kirche gar nicht fallen. Wenn wir uns nun an diesem Tage zu einem gemeinsamen Gottesdienst versammeln, dann rufen wir aus dieser Tiefe heraus Gott an, wie es unser Psalmwort sagt. Wir wissen, dass wir nicht bestehen können, wenn Gott die Sünden anrechnet, die eigenen und die der Väter und Mütter, bis ins dritte und vierte Glied. Und darum wollen wir uns ohne Ausflüchte in diese Geschichte hineinstellen, wir, die wir damals schon geboren waren, auch wenn wir noch nicht mitwirken konnten, und die, die damals noch nicht geboren waren. Es ist unsere Geschichte, aus der wir nicht ausbrechen können und nicht ausbrechen wollen. Dieses Sich-Hineinstellen ist kein heroischer Akt, sondern es geschieht in der Gewissheit: "Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte."

Und weil dies unsere Geschichte ist, dürfen wir den 9. November 1938 auch nicht als ein isoliertes Ereignis betrachten. Er war der erste Höhepunkt in einer Entwicklung, die lange vorher begonnen hatte und im Jahr 1933 manifest geworden war. Unsere Universität hat im Jahr 1983 öffentlich und in aller Form – durch eine Ausstellung und eine Buchveröffentlichung – in Erinnerung gerufen, dass nur ein paar Schritte von dieser Kirche entfernt am 17. Mai 1933 Scheiterhaufen errichtet wurden, auf denen einige tausend Heidelberg Studenten und Bürger unter "begeisterter Anteilnahme der Heidelberger Bevölkerung", wie es damals heißt, "jüdisch-zersetzende, marxistisch-bolschewistische und gemein-frivole Schriften" verbrannten, um damit den "undeutschen Geist" auszurotten. Und in den Jahren 1933 bis 1935 wurden 51 Heidelberger Hochschullehrer aus rassischen oder politischen Gründen aus ihren Ämtern entfernt, das waren nicht weniger als 35% der damaligen Hochschullehrerschaft. Leider ist dies in der offiziellen Festschrift zum 600jährigen Jubiläum der Universität nicht im einzelnen dokumentiert worden; deshalb wollen wir es heute hier in unsere Besinnung mit einbeziehen.

Die Verbrennung der Synagogen und die Zerstörung der jüdischen Geschäfte am 9. und 10. November 1938 waren dann weitere Schritte auf dem Weg, der schließlich zum Holocaust, zur Schoah führte. Es könnte leicht geschehen, dass wir der Einsicht in diese Zusammenhänge ausweichen, wenn wir den 9. November 1938 von seinem Kontext isolieren, weil wir dadurch der Mehrheit der Deutschen und der Mehrheit der Christen in Deutschland die Rolle der Zuschauer zuweisen. Sie waren aber längst unlösbar hinein verstrickt in die nationalistische und rassistische Ideologie, und viele von ihnen auch nicht erst seit 1933. Dass der 9. November für uns kein "Feiertag" sein kann, ist offenkundig. Aber es genügt auch nicht, wenn er ein "Gedenktag" ist. Das könnte allzu leicht an Gedenktage an Tote erinnern, denen man noch einmal einige Gedanken und Worte widmet, die aber in unserer Realität nicht mehr vorkommen. Eine Erinnerung an die Kristallnacht mit ihrem ganzen Kontext ist für uns aber nur sinnvoll, ja ich möchte sagen, ist uns nur erlaubt, wenn sie ernsthaft mir unserer heutigen und mit unserer morgigen Wirklichkeit zu tun hat.

"Wirklichkeit" in diesem Sinne ist auch unser theologisches Denken. Was ist denn aus dem christlichen Antijudaismus geworden, wie er durch Ambrosius und andere große Theologen der Alten Kirche, wie z.B. Chrysostomos und Augustin, geprägt und dann weiter tradiert worden ist, über Luther und Schleiermacher und Harnack bis hin zu Emanuel Hirsch und Rudolf Bultmann. Welche Rolle hat dieser christliche Antijudaismus bei der Entstehung des modernen Antisemitismus gespielt? Vor allem aber: Welche Rolle spielt er heute? Gehört er zum Grundbestand christlicher Theologie? Muss christlicher Glaube antijüdisch sein, wie es auch heute immer noch an vielen theologischen Fakultäten gelehrt wird?

Liebe Freunde, ich bin davon überzeugt, dass darin heute eine ganz große Verantwortung für unsere theologischen Fakultäten liegt, die Wurzeln des christlichen Antijudaismus aufzudecken und intensiv an seiner Überwindung zu arbeiten. Nach der Zerstörung der Synagogen durch Christen, und vor allem nach Auschwitz sind wir es auch unseren Kirchen und Gemeinden schuldig, ihnen zu einem neuen Verständnis dieser Fragen zu helfen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn sie rührt an die Fundamente der christlich-theologischen Tradition. Es geht dabei, wie es einmal ein bekannter Theologie und Kirchenmann ausgedrückt hat, um die "Profilierung des eigenen christlichen Glaubens", und deshalb meinte er, wie viele andere mit ihm, dass der christliche Antijudaismus theologisch unverzichtbar sei, weil das Christentum gegen das Judentum sein Profil gewonnen hat.

Aber widerspricht es nicht dem Wesen des Evangeliums, wenn das Christentum sein Selbstverständnis auf einem "anti-" aufbaut? Und was bedeutet es für dieses Selbstverständnis, wenn nun sichtbar geworden ist, dass dieses "anti-" mitursächlich war für den modernen Antisemitismus und damit letztlich für die Schoah? Das muss doch Auswirkungen auf die Theologie und auf das Selbstverständnis der Kirche haben. Wie können doch nicht so tun, als sei nicht geschehen, und weitermachen wie gehabt? Die Frage ist uns gestellt, ob wir es wollen oder nicht. Wir können den Kopf in den Sand stecken oder uns in den Elfenbeinturm irgendeiner Theologie zurückziehen, die Frage bleibt bestehen und sie bleibt uns gestellt.

Und darin entscheidet sich für uns als Theologen und als Christen ganz wesentlich, welchen Bezug das Gedenken an den 9. November 1938 zu unserer gegenwärtigen Wirklichkeit hat. Wir können dieses Tages gar nicht gedenken, ohne damit zugleich die Unabweisbarkeit der Aufgabe zu erkennen und zu bejahen, die christliche Theologie und Verkündigung im Licht, im scharfen Licht dieses Tages zu überprüfen und neu zu durchdenken.

Kürzlich las ich einen Bericht über ein jüdisch-christliches Kolloquium aus Anlass des sechzigsten Geburtstags von Elie Wiesel. Dabei wurde die Frage gestellt: Bedeutet der Holocaust das Ende des Judentums? Die Antwort hieß: Nein, aber das Ende des Christentums. Erst wenn wir bereit sind, uns dieser Antwort auszusetzen, haben wir uns der Anfrage dieses 9. Novembers an uns als Christen wirklich gestellt. Erst dann sind wir ganz in der Tiefe angelangt, aus der heraus wir rufen und Gott bitten können, uns zu einem neuen Anfang zu verhelfen. Denn nur das kann die Vergebung bedeuten, von der unser Psalm spricht: dass wir anders aus der Tiefe herauskommen, in die uns unsere Sünde, die jahrtausendealte christliche Sünde der Judenfeindschaft, geführt hat, dass wir unsere Sünde bekennen und dadurch erkennen, was heute unser Aufgabe ist. Das alte Christentum, das den Weg nach Auschwitz mit bereitet hat, ist in der Tat am Ende. Aber wir wollen Gott darum bitten, dass er uns zu einer Erneuerung unseres christlichen Glaubens hilft und dass er uns die Einsicht und die Kraft gibt, an unserem Teile dabei mitzuwirken.

 

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Rolf Rendtorff: Zum Verhältnis von Christen und Juden

 

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Letzte Änderung: 01.07.2022
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