Walter Eisinger: Predigt über „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ am 23. Mai 1982 (Exaudi) in der Peterskirche Heidelberg

Liebe Universitätsgemeinde!

 

Fünf Sinne haben wir, haltet sie beieinander! Denn „des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen“. Und dass es zum riesigen Segen Gottes gehört, „dass unsre Sinnen wir noch brauchen können, und Händ‘ und Füße, Zung‘ und Lippen regen“: Das bezeugt der fromme Sänger, der heute unser Herz ausgehen lassen will. Wenn das Herz Ausgang hat, wenn es endlich aufhört, sich mit sich selbst zu beschäftigen, wenn der Sinn für die Sinne (Jeanne Hersch) erwacht, dann bekommen wir in dieser lieben Sommerzeit zu tun: Wir akademischen Stuhl- und Lehrstuhlsitzer und Nesthocker nehmen den Weg unter die Füße und spüren in Knochen, an Muskeln und Sohlen, dass wir noch laufen können. Bleib‘ mit geschlossenen Augen am Philosophenweg stehen, und dein Geruchssinn signalisiert dir den schweren Duft der Kirsch- und Pfirsichblüten und das betörende Aroma der Rosen. Wer es fertigbringt, nicht mehr nur in sich hineinzuhorchen, sondern sein Gehör (wozu es auch erschaffen ist) nach außen zu richten, der nimmt es ganz deutlich wahr, auch 329 Jahre nach Paul Gerhardt: „Die Bächlein rauschen in dem Sand und malen sich an ihren Rand mit schattenreichen Myrten; die Wiesen liegen hart dabei und klingen ganz vom Lustgeschrei der Schaf und ihrer Hirten.“ Er kann auch die „hochbegabte Nachtigall“ singen und „die unverdrossne Bienenschar“ summen hören. Wer zu lauschen vermag, der hat das alles einfach bleibend im Ohr. Wer in der überall nahegelegenen Dorfschenke einkehrt, der lernt sogar, dass unsere Zunge noch anders kann als reden: „Des süßen Weinstocks starker Saft bringt täglich neue Stärk‘ und Kraft in seinem schwachen Reise.“ Und dann unsere Augen, diese so sensibel regierenden Sinneswerkzeuge: Sie melden uns das Leuchten von Narzissus und Tulipan, von Gartenzier und Gartenschmuck.

 

Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben.

 

Gott denken ist gut und schön. Gott danken für das Erwecken unserer Sinne ist der Anfang der Freude am Leben, am Schöpfer, an den näheren und ferneren Geschöpfen, an uns selbst. „Geh aus, mein Herz“: Ich will außer mir sein, will mich selbst vergessen, will existieren. Ich will „schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist“ (Ps 34,9). Wie herrlich ist das: Schauen, sehen, wahrnehmen, gucken, die Augen aufreißen: „Trink‘ o Auge, was die Wimper hält ǀ von dem gold’nen Überfluss der Welt“ (Gottfried Keller). Wirklich hinschauen, jetzt, in diesem Frühling, macht trunken und schwindlig. Wie wunderbar ist das: Hören, lauschen, die Ohren spitzen, spüren, tasten, riechen, tief durch die Nase einatmen, schmecken, kosten, mit der Zunge genießen. Nimm wahr nicht nur, was du denkst, nimm wahr, was und wen du siehst, was du schmeckst und fühlst. Koste es aus. Trag dein Herz auf der Zunge, lass es ausgehen, aus sich herausgehen, verlier es in und an Heidelberg, schütte dein Herz aus, verlier es an all das Schöne und an den, der alles geschaffen hat: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud.“ Du musst nicht weit gehen, um zu finden, was dich erfreut, mein Herz! Nimm deine Helfer, die Sinne, und öffne dich mit ihrer Hilfe! Wer Augen und Ohren aufmacht und seine Fühler ausstreckt, bekommt ein Sensorium für das Erfreuliche in dieser Welt und dafür, wie wunderbar die Welt sein kann und könnte.

Unsereins ist ja nicht mehr gewohnt, die Welt aus erster, nämlich aus Schöpferhand anzunehmen und kennenzulernen: Sie war und ist sehr gut. Wir blicken durch Kameralinsen, erfahren, was uns nötig und möglich zu erfahren scheint, durch Medien, also durch die, die sie machen. Wer die Freitagsbeilage der FAZ „Natur und Wissenschaft“ gelesen hat, weiß sich informiert. Wie wenig aber ist das: informiert sein! „Geh aus, mein Herz!“ Da müssen wir uns schon selbst und ganz bewegen. Die Augen schärfen, die Ohren spitzen, die Zunge regen, den Geruchssinn ausbilden, es in den Fingerspitzen haben oder bekommen: Darauf kommt es an. Was Gott tut, erfährt der Wache, der Aufgewachte, der Aufgeweckte. Möchte das doch rückgängig gemacht werden, was Erich Kästner den Erstklässlern an ihrem ersten Schultage sagen muss: Aufgeweckt wart ihr bis gestern, eingeweckt werdet ihr ab morgen. Über die Familie der Waldtiere, Abteilung Rotwild, kannst du dich informieren. Den schnellen Hirsch und das leichte Reh, die aus ihrer Höh‘ ins tiefe Gras gesprungen kommen, lernst du erst kennen, wenn du sehr früh aufstehst, durchs feuchte Gras trabst und deine Augen ans Dämmerlicht gewöhnst. Es ist jetzt Mai geworden, ein wunderbarer sogar; „geh aus, mein Herz“; „des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen“. Lebe nicht aus zweiter, sondern aus erster, aus Schöpferhand! Lass dich in die Nähe des Schöpfers hinausziehen und in die unmittelbare Nähe seiner Kreaturen. Dann verstehst du auch, was Luther im Katechismus meint: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.“ Wer diesen Satz nachbuchstabieren lernt, der begegnet dem schnellen Hirsch, dem leichten Reh, den Narzissen und den Tulpen anders, neu, dankbar.

Ich verstehe den Einwand: Das ist aber eine arg heile Welt. Wie reimen sich das Lied von der hochbegabten Nachtigall und das böse Lied der Waffen auf den Falklandinseln? Wie passen die Arbeitslosigkeit und die unverdrossne, fleißige Bienenschar zusammen? Was soll der Weizen, über den sie in der siebten Strophe unseres Liedes jauchzen, wenn ein großer Teil der Menschen ihn nicht hat? Ist der liebe Paul Gerhardt nicht ein wenig ahnungslos? Lasst uns unsere Sinnen schärfen für das Leid in der Welt!, wird uns entgegengehalten.

Ich gebe zu bedenken: Der Dichter hat sich auf’s Leiden und auf’s Leid der Welt wahrhaftig verstanden. 1653, fünf Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, hat er in die äußere und innere Zerstörung hineingerufen: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud!“ Das ist kein romantischer Bruder Lustig oder Lieber Augustin, sondern ein Kenner des Unglücks, von dem die Welt betroffen ist. Freude suchen in einer Welt, in der die Menschen Lust und Freude am Leben verloren haben oder verlieren, das ist seine Bitte. Nicht sich dem Klagen allein überlassen, nicht den dunklen Gedanken der Seele, sondern: den Ausgang suchen. Die arme Erde und der gnadenreiche Schöpfer, für ihn gehören sie zusammen; es gehört zusammen, wie Gott es „so lieblich gehen lässt auf dieser armen Erden“ (Strophe 9). Paul Gerhardt hat seinem Sohn ein Vermächtnis mit dem folgenden Satz hinterlassen:

„Nachdem ich nunmehr das 70. Jahr meines Alters erreichte, auch dabei die fröhliche Hoffnung habe, dass mein lieber frommer Gott mich in Kurzem aus dieser Welt erlösen und in ein besseres Leben führen werde als ich bisher auf Erden gehabt habe, so danke ich ihm zuvörderst für alle seine Güte und Treue, die er mir von meiner Mutter Leibe an bis auf die jetzige Stunde an Leib und Seele und an allem was er mir gegeben, erwiesen hat“.

Er hofft inständig auf ein besseres Leben, und zugleich dankt er für jeden Tag seines Lebens. Angesichts seines Leidens dankt er für Gottes Güte und Treue, weil seine Sinne geweckt und geschärft waren, sensibilisiert für die Menschenfreundlichkeit des Schöpfers. Er hat die Botschaft des Schöpfers mit wachen Sinnen im Buch der Natur zu lesen verstanden. Nein, er hat nicht am Leid vorbeigeschaut, aber auch nicht an der Freude, die mir und dir gilt. So wird alles zum Bild:

 

Ach, denk ich, bist du hier so schön
und lässt du’s uns so lieblich gehn
auf dieser armen Erden
was will doch wohl nach dieser Welt
dort in dem reichen Himmelszelt
und güldnen Schlosse werden!

 

Die Erfahrung der Freude und die Hoffnung findet die schönsten Bilder für Gottes zukünftiges Reich und das Leben darin. Kein Gedanke an eine Vertröstung im Jenseits für die, die hier zu leiden hatten; so borniert ist das Weltbild dieser Frommen nie gewesen. Wenn es hier schon, bei allem Widerwärtigen, was wir hier erleben müssen, hier überall so herrlich ist, wie wird es erst dann werden! Nun will er für Gott blühen wie dir Blumen, nun bittet er: „Mach in mir deinem Geiste Raum!“

Das Paradies: Nun leuchtet es aus der tiefen Vergangenheit her und von der Zukunft in die Gegenwart herein, alle Natur ist ein kleines, aber sicheres Abbild. „Erwähle mich zum Paradeis!“ Ich freue mich darauf. Der einzige Kirchenchoral, der später die Kirchenmauern hinter sich gelassen hat und in „Des Knaben Wunderhorn“ unserer Heidelberger Großgermanisten Einzug halten durfte und zum Volkslied, zum Lied für das Volk wurde, wir können es verstehen.

Einige unter uns haben in den letzten Tagen gefastet, haben das Wort vom Auszug aus Ägypten gehört und sich die Sinne schärfen lassen für den krassen Gegensatz zwischen Gottes fröhlicher, menschenfreundlicher Schöpfung und dem zerstörerischen Tun der Menschen-Geschöpfe. Fasten heißt Festhalten, haben sie sich gesagt, und auf dieses Festhalten kommt es an: das Festhalten daran, dass Gott seine Schöpfung uns zur Freude und zum Leben bestimmt hat und sie für uns immer wieder neu zum Paradiese werden lassen will.

Wir bitten Gott, er wolle seinem Geiste in uns Raum geben, Wohnrecht: dem Geist von Golgatha, von Ostern und Pfingsten, dem Geist Jesu Christi. Sein Geist erweckt unsere Sinne für das, was unter Menschen möglich und nötig ist. Sein Geist ist der Geist des Friedens zwischen Gott und den Menschen, zwischen uns untereinander und zwischen uns und der Schöpfung.

 

Erwähle mich zum Paradeis
und lass mich bis zur letzten Reis‘
an Leib und Seele grünen.
So will ich dir und deiner Ehr
allein und sonsten keinem mehr
hier und dort ewig dienen.
Genieße, was dir Gott beschieden,
entbehre froh, was du nicht hast!

 

Ich wünsche Euch allen einen fröhlichen und mutigen Ausgang in das schon sichtbare und in das noch unsichtbare, aber erhoffte, erwünschte, ersehnte und erbetene Paradies! Amen.

 

(Veröffentlicht in: Walther Eisinger, „... und fällt deswegen auch in Gottes Sprache“. Beiträge zu Johann Peter Hebel, Philipp Melanchthon, zu Homiletik und Religionspädagogik sowie ausgewählte Predigten, hg. v. Johann Anselm Steiger u. Hans-Georg Ulrichs. Mit einer Werkbibliographie v. Arthur Hermann, Heidelberg 2001, 325-330)

 

 

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Letzte Änderung: 01.07.2022
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