Christian Möller: Predigt über Mk 4,24-29 im Universitätsgottesdienst in der Heidelberger Peterskirche am 7. Februar 1999.

Und er sprach zu ihnen: Seht zu was ihr hört! Mit welchem Maß Ihr meßt, wird man euch wieder messen, und man wird euch noch dazugeben.

Denn wer da hat, dem wird gegeben; und wer nicht hat, dem wird man auch das nehmen, was er hat.

Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin, denn die Ernte ist da.“

Liebe Gemeinde,

„seht zu, was Ihr hört“. Ihr sollt heute nicht nur hören, daß das Reich Gottes mitten unter uns, ja inwendig in Euch ist, sondern Ihr sollt auch gleichnishaft zu sehen bekommen, wie das ist, wenn Gottes Reich auf verborgene Weise in Euch zu arbeiten beginnt und Ihr dabei Teil von Gottes Reich werdet. Und das soll Euch dazu helfen, daß Ihr Euch in einem neuen Licht sehen könnt.

Seht zu, was Ihr hört. Ihr sollt heute nicht nur vom Apostel Paulus zu hören bekommen, daß Gott auch vollenden wird, was er in Euch angefangen hat, sondern Ihr sollt es auch zu sehen bekommen, wie das ist, wenn eine Saat von selbst heranwächst und Frucht gedeiht, so daß auch Ernte mit der Sichel eingebracht werden kann.

Seht zu, was Ihr hört. Ihr sollt heute nicht nur hören, daß es der Herr seinen Freunden im Schlaf gibt, sondern sollt es auch zu sehen bekommen, wie das ist, wenn einer sich den Schlaf gönnen kann, weil er weiß, daß Himmel und Erde für ihn an der Arbeit sind. Wenn doch die Workaholics unter ihnen ebenso wie die Faulpelze heute erkennten, wie aus arbeitswütiger ebenso wie aus träger Routine im Reich Gottes erfülltes, fruchtbares Leben wird!

I. Zunächst aber werden wir von Jesus bei einer alltäglichen Erfahrung abgeholt: „Mit welchem Maß ihr meßt, wird man euch wieder messen.“ Das ist ein alltäglicher Lebensvorgang: Eltern messen ihre Kinder, ob sie wachsen und eines Tages gute Zensuren nach Hause bringen. Kinder messen aber auch ihre Eltern, ob sie gerecht sind und ihnen Vorbild für ihr Leben sein können. Dozenten messen ihre Studenten, ob sie zum Studium tauglich sind und für die Prüfungen genug gelernt haben. Studenten messen aber auch ihre Dozenten, ob sie etwas zu sagen haben und ihnen etwas beibringen können. Gemeinden messen ihre Pfarrer, ob sie selbst zu leben versuchen, was sie predigen und Pfarrer messen ihre Gemeinden, ob sie beherzigen und in die Tat umsetzen, was ihnen gepredigt wird. Geschäftsleute messen sich gegenseitig, wie erfolgreich sie sind, und wie sie sich gegenseitig unterbieten können. Politiker messen sich daran, ob sie ankommen und gewählt werden. Vor allem messen wir uns selbst, ob wir dem Leben gewachsen sind und den Anforderungen, die an uns gestellt werden oder die wir an uns selbst stellen. Das Messen ist ein alltäglicher Lebensvorgang., denn ein maßloses Leben hält keiner von uns aus.

Die Frage ist nur, mit welchem Maß wir messen. Beliebt ist das Messen nach unten, um einen anderen klein zu machen: „Der kocht doch auch nur mit Wasser!“ Bekannt ist das Maß: „Wie du mir, so ich dir!“ Schwer zu durchschauen ist das Maß einer bigotten Demut: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden!“ Schrecklich ist das Maß der Ungeduld, mit dem einer sich selbst und seine Umwelt unter Druck setzt: „Wenn das nicht endlich so wird, wie ich will, dann fahre ich aus der Haut!“

Es ist nicht gleichgültig, mit welchem Maß ich messe. Deshalb steckt in Jesu Wort eine unüberhörbare Warnung: „Mit welchem Maß ihr meßt, mit dem wird man euch wieder messen.“ Ich kann viel verlieren, wenn ich einen anderen Menschen nach unten messe und ihn dabei klein mache. Dabei verliere ich selbst am allermeisten, während ich umgekehrt viel gewinne, wenn ich einen anderen Menschen groß machen kann und dann von seiner Größe zehren darf.

Schrecklich ist, wenn einer etwa am Ende eines Semesters Zwischenbilanz hält und zu dem Ergebnis kommt: Eigentlich geht das Leben an mir vorbei; eigentlich bin ich eher ein Versager. Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich mit meinem Leben will. Und diese Ratlosigkeit bedrängt ihn, und er weiß nicht mehr, was er machen soll und woran er sein Leben messen soll.

Am allerschrecklichsten aber ist dran, wer sich satt und selbstzufrieden zurücklehnt, weil ihm die Erfolge nur so zufliegen, so daß er die Ernte eines Semesters in seine Scheuern gut einbringen kann, darin aber jenem reichen Kornbauern in Jesu Gleichnis ähnelt, von dem es am Ende heißt: „Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern und was hast du, daß du dann zu geben hast über deine Scheine und deine Bücher hinaus?

Was also ist das Maß, mit dem ich mein Leben und das Leben anderer Menschen messen darf, ohne daß ich andere mit diesem Maß bedränge, aber auch selbst nicht an diesem Maß zugrundegehe?

 

II. Seht zu, was für ein Maß Ihr für Euer Leben bekommt, wenn Euch Jesus das Reich Gottes gleichnishaft vor Augen malt:

„Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht, wie.“

Heilsam läßt uns dieses Gleichnis von uns selbst wegblicken auf einen Menschen, der auf sein Land hinausgeht und Samen in die Erde streut. Und dann, wenn er seine Arbeit getan hat, geht er nach Hause, legt sich schlafen, steht wieder auf und geht seinem Tagwerk in Gleichförmigkeit und Ruhe nach. So kann er das Tag um Tag, Nacht um Nacht tun, denn er hat Zeit, weil er sich auf die Arbeit der Erde verlassen kann. Wer Zeit noch nicht gesehen hat, der kann sie in Jesu Gleichnis regelrecht hören und sehen wie die Erde Frucht bringt, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Das braucht Zeit, und das läßt dem Bauern Zeit, in Ruhe seinem Tagwerk nachzugehen, sich aber auch nachts den Schlaf zu gönnen. Töricht wäre er, wenn er jeden Tag hinausgehen wollte, um zu sehen, wie weit es mit seiner Saat steht, oder vielleicht sogar einzelne Hälmchen zu ziehen, um ihre Größe zu messen. Auf diese Weise würde er nur kaputt machen, was von selbst heranwächst, automatisch.

Bis in die Sprache seines Gleichnisses hinein läßt Jesus die Gehetzten und sich selbst oder gegenseitig Bedrängenden an dem Zeitgewinn teilhaben, den ein Mensch hat, der sich auf die Arbeit der Erde verläßt. Das ist eben ist die Zeit des Reiches Gottes, die die Gehetzten und Bedrängten in Jesu näher gewinnen, die auf sein Wort hören und dieses Wort wie eine gute Saat in ihre Seele eindringen lassen. Ist nicht dieses kurze, kleine Gleichnis Jesu so etwas wie ein Samenkorn, in welchem sich Jesus selbst austeilt und aussät? Wer sich dieser Saat öffnet bis in seine Seele hinein, der ist zum Boden geworden, um von selbst Frucht zu bringen zu seiner Zeit. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt so bleibt’s allein. Wenn es aber stirbt, so bringt es viel Frucht.“ Dieses Wort des johannäischen Jesus wird nun geradezu zum Kommentar für sein Gleichnis von der selbstwachsenden Saat.

In seinem Wort dringt Jesus so in seine Hörer ein, daß er sie zum Boden von Gottes Reich macht. Darin beginnt er zu wirken - von selbst - automatae. Das ist das Evangelium, das sich keiner von uns selber sagen kann, weil es auf einem Sterben beruht, das keiner von uns vollbracht hat.

Das ist auch das neue Maß, an dem und mit dem wir uns einander messen dürfen: Du bist durch Jesu Wort gewürdigt, Teil von Gottes Reich zu werden und Frucht zu bringen zu Gottes Ehre. Jesu Wort dringt wie ein Samenkorn in Dich ein, um Frucht in Dir zu bringen - und das von selbst, automatisch.

Wer will jetzt noch von sich behaupten, daß er ein Habenichts wäre, der am Ende des Semesters nichts vorzuweisen hätte. Vielleicht hast Du immer noch den falschen Maßstab, mit dem Du Dich hoffnungslos über- oder unterschätzt. Dabei bist Du doch nicht zum Erfolg verdammt, sondern durch die Saat des Reiches Gottes zur Frucht gewürdigt.

Klar, nun müssen immer noch die Predigtarbeiten geschrieben werden, die Prüfungen vorbereitet werden, die Vorhaben für das Forschungssemester erledigt werden, die Steuererklärungen ausgefüllt werden. Aber das alles ist im Licht von Jesu Gleichnis nun Vorletztes geworden. Der letzte Maßstab, den ich Euch heute in Jesu Namen mitgebe, der lautet: Wer da hat, dem wird gegeben. Euch aber, die ihr hört, wird hinzugegeben, nämlich jenes Samenkorn, das er selbst ist und das sich in der Kraft seines Wortes bei uns einlegt und Frucht in uns bringen will - unabhängig von unseren Leistungen. Es hat in sich selbst seine eigene Kraft - und das von selbst.

 

III. Wer das nicht fassen kann, wie sich Jesus in seinem Gleichnis als Saat des Reiches Gottes in uns austeilt und für uns zum Samenkorn wird, der mag es gleich noch besser im Abendmahl fassen. Das Abendmahl gibt uns ja nichts anderes als das, was uns Jesu Wort geben will, nämlich ihn selbst. Es gibt uns Jesus nur anders, nämlich so, daß wir ihn sehen und schmecken können in, mit und unter einem kleinen Stück Brot und einem kleinen Schluck Wein, gefaßt in Jesu testamentarische Zusage: „Das ist mein Leib, für dich gegeben, das ist mein Blut, für dich zur Vergebung vergossen.“ Wie könnte Jesus noch anschaulicher machen, daß er das Samenkorn, das sich bei uns einlegt und in uns Frucht bringen will?

Und doch füge ich in Jesu Namen noch eine Bitte zum Schluß hinzu, die wichtig für die Feier des Abendmahls und ebenso wichtig zum Weitermeditieren der gehörten Predigt ist: Mach’ Dich jetzt nicht selbst und macht Euch nicht gegenseitig zu einer Art Fruchtpresse, indem Ihr ungeduldig danach schaut, wann und auf welche Weise endlich die Frucht zu sehen sei, die er in uns eingelegt und von selbst zur Reife bringen will. Meine Bitte ist vielmehr: Laßt Euch selbst und laßt Euch gegenseitig Zeit, soviel Zeit, wie uns Jesu Gleichnis schenkt. Es gibt Frühjahrssaat, die bald ihre Hälmchen zeigt. Und es gibt Herbstsaat, über die der Winter hinweggeht, so daß Ihr lange nichts seht. Und doch bricht dann im Frühling überraschend ein Hälmchen und noch ein Hälmchen und dann immer mehr hervor.

Wie sagt doch der johannäische Jesus: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu gesetzt, daß ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe.“ Dann kann auf unserer Seite die Bitte nur so lauten, wie sie Paul Gerhardt in seinem berühmten Weihnachtslied: „Ich steh an deiner Krippen hier“ so in der letzten Strophe verdichtet hat: „Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland nicht versagen: daß ich dich möge für und für in, bei und an mir trage. So laß mich doch dein Kripplein sein; Komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Amen

 

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Christian Möller: Von der Sorge um die eigene Seele - seelsorglich Predigen
 

 

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Letzte Änderung: 24.06.2019
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