Günther Bornkamm: Predigt über Joh 2, 1-11 („Das Zeichen von Kana“) am 14. Januar 1973 (2. Sonntag nach Epiphanias)

„Und am dritten Tage war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen. Und da es an Wein gebrach, spricht die Mutter Jesu zu ihm: „Sie haben nicht Wein.“ Jesus spricht zu ihr: „Weib, was geht’s dich an, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Seine Mutter spricht zu den Dienern: „Was er euch sagt, das tut!“ Es waren aber allda sechs steinerne Wasserkrüge gesetzt nach der Sitte der jüdischen Reinigung, und es gingen in jeden zwei oder drei Maß. Jesus spricht zu ihnen: „Füllet die Wasserkrüge mit Wasser!“ Und sie füllten sie bis obenan. Und er spricht zu ihnen: „Schöpfet nun und bringt’s dem Speisemeister!“ Und sie brachten’s. Als aber der Speisemeister kostete den Wein, der Wasser gewesen war, und wusste nicht, woher er kam – die Diener aber wussten’s, die das Wasser geschöpft hatten -, ruft der Speisemeister den Bräutigam und spricht zu ihm: „Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie getrunken geworden sind, alsdann den geringeren; du hast den guten Wein bisher behalten.“ Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen zu Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.“

 

Liebe Gemeinde!

 

Es ist gar nicht ausgemacht, ob die unbekannten ersten Erzähler, denen der Evangelist Johannes diese seltsame Geschichte verdankt, mit ihrer Wiedergabe in unserem Text zufrieden gewesen wären. Es gibt gute Gründe, das zu bezweifeln. Aber woran hätten sie Anstoß nehmen sollen? Sicher nicht an dem, was seit eh und je Exegeten und Predigern an dieser Geschichte verzweifeltes Kopfzerbrechen macht, an dem schlechterdings verwirrenden Wunder: Jesus verwandelt Wasser in köstlichen Wein und das in einer so märchenhaften, verschwenderischen Fülle, daß man mit den 500-700 Litern der steinernen Wasserkrüge so annähernd eine Art Heidelberger Faß hätte füllen können.

Geht man die Geschichte der Auslegung und Predigt unseres Textes durch, so stößt man allenthalben auf das ebenso peinliche wie hilflose, oft sogar komische Bemühen, das hier erzählte Wunder sozusagen kleinzukriegen, vorstellbar zu machen, wohl auch moralisch zu rechtfertigen (puritanischen Alkoholgegnern gegenüber ein wahrhaft fatales Unterfangen!) oder doch zumindest die Aufmerksamkeit von diesem augenfälligsten Zug der Erzählung möglichst schnell abzulenken und ihr mit dutzendfach wiederholten, mehr oder weniger hausbackenen frommen Gemeinplätzen eine andere, eingängige Moral abzugewinnen. Verlegenheiten über Verlegenheiten, auch wenn man sie noch so oft unter das gut gemeinte Motto rückt: Unsere Verlegenheiten sind Jesu Gelegenheiten.

Von derlei Sorgen waren die ersten urchristlichen Erzähler noch nicht bedrückt. An der Drastik dieses Wunders haben sie mit Sicherheit keinen Anstoß genommen, auch Johannes nicht. Wie hätte er sonst die Geschichte nacherzählen und ihr sogar einen programmatischen Platz im Anfang seines Evangeliums einräumen können? Wundertaten hat die frühe Christenheit bekanntlich von Anfang an in Fülle von Jesus erzählt und gesammelt. Auch im Johannes-Evangelium ist eine dieser Sammlungen verarbeitet. Sie enthält bis zum Äußersten gesteigerte Wunder, die das, was die ersten drei Evangelien bieten, noch weit in den Schatten stellen. Man denke außer an unsere Erzählung vor allem an die Erweckung des Lazarus. Warum erzählte man sie? Nun, ganz gewiß sind in ihnen, in welchem Umfang auch immer, Erinnerungen an außerordentliche Taten Jesu aufbewahrt. Aber das erklärt sie noch nicht als ein nicht wegzudenkendes Stück urchristlicher Botschaft. Denn die ersten Erzähler und Prediger hatten mehr und anderes im Sinn, als den Christen und Nichtchristen ihrer Umwelt ihre Memoiren mitzuteilen und nur von dem zu berichten, was dieser Jesus, der ja inzwischen mindestens für die damaligen heidnischen und jüdischen Hörer längst eine Figur der Vergangenheit geworden war, einst getan hatte. Vielmehr lag ihnen alles daran, ihren Herrn für Gegenwart und Zukunft als den einzigen und wahren Bringer von Heil und Leben zu verkünden – inmitten einer Welt, die bedroht und bedrängt von Krankheit und Schicksal, befangen in Todesangst, nach Leben und Heil hungerte und zugleich Hilfe, Glück, Lebenssteigerung und Lebensfülle bei zahllosen anderen Göttern, Halbgöttern und menschlichen Heilbringern suchte, die man mit stupenden Wundererzählungen anpries.

Von den alten Göttern war im Zeitalter des Urchristentums keine Erfüllung dieses Lebenshungers mehr zu erwarten. Das Judentum erhoffte sie vom Anbruch der messianischen Freudenzeit, aber der Messias war in unbekannter Ferne. Und die alten heidnischen Götter thronten auf dem Olymp, nicht minder unerreichbar fern, und waren überdies längst von den herrschenden staatlichen Gewalten vereinnahmt. Auch von ihnen war nichts zu erwarten. Aber einer dieser Götter war noch lebendig, und sein Kult war damals – auch und zumal im nahen Osten, vorab in Palästina – weit verbreitet: Dionysos, der wilde Gott des Weins, der überschäumenden Lebensfreude, der Ekstase, der ungebändigten Kräfte der Natur – draußen, nicht in alten Tempelgemäuern, sondern auf den Bergen, in den Wäldern, an Quellen, und vor allem überwältigend zu erleben in seiner herrlichsten Gabe, dem Wein. Hier und nur hier fand man das, was alle anderen Kulte und Mysterien verweigerten: Durchbruch durch die tausendfachen Zwänge, Aufhebung der allerorten herrschenden und gerade von den überkommenen Religionen geflissentlich gehüteten Tabus, Teilhabe am Leben des Gottes und seinen unbändigen Kräften, Enthusiasmus – Gotterfülltsein.

Wer in solcher Umwelt die Christusbotschaft ausrichten wollte, der mußte schon mithalten, mußte alle Register ziehen und durfte sich nicht zu schade sein, in Konkurrenz zu treten mit jenen anderen Heilsangeboten, wenn anders er überhaupt gehört werden und im Kontrast zu ihnen vernehmbar machen wollte: „Hier ist der Mann, der helfen kann, bei dem nie was verdorben.“ Das hatten die ersten Erzähler des Kana-Wunders auf sich genommen; sie waren gegen Dionysos angetreten.

Macht man sich das alles klar, dann begreift man erst, was ihnen an der Art, wie Johannes das Wunder von Kana nacherzählt, befremdlich, anstößig, ärgerlich sein mußte, nämlich der im höchsten Maße seltsame Schluß. Hat der Evangelist diese Geschichte nicht verstümmelt und um den Effekt gebracht, auf den sie angelegt ist? Offensichtlich endet sie bei Johannes genau dort, wo sie nach allem, was wir aus zahlreichen nichtchristlichen und christlichen Wundergeschichten, auch und gerade der Evangelien, sonst wissen, unter keinen Umständen enden durfte und sollte. Jetzt hätten die Diener mit der Sprache herausrücken, das durch Jesus geschehene Wunder bekannt machen müssen; alle – die Brautleute, die versammelten Gäste und das ganze Personal – müßten herbeiströmen, das Wunder bestätigt finden und dem Spender dieses Weins, dem göttlichen Wundertäter, dem gottgesandten Propheten, dem Sohn Gottes huldigen, und die Kunde davon hätte wie ein Lauffeuer durch Kana und das umliegende Land gehen müssen. Aber nichts von alledem geschieht. Stattdessen spricht der ganz unmaßgebliche, für die Beurteilung der Güte des Weins zwar zuständige, aber bezüglich des geschehenen Wunders ahnungslose Kellermeister in unserer Geschichte das letzte Wort mit seiner ein wenig frech-witzigen Vorhaltung an den Bräutigam: „Was machst du für Dummheiten, den schon trunkenen Gästen einen Qualitätswein zu spendieren, dessen Güte sie gar nicht mehr würdigen können!“ Oder auch als eine launige Bekundung des Respekts gemeint: „Du bist mir wahrlich ein nobler Wirt, der sich nicht wie schäbige Gastgeber sonst verhält!“ So oder so – ein merkwürdig deplatzierter Schluß! Und nicht weniger merkwürdig die Notiz des Evangelisten danach über die Wirkung des Wunders auf die Jünger Jesu, wohlgemerkt auf sie, nicht alle die anderen: „Und seine Jünger glaubten an ihn“ – sie, die doch schon zu ihm gehörten und eigentlich eines solchen Zeichens nicht mehr bedurften.

Kein Zweifel, die ersten Erzähler hätten das Kana-Wunder anders erzählt. Und ich denke, wir verstehen die Motive und Gründe ihres durchaus vorstellbaren Protestes gegen den Evangelisten sogar ganz gut, auch wenn jene alten Erzähler uns in mancher Hinsicht fremd sein mögen und die Zeit, die Umwelt, die Denkweise, in der sie lebten, nicht mehr die unseren sind. Gleichwohl sind auch wir geneigt, mit ihnen zu fragen: Was sollen schon Jesu Taten und Worte, wenn sie sich nicht allen überwältigend bezeugen, auch und gerade den Nichtglaubenden in ihrem Hunger nach Leben, Glück, Freude? Wenn Jesus nicht eingreift, zupackt, Hilfe bringt für ihre Ratlosigkeit, ihre großen und kleinen Nöte? Wo bleibt, so können wir auch fragen, in dieser von Johannes so abrupt abgebrochenen Geschichte der Jesus für Atheisten oder, biblisch gesprochen, die Freude, die allem Volk widerfahren soll? Wird hier nicht wieder einmal der Kreis der Nutznießer auf die Immer-schon-Glaubenden eingeengt und den anderen die Tür zugeschlagen? Das ist das entscheidende Ärgernis, das unsere Erzählung enthält!

Warum dieser unerwartete Schluß, der, wie es zunächst scheint, die Erzählung um ihren Effekt bringt? Nochmals: nicht, weil der Evangelist an dem Wunder als solchem Anstoß nimmt; wohl aber darum, weil er die Wundertat Jesu nur in ihrem tiefen, bedeutungsvollen Zusammenhang mit Jesus selbst und seiner ganzen Geschichte sehen kann; also nicht als ein stupendes Ereignis für sich, sondern in ihrer Beziehung auf den, der den unvertauschbaren Namen „Jesus“ trägt und nicht einfach ein großer Wundermann ist wie andere auch, - auch nicht ein neuer und größerer Dionysos, einer, der noch spektakulärer die Hoffnungen und Wünsche erfüllt, die die Welt ihm entgegenbringt. Inmitten dieser Welt der Gier nach Lebenssteigerung ist und bleibt er ein Fremdling, der für Menschenaugen am Kreuz scheitert. Er läßt sich, wie das Gespräch mit Maria zeigt, die Stunde seines Handelns nicht diktieren und schweigt oft genug zu unseren Wünschen, auch wenn nach unserer Stundenuhr unsere kleinen oder großen Nöte und Verlegenheiten nach Hilfe schreien. Er widersetzt sich jeder Art von Verplanung mit einem strikten Nein. Gehorsam und souverän zugleich folgt er allein der ihm von Gott bestimmten Stunde. Er tut uns darum auch nicht den Gefallen, sich erst einmal in dem, was er ist und vermag, zu legitimieren, damit wir allenfalls dann, wenn er sein Examen bestanden hat, uns auf ihn einlassen.

Sicher hat der Evangelist darum auch das „Zeichen“, von dem in seiner Schlußbemerkung die Rede ist, von Grund auf anders verstanden als die ersten Erzähler vor ihm: das Wunder nicht als Legitimationszeichen, sozusagen als seine eindeutige Kennkarte, die man sich vorzeigen läßt, um ihn dann passieren zu lassen, sondern als Hinweis auf ihn, als Wegzeichen zu ihm. So und nicht anders will es verstanden sein. Wer seine Taten anders versteht, dreht dieses „Zeichen“ um und läßt es in eine diametral entgegengesetzte Richtung weisen. Seine Wundertat einzig und allein als Hinweis auf ihn und Wegzeichen zu ihm verstehen, das bedeutet aber zugleich, den Sinn des hier Erzählten von ihm her verstehen: als Inbegriff und Bild der überschwenglichen, vollkommenen Freude, die er zu wecken vermag. So und nicht anders ist das Kana-Wunder eine Epiphanie Jesu, des Freudenmeisters. Unsere Geschichte sagt damit allerdings unmißverständlich ein striktes Nein zu unserer Lebensgier, zu den Maßstäben, an denen wir ihn messen, und den Zwecken, für die wir ihn einspannen. Aber dass wir ihn mit allen diesen Negationen nur ja nicht am Ende sozusagen zu einem steinernen Gast machen, der nur Halt gebietet und Nein sagt, um dann wieder unter Donner und Flammen zu versinken! Nein, er verweigert sich, um zu geben, Größeres zu geben, als wir uns träumen lassen: vollkommene Freude, seine Freude, aus ihm und in ihm, nicht vergehend im Auf und Ab der rasenden Zeit; Freude, die mehr ist als die Daseinslust, der wir nachjagen, mehr als Stimmung und Überschwang des Gefühls; vollkommene Freude unter dem geöffneten Himmel, die Freude der Gewißheit, dass diese unsere rätselhafte, hungernde und leidvolle Welt niemals aufhören wird, Gottes geliebte Schöpfung zu sein, für die er sich das Liebste und Teuerste, seinen Sohn, vom Herzen gerissen hat. Das ist der Sinn der Epiphanie, die das Kana-Wunder bezeugt: ein Geschehen hier unter uns, Gegenwart, wo immer er auf den Plan tritt, und nicht eine erträumte Zukunft; Freiheit inmitten aller unserer Bedrängnisse, Freude auch gegen alle unsere Schmerzen.

Eröffnet und gewährt er sie nur dem Glaubenden? Ja, in der Tat; aber doch nur dazu, damit diese Freude inmitten dieser Welt und für sie Raum und Macht gewinne. Dazu ergeht in unserem Text die große Einladung: „Kommt zur Hochzeit!“ Auf diese Freude wartet die Welt, und die Christenheit ist gerufen – so wie die Diener in unserer Erzählung, die wußten, was es mit dem köstlichen Wein in ihren Krügen auf sich hatte -, diese Freude der Welt nicht länger schuldig zu bleiben.

Wir leben in einer Zeit, die für das „Freuet euch!“ des Evangeliums keine Resonanz mehr zu haben scheint; auch die Christenheit ist drauf und dran, sie allenfalls nur noch in eine utopische Zukunft zu projizieren. Um so dankbarer sollten wir für ein heilsames Wort eines Mannes unserer Tage sein, der gewiß nicht im Verdacht steht, gegenüber den Nöten unserer Zeit und Gesellschaft blind gewesen zu sein. Ich meine den jüngst verstorbenen Tübinger Psychiater Walter Schulte. In seinen „Studien zur heutigen Psychotherapie“ zitiert er den Ausspruch eines bekannten Schweizer Arztes über den Schlaf: „Der Schlaf“, heißt es da, „ist eine Taube. Wenn wir die Hand ruhig halten, dann setzt sie sich drauf. Wenn wir nach ihr greifen, fliegt sie fort:“ „Es mag etwas absonderlich klingen“, fährt Schulte selbst fort, „wenn ich dieses Bild auf den Glauben anwende in einer Zeit, in der allenthalben darüber geklagt wird, die Kirche müsse sich noch mehr am Leben der Welt beteiligen und schneller und kräftiger etwa zu politischen Ereignissen Stellung nehmen. Sie soll gewiß nicht schlafen! Aber sollte sie nicht manchmal auch die Hand ruhig halten und das Vertrauen, von dem sie spricht, dadurch wahrmachen, daß sie selbstvertraut? Aus solcher Gewißheit könnte dann das erwachsen, was heutzutage allenthalben beinahe verlorengegangen zu sein scheint, nämlich die Freude.“ Amen.

 

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Günther Bornkamm: Predigt und Exegese
 

 

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Letzte Änderung: 24.11.2022
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