[an error occurred while processing this directive]
Bereichsbild
Spätmittelalterliche Geschichte

Startseite

Professur

     zur Person

     Publikationen

     Team

     Kontakt

Forschung

Lehre

Stipendien

 

Forschungsprojekt | Dr. Aaron Vanides

 

Venedig und der Norden im Spätmittelalter

 

Zwischen der Republik Venedig und der nordatlantischen Welt des Spätmittelalters entstand ab dem 14. Jahrhundert eine dauerhafte Wechselwirkung, deren Umfang und Bedeutung bisher in der historischen Forschung kaum beachtet wurde. Zwar gilt das Venedig der Vormoderne in der Forschung traditionell geradezu als der paradigmatische Vernetzungspunkt zwischen Europa, Byzanz, des Dār al-Islām und des ferneren Asiens. In jüngster Zeit hat sich zudem erneut die Erforschung der kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungslinien Venedigs mit dem südlichen Bereich des römisch-deutschen Reiches als besonders fruchtbar erwiesen. Dabei blieb mit dem Norden Eurasiens aber bislang ein zentraler Anschlusspunkt der expandierenden Welt des Spätmittelalters ausgespart.

Ein Grund hierfür sind die unscharfen geographischen Konturen dieser nördlichen Peripherie, die sich nicht zuletzt auch durch ein hohes Maß an Dynamik und eine dadurch erschwerte Fassbarkeit auszeichnet: Den einen, stabilen Norden hat es nie gegeben. Es existierte vielmehr eine Pluralität an Regionen, die erst in historischer Verkürzung als gemeinsamer Handlungsraum erscheinen. Die 1539 in Venedig gedruckte Carta Marina des schwedischen Bischofs Olaus Magnus umreißt dieses heterogene Gebiet, das mit seinem gesamten Netzwerk vom Nordatlantik und dem Ostseeraum sowohl östlich über Nowgorod zu Tanais und Konstantinopel am Schwarzen Meer sowie westlich von der nordnorwegischen Küste über Brügge und Lissabon durch die Straße von Gibraltar bis in die venezianische Laguna reicht. Diesen Routen entlang begegneten sich die venezianische Republik und die nordische Peripherie im Laufe des Spätmittelalters immer öfter und immer breitflächiger, sogar auf Island, Grönland und zuletzt um 1500 an der Ostküste Nordamerikas auf der Labradorsee.

Dieses Vorhaben fragt nach der Entstehung, Entwicklung und Wirkung des Verhältnisses zwischen Venedig und “dem Norden” im Spätmittelalter. Es setzt dabei drei Schwerpunkte, indem es (1.) nach den Objekten fragt, die in dieser Wechselbeziehung eine zentrale Rolle spielten, (2.) die Folgen der Begegnungen mit neuen Ökologien und Umwelten schildert sowie (3.) die Wandlungen in den menschlichen Netzwerken im Kontext spätmittelalterlichen Reisens und Mobilität in den Blick nimmt. Der Norden hatte Objekte verschiedenster Art anzubieten, die von alltäglichen Gebrauchsgegenständen bis zu verarbeiteten kunstfertigen Artefakten und seltenen Naturalia und Kuriosa reichten. Die Vielfältigkeit und Extrema der Naturwelt im Norden erschlossen neue Produkte und Landschaften für ein südeuropäisches Publikum, deren wachsende Rezeption auch in der venezianischen Kartographie des späteren Mittelalters Niederschlag fand. Dennoch blieb dies eine Welt am Rande des Pergaments, die auf Karten oftmals kaum mehr Platz fand oder von einer seltsamen arktischen Masse dominiert wurde, wie es die heute als verschollen geltende Weltkarte des Albertino de Virga vom Anfang des 15. Jahrhunderts zeigte. Auf Basis der arktischen Fauna schöpften Venezianer und ihre nordeuropäischen Handelspartner  ein eigenes ökonomisches Netzwerk, das quer durch Europa und bis in die Levante reichte: der luftgetrocknete oder gesalzene Kabeljau wurde (bis heute) zur adriatischen Köstlichkeit; Ger- und andere Jagdfalken wurden zwischen Grönland-Island und Ägypten verhandelt; Narwalzähne und Walrossprodukte wie Elfenbein oder Sehnen für die Herstellung von Seefahrtsseilen erfreuten sich auch im Mittelmeerraum regen Interesses; und die Felle von Robben, Zobel oder anderen Kleintieren gelangten in großer Zahl in die Hände der venezianischen Pelzhändler. Umgekehrt profitierten die Menschen aus dem Norden im Fernhandel, auf der Pilgerfahrt und bei Kreuzzügen von der venezianischen Infrastruktur, die ein größeres Maß an Mobilität überhaupt erst ermöglichte; erst dadurch gelang es, hier eine geographische Spannbreite zu erreichen, die den europäischen Norden wie zuletzt im Frühmittelalter in einem globalen Maßstab überregional einband.

Methodisch verbindet das Vorhaben kulturhistorische und objektbezogene Ansätze mit Erkenntnissen der Umwelt-, Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte und bringt die Quellen und Forschungstraditionen von mehreren, üblicherweise separat behandelten Ländern und Sprachen miteinander in Gespräch. Das daraus entstehende Gesamtbild eröffnet damit neue Perspektiven auf die komplexe Welt des Spätmittelalters, indem hier zwei scheinbar gegensätzliche geographische und kulturelle Pole auf ihre Verflechtung hin untersucht werden, und es stellt die Vorstellung einer Zäsur für die Entwicklung Venedigs durch die neue atlantische Welt der Frühen Neuzeit und den Fokus auf dem Asienhandel für die vormoderne Ökonomie der Markusstadt in Frage. Vielmehr zeigt sich eine Kontinuität der zunehmenden Ausweitung von Kontakten zwischen der nordatlantischen Welt und dem Mediterraneum weit vor Kolumbus, deren Erforschung hiermit einen erstmals in den Mittelpunkt einer eigenen Monographie gerückt wird. 

 

 

 

Yen-Hsi Beyer: E-Mail
Letzte Änderung: 17.11.2021
zum Seitenanfang/up