Albrecht Peters: Predigt über 1 Joh 3, 11-18 („Wer nicht liebt, der bleibt im Tod“) am 5. Juli 1987 in der Peterskirche in Heidelberg

„Das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an, dass wir uns untereinander lieben sollen, nicht wie Kain, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder umbrachte. Und warum brachte er ihn um? Weil seine Werke böse waren und die seines Bruders gerecht. Wundert euch nicht, meine Brüder, wenn euch die Welt hasst. Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind; denn wir lieben die Brüder. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod. Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger, und ihr wisst, dass kein Totschläger das ewige Leben bleibend in sich hat. Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt dann die Liebe Gottes in ihm? Meine Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“

 

Liebe Universitätsgemeinde!

 

Zum Thema: Gottes Liebe unter uns heute erneut ein Wort aus jenem Brief, welcher Gott als die Liebe verherrlicht; heute nun geht es freilich um eine spezifische Gestalt der Liebe, nicht um die Nächstenliebe, welche sich nach draußen wendet und einseitig vorstoßen soll bis hin zur Feindesliebe, sondern um die wechselseitige Liebe innerhalb der christlichen Gemeinde, um jene Liebe untereinander, unter den Kindern Gottes wie den Brüdern und auch Schwestern Jesu Christi. Die Botschaft dieser spezifischen Liebe ist uns verkündet; ihr Zeugnis haben wir von unserer Taufe her empfangen. Stimmt das wirklich? Haben wir die Botschaft von der geschwisterlichen Liebe wirklich gehört? Ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, dass es ein besonderes Wir der Gemeinde Jesu Christi gibt, welches uns aus allen Lebensbezügen herauslöst und miteinander zusammenschließt? Ist uns dieses so neue und doch zugleich uranfängliche Gebot geschwisterlicher Liebe unauslöschlich in die Herzen eingebrannt? Das Neue Testament redet durchweg noch von „Bruderliebe“, wir sprechen wohl unmissverständlicher von einer „geschwisterlichen Liebe“, wird doch zur wechselseitigen Liebe der Gotteskinder aufgerufen. Sie gründet sich nicht ein in unser gemeinsames Menschsein, sie entspringt nicht dem gemeinsamen Menschenlos, sie erwächst nicht aus unserer Geburt. Sie erwächst vielmehr jener weltweiten Suchaktion Gottes, welche das alte Evangelium unseres Sonntags unter den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und Groschen anspricht, sie bricht hervor aus Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern, Huren und Sündern, sie gründet in unserer Taufe.

„Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind,“, dass wir errettet wurden aus der Tyrannei der Todesgewalten und eingeborgen unter die Gnadenherrschaft des himmlischen Vaters. Wir wissen: wir selber waren das eine versprengte Schaf, das der gute Hirte in der Wüste der gottfeindlichen Welt suchte und auf seinen eigenen Schultern ins Vaterhaus heimtrug. Ich weiß: ich selber bin jener freche Silbergroschen, der so unbedacht und leichtfertig bis in die dunkelste Stubenecke fortrollte, um dessentwillen das gesamte Weltenhaus durchstöbert und sein Unterstes zu oberst gekehrt werden musste. Ich weiß das; wir alle miteinander wissen das. Können wir dies aufrichtig und ehrlich sagen? Wir wissen, wir wurden aus dem Todesschatten der Gottesferne herausgeliebt und sind nun überstrahlt vom Gnadenlicht ewigen Lebens. Dies wissen wir gewiß, denn wir lieben uns einander; dies sieht doch jeder am Leben unserer Gemeinde! Stimmt das wirklich; wagen wir dies schlicht festzustellen, ohne schamrot zu werden!

Auch der Altvater „Johannes“ kann dieses gemeinsame Wissen nur festmachen am Gegenbild Kains, das er in den lapidaren Satz zusammenrafft, welcher dieser Auslegung zum Motto vorgegeben wurde: „Wer nicht liebt, der bleibt im Tod.“ Hierin wird uns derjenige Mensch als warnendes Beispiel vorgehalten, mit dem das Todesverhängnis einbrach in die Geschichte der Menschheit. Dietrich Bonhoeffer beschließt seine frühe Auslegung von Schöpfung und Fall mit diesem Symbol: „Kain ist der erste Mensch, der auf dem verfluchten Acker geboren ist. Mit Kain erst hebt die Geschichte an, die Geschichte des Todes. Der auf den Tod hin erhaltene und am Durst nach Leben sich verzehrende Adam zeugt Kain, den Mörder.“ Mit ihm hebt jenes furchtbare weite „von Anfang an“ seinerseits an, der blutige Strom der Todesgeschichte unter dem Zeichen des Brudermordes.

Doch das ist noch keineswegs das Eigentliche, das den greisen Briefschreiber bedrängt. Über den ihr von der Außenwelt entgegenschlagenden Hass soll sich die Gemeinde Christi nicht wundern, traf dies Geschick doch bereits ihren Herrn. Das viel Furchtbarere ist, dass nun auch unter der Schar, die aus dem Todesschatten herausgerufen wurde, erneut Hader und Zwietracht aufgebrochen sind. Feindschaft wie Hass blieben nicht zurück in der Todeswelt. Der Brudermörder Kain treibt sein dunkles Geschäft auch in der Christenheit.

Gegen dies Unheimliche wird der Geist Jesu Christi aufgeboten und die Prüfung der Geister eingeschärft. Wo aber finden wir den rechten Maßstab? Zur Unterscheidung der Geister? Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig, allein in ihm, der persongewordenen Liebe Gottes des Vaters. „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat.“ In diesem Kriterium verbünden sich Erkennen und Handeln, greifen Gaube und Liebe ineinander. In der Liebe des einziggeliebten Sohnes beugt sich der hoheitliche und unnahbare Gott tief herab zu uns ins Todesdunkel Eingekerkerten, uns herauszulieben hinein in sein bleibendes Leben. Dieses göttliche Sich-Herabbeugen hat Johannes der Evangelist konzentriert in der Szene der Fußwaschung. In den Eingangsversen des 13. Kapitels verknüpft er meditativ Sichtbares und Unsichtbares, Inwendiges mit Auswendigem, Geisthaftes mit Leiblichem. Zugleich deutet er den Widerstreit zwischen Gott und Satan, zwischen Leben und Tod, Licht und Finsternis an, ganz ähnlich wie in unserem Textabschnitt. Wie im Prolog des Evangeliums und im Eingang des Briefes setzt der Evangelist auch hier ein beim göttlichen Geheimnis. Der Sohn erkennt und weiß nun unverbrüchlich, dass seine Stunde genaht ist, er wird heimkehren zum Vater. In dieser Abschiedsstunde wendet er sich noch einmal liebend den Jüngern zu, welche er in der gottfeindlichen Welt zurücklassen muß, liebt er die Seinen doch bis zur Vollendung. Zugleich weiß Jesus um den Abgrund der Finsternis mitten unter den Jüngern; unter innerstem Schmerz wird er dem Verräter den Bissen geben und ihn so hinaussenden in die Finsternis. In einem dritten Anlauf rafft der Evangelist das Geheimnis Jesu zusammen und lässt es unvermittelt einmünden ins Waschen der Füße seiner Jünger. „Jesus aber wusste, dass ihm der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und nun zu Gott zurückkehren werde, / da stand er auf vom Mahl, legte sein Obergewand ab und nahm ein Leinentuch und schlug es sich um. Danach goss er Wasser in ein Becken, fing an, den Jüngern die Füße zu waschen und trocknete sie mit dem Tuch, das er sich umgebunden hatte.“ Aus dem unfasslichen Geheimnis der Gottesnähe heraus erwächst diese liebende Zuwendung, die in ihrer drastischen Leibhaftigkeit Handlung für Handlung nachgezeichnet ist. Das Geschehen verdichtet sich zur Weisung: „Ein Beispiel habe ich euch geben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ So handgreiflich wie die ewige Liebe Gottes bis hinunter dringt zu den Füßen der Apostel, so handgreiflich soll auch unser Glaube sich inkarnieren in dem Stück Brot und Trunk Wassers für Hungernde und Dürstende. Der gläubige Aufblick zum Herrn und die liebende Zuwendung zu den Geschwistern und somit – theologisch formuliert – auch Dogmatik und Ethik sind unlöslich miteinander verknüpft und ineinander verwoben. Haben wir wirklich daran die Liebe Gottes als unseres Vaters erkannt, dass der Sohn sein Leben für uns hingab, dann will uns dies befreien und ermutigen zur Preisgabe des eigenen Lebens.

„Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde!“ Ein für uns viel zu großes Wort, ein Wort, das noch dazu erneut hineingezogen wurde ins blutige Handwerk des Totschlägers Kain, in die Lebenshingabe für die Selbstbehauptung des eigenen Volkes. Der Altvater Johannes bezieht diese Weisung streng auf die Gemeinde, sie ist Aufruf zur gegenseitigen Liebe in ihr. Doch ist hiermit nicht der Mund zu voll genommen? Wie sollen wir dies Letzte realisieren in unserem zumeist recht banalen Alltag? Der Altvater scheint dies selber zu empfinden. Er warnt vor Hochstapelei: „Lasst uns nicht lieben mit zungenfertiger Rede, sondern in tatkräftiger Wahrheit!“ Dazu deutet er wenigstens ein Beispiel an, welches die jüdische Praxis der Almosen-Spende aufgreift. Auch Jakobus macht hieran das unlösliche Miteinander zwischen Glaube und Liebe deutlich. In der Gemeinde Christi soll und darf niemand Mandel leiden. Wer vor der Not eiines Bruders oder einer Schwester sein Herz verschließt, verleugnet die ihm selber erwiesene Gottesliebe. Wer sich nicht seinerseits liebend zu den notleidenden Geschwistern herabbeugt, bekundet damit nur, dass er sich durch die göttliche Liebe noch nicht aus dem Todesabgrund herausholen ließ. Gilt doch unverbrüchlich das Doppelgebot: Wer Gott als seinen Vater liebt, der liebt damit zugleich seine Menschengeschwister.

Wie sehr wir alle miteinander noch im Tode verharren, wie mächtig noch der Brudermörder Kain in uns herrscht, das will nach unserem Brief nicht so sehr an weltweiten Verflechtungen als an hautnahen Bezügen aufgedeckt werden, insbesondere an den unguten und törichten Streitereien in den Gemeinden. Auch wir brauchen also nicht in fernen Kontinenten umherschweifen, wir werden ermutigt, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Wie steht es in unserer Universitäts- und Studentengemeinde, findet in ihr ein lebendiger Austausch, ein echtes Mit-Teilen wie Anteil-Nehmen unter den unterschiedlichen Kreisen und Gruppen statt? Hören wir wirklich aufeinander, lernen wir voneinander, helfen wir uns gegenseitig und geleiten einander? Denken wir auch an unsere Familien und Lebenskreise, an das Miteinander im Studium wie überhaupt in den alltäglichen Begegnungen? Leuchtet das Licht Christi hinein in diese unterschiedlichen Lebensbereiche; lassen wir uns hier hineinziehen in seine Liebeshingabe, oder gilt das Gesetz der Ellenbogen?

Wer nicht liebt, bleibt im Tod! - Wieviel Abgestorbenes und Totes steckt in einem jeden, in einer jeden unter uns. Halten wir es dem Herrn entgegen, dass er den Weinstock seiner Gemeinde beschneide. Halten wir uns selber beharrlich hinein in den Liebesstrom Jesu und lassen das Verhärtete aufbrechen, das Verwundete ausheilen. Die charismatische Bewegung sucht dies in Gebeten der Selbsthingabe praktisch werden zu lassen. Die Verwundungen, welche uns nahe Menschen zufügten, nicht diesen ständig vorhalten, sondern den Herrn um die Kraft zur Vergebung bitten; den Unrat, der sich bei uns selber angesammelt hat, nicht Eltern, Ehepartnern oder Freunden vor die Türen schütten, sondern diesen Schmutz von seinem Läuterungsfeuer aufzehren lassen! Hierzu will das Licht in alle Finsternisse hineinleuchten; hierzu wird das Wort Fleisch und wohnte unter uns; hierzu sandte Gott den Sohn in unsere Todeswelt, dass wir durch ihn leben. - Der Evangelist bezeugt überaus eindringlich, dass aus Jesu Seite Blut und Wasser herausflossen, und der Altvater Johannes unterstreicht dies: Jesus Christus kam nicht allein durch das Wasser der Taufe, auch durch das Opferblut des Neuen Bundes. Dies bekräftigt der Heilige Geist. Nutzen wir die Gebetsstille während des Abendmahls, um das Todesdunkel unserer Herzen seinem heilenden Gnadenlicht entgegenzustrecken. Lassen wir ihn den Totschläger Kain in uns in seinen Liebesfluten ersäufen. Seine reinigende und heilende Liebe will nicht unseren Tod, sondern unser Leben. Mag unser verzagtes und anklagendes Herz uns auch verdammen; seine Liebe ist unendlich größer. Sie will uns herauslieben aus den Todeskammern unserer Angst und Selbstverfangenheit. „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“ Diese Liebe besteht erstlich und letztlich nur darin, „ nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn dahingab zur Versöhnung für unsere Sünden.“ In diese Botschaft dürfen wir unseren schwachen Glauben, unsere matte Liebe wie unsere zagende Hoffnung hineinbergen.

Amen.

 

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Albrecht Peters: Seelsorger und Prediger in der Peterskirche

 

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Letzte Änderung: 01.07.2022
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