Günther Bornkamm: Exegese und Predigt

Ralph Hochschild | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

 

bornkammGünther Bornkamm (Foto: A. Assmann)

Günther Bornkamm:

Geboren am 8. Oktober 1905 in Görlitz; gestorben am 18. Februar 1990 in Heidelberg

1949-1971 Professor für Neues Testament in Heidelberg, Prediger im Universitätsgottesdienst

 

„Liebe Gemeinde,

es ist gar nicht ausgemacht, ob die unbekannten ersten Erzähler, denen der Evangelist Johannes diese seltsame Geschichte verdankt, mit ihrer Wiedergabe in unserem Text zufrieden gewesen wären. Es gibt gute Gründe, das zu bezweifeln. Aber woran hätten sie Anstoß nehmen sollen? Sicher nicht an dem, was seit eh und je Exegeten und Predigern an dieser Geschichte verzweifeltes Kopfzerbrechen macht, an dem schlechterdings verwirrenden Wunder: Jesus verwandelt Wasser in köstlichen Wein und das in einer so märchenhaften, verschwenderischen Fülle, daß man mit den 500-700 Litern der steinernen Wasserkrüge so annähernd eine Art Heidelberger Faß hätte füllen können.”

 

Schon die ersten Sätze seiner Predigt über „Das Zeichen von Kana” verraten, was Günther Bornkamm als Prediger auszeichnet. Er ist zunächst Exeget und bringt seine religions-, form- und redaktionsgeschichtlichen Erkenntnisse in der Predigt zur Sprache. Zugleich ist er als Kerygmatheologe und Verkündiger seinen Hörerinnen und Hörern verpflichtet, denen er die biblischen Texte verständlich machen und für ihr Leben vergegenwärtigen will. Predigt kann daher für ihn nicht im unreflektierten Nachsprechen oder Nacherzählen biblischer Texte und Erzählungen aufgehen. Sie ist aber auch nicht Wissenschaftskommunikation von der Kanzel. Das zeigt der Vergleich der Wasserkrüge mit dem großen Heidelberger Fass. Der Prediger macht hier die Dimensionen, von denen die Geschichte erzählt, zum einen anschaulich. Zugleich verbindet er die Lebenswelt der Hörerinnen und Hörer mit der des Textes und hält sich so die Möglichkeit offen, dass das, was die Geschichte in ihrem historischen Kontext bewirken sollte, in der Gegenwart erneut geschehen kann.

Verbleiben wir einen Moment auf dem Heidelberger Schloss und treten an jenem 14. Januar 1973, an dem die Predigt gehalten wurde, auf die winterlich kalte Schlossterrasse. Unter dem grauen Himmel fällt unser Blick mittig auf die alte Universitätskirche Heiliggeist und den markanten Turm der Jesuitenkirche. Dahinter führt die Alte Brücke die die Altstadt durchflutenden Touristenströme über den Neckar und gibt die Möglichkeit, über den Schlangenweg den Philosophenweg zu erklimmen. Abseits der strömenden Masse ragen ganz auf der rechten Seite Baukräne in den Himmel. Zwischen Planken- und Kisselgasse entsteht das (Wissenschaftlich-)Theologische Seminar, das zusammen mit dem Ökumenischen Institut, dem Gebäude Karlstraße 16 und dem Dekanat in der Hauptstraße das derzeit von der Theologischen Fakultät bewohnte Gebäudeensemble bilden wird. Von 1975 an wird das neue Gebäude von Günther Bornkamms Nachfolgern bewohnt werden. Bald wird dort auch die jüngere Generation der „Alten Marburger” vom „Primat der Synchronie” sprechen, die kanonische Endgestalt der biblischen Bücher und damit auch des Johannesevangeliums zum Maßstab der Auslegung machen und es in einen anderen historischen Kontext stellen. Schon seit fünf Jahren erscheinen die „Predigtstudien” als Alternative zu den „Göttinger Predigtmeditationen“, zu deren Herausgeberkreis Günther Bornkamm zeitweise gezählt hatte. In den Predigtstudien wurde nun die „Welt” nicht mehr als das erlösungsbedürftige Gegenüber des Predigttextes inszeniert, der eine existenzielle Entscheidung forderte. Das alltägliche Leben der Menschen mit seinen Nöten sollte jetzt genauso zum Ausgangspunkt des Predigens gemacht werden wie der biblische Text, um diesem Leben die Verheißung der biblischen Tradition zusprechen zu können. Ein Jahr zuvor hatte die sozialwissenschaftlich fundierte EKD-Studie „Wie stabil ist die Kirche?” (1972/1974) eine gegenüber den 50er-Jahren veränderte Selbstwahrnehmung der Kirche angezeigt.

Richtung Westen fällt unser Blick auf den Turm der Alten Universität und erinnert daran, dass sich gerade die kräftezehrenden und unversöhnlich ausgetragenen Konflikte um Grundordnung, Struktur und Miteinander an der Universität zugespitzt haben und man befürchten muss, dass diese noch lange belastend sein werden.

Kurz streift der Blick noch die Universitätsbibliothek, bevor an der äußersten linken Peripherie der Predigtort, „S. Petri extra muros”, auftaucht und gewissermaßen von der Seitenlinie das heitere und lebhafte Treiben in der Hauptstraße und auf dem Universitätsplatz wahrnimmt und das Seine dazu sagen kann.

 

I. Günther Bornkamm hält diese Predigt ungefähr ein Jahr nach dem Ende seiner Lehrtätigkeit. 1971 emeritiert, hielt er im Wintersemester 1971/1972 als sein eigener Lehrstuhlvertreter noch ein Seminar über die Passionsgeschichte sowie eine dreistündige Vorlesung: „Grundzüge der neutestamentlichen Theologie”. Dieser Abschied war schon sein dritter Abschied vom Heidelberger Katheder. Der erste war nach seiner Strafversetzung nach Heidelberg 1936 durch den Entzug der Venia Legendi wegen seines unbeirrbaren Einsatzes für die Bekennende Kirche durch die Ruperto-Carola erzwungen worden. Zuvor hatte der 1905 als Sohn eines Superintendenten geborene Günther Bornkamm von 1924-1929 in Marburg, Tübingen, Berlin und Breslau studiert. Nachdem er 1930 bei Rudolf Bultmann promoviert hatte, schlug dieser, auf Bitten von Julius Schniewind, der in Königsberg harte Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen zu bestehen hatte, seinem Schüler vor, sich dort zu habilitieren. In diesem Kontext veröffentlichte Günther Bornkamm seine erste Predigt: „Die Stillung des Sturmes”, die seine spätere Studie zu Mt 8, 23-27 präludierte. Zwölf weitere Predigten sowie 67 Predigtmeditationen verzeichnet die Bibliographie seiner Werke. Die Letzteren erschienen vorwiegend in den späten 40er und 50er-Jahren in den Göttinger Predigtmeditationen und würden heute wohl reichhaltiges Material für jemanden bieten, der die Zusammenhänge von Exegese und Homiletik in den ersten Nachkriegsjahren erhellen wollte. Sie lassen die hohe Bedeutung erahnen, die Günther Bornkamm der Predigtaufgabe beimaß.

Nach dem Verlust seiner Lehrerlaubnis in Heidelberg konnte er zunächst in Bethel bis 1939 unterrichten. Später wirkte er bis zu seiner Ausweisung in Ostpreußen als Pfarrer. 1940-1942 verwaltete er (ohne Zustimmung des zuständigen Kirchenministeriums) Pfarrstellen in Münster und Dortmund. Anschließend wurde er eingezogen und konnte nach kurzer Kriegsgefangenschaft von 1945 an wieder in Bethel unterrichten. 1947 wurde er als außerordentlicher Professor nach Göttingen berufen, 1949 kam er als Nachfolger von Martin Dibelius nach Heidelberg, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1990 lebte und wirkte.

In Heidelberg entstanden seine bedeutendsten Werke wie „Jesus von Nazareth”, das Paulus-Buch sowie vier Bände mit Aufsätzen: „Das Ende des Gesetzes” (1952), die „Studien zu Antike und Urchristentum” (1959), sowie zwei Bände mit dem Titel „Geschichte und Glaube” (1968.1971), in denen sich verstärkt Arbeiten zum Johannesevangelium finden, mit dem er sich jedoch in seinen Forschungen von Anfang an immer wieder auseinandergesetzt hatte. Ferner hatte er Bibelarbeiten und mehrere Predigtmeditationen zum Johannesevangelium veröffentlicht. Schon 1954 hatte er in dem Aufsatz „Matthäus als Interpret der Herrenworte” gezeigt, dass nicht nur in der Erzählüberlieferung, sondern auch im Blick auf die Wortüberlieferung „die ersten drei Evangelisten in weit höherem Maße als ihnen gemeinhin zugebilligt wird, nicht nur Sammler und Redaktoren, sondern Interpreten überkommener Überlieferung und ihre Evangelien Dokumente einer in jedem Fall sehr verschiedenen Theologie sind.” Die „beträchtlichen” Spielräume, die er den Synoptikern zubilligt, findet er in höherem Maße bei dem Evangelisten Johannes. In der vorgestellten Predigt ist dieses Verständnis des Evangelisten als Interpreten älterer Überlieferung der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der Konzeption dieser Predigt.

II. Nachdem der Prediger mit den schon zitierten Einleitungssätzen die ersten Erzähler, den Evangelisten, die Ausleger der Geschichte und die Gemeinde als seine theologischen Gesprächspartner eingeführt und darauf hingewiesen hat, dass die „Verlegenheiten” der Ausleger „Jesu Gelegenheiten” seien, führt er seine Hörerinnen und Hörer in die Welt, aus der diese Wundergeschichte stammt. Der Kontrast zu der schon erwähnten ersten Predigt über die Sturmstillung im Matthäusevangelium ist hier interessant. Während das Schifflein der Königsberger Studentengemeinde im Jahre 1935 auf seiner Fahrt von „Grauen, Sturm, Angst, Todesnot” bedroht ist, ist die Welt der Heidelberger Studierendengemeinde des Jahres 1973 wie die des Weinwunders von Kana ungleich differenzierter und gewissermaßen dionysisch heiter. Bornkamm zeigt sich hier gleichermaßen als Kenner der antiken Religionsgeschichte und als scharfsinniger und humorvoller Beobachter seiner Gegenwart. Dies zeigt sich nicht nur in der ironischen Zurückweisung einer moralisch begründeten Relativierung des Weinwunders. Bei dem Vergleich der Steinkrüge mit der Touristenattraktion des Großen Heidelberger Fasses und dem erst jüngst durch das Deutsche Weingesetz vom 16. Juli 1969 kanonisierte Begriff „Qualitätswein” im Munde des „Kellermeisters” mag mancher Hörer schmunzelnd an die in der medialen Alltagskultur der Bundesrepublik sehr präsenten Weinrunden denken, seien sie im Fernsehen als heitere Weinfeste mit Wirtinnen, Kellnern und Kellermeistern oder als distinguierte politische Herrengesellschaften am Sonntagvormittag (mit gelegentlich geduldeter Präsenz ausgewählter Journalistinnen) inszeniert gewesen. Zugleich ist diese Beschreibung exegetisch gut fundiert. Schon vor Bultmann hatte beispielsweise Walter Bauer in seinem Johanneskommentar die Perikope mit dem Dionysios-Kult in Verbindung gebracht, darauf hingewiesen, dass es dem Evangelisten um die Größe der Steinkrüge gehe und das Wunder als „Luxuswunder” apostrophiert. Jedoch: Der kreativ-heiteren Welt des Dionysischen eignet eine gewisse Doppelbödigkeit. Sie lebt in einer abgelebten Welt, in der die traditionellen Religionen ihre Bindekraft verloren haben und die von „Krankheit und Schicksal”, „Todesangst” „bedroht und bedrängt” ist und zugleich „Hilfe, Glück, Lebenssteigerung und Lebensfülle” sucht - Bedürfnisse, die der Dionysos-Kult am besten bedienen konnte, was ihn zu einem natürlichen Konkurrenten des entstehenden Christentums gemacht habe.

Die ersten, anonymen Erzähler dieses Weinwunders wollen darauf mit einer drastischen Wundererzählung reagieren. Doch dies muss zwangsläufig den Evangelisten auf den Plan rufen. Denn so wenig es nachhaltig hilft, seine Sorgen in ein Gläschen Wein zu schütten, so wenig kann die Sorge um die Existenz durch einen Wundertäter vertrieben werden, der nicht mehr ist als nur ein Wundertäter unter vielen. Daher verändert der Evangelist die Erzählung, bricht die Form der Wundergeschichte auf und macht - zugespitzt gesagt - aus der Persiflage eines Dionysos-Wunders eine Glaubensgeschichte, die auf Jesus verweist. Auch dies ist wieder exegetisch gut begründet und verweist auf die theologische Intention der „semeia-Quelle”, auf die der Evangelist rekurrieren kann (Joh 20,20). Dass der Evangelist dabei die Gattung Wundergeschichte zugunsten des Kerygmas aufbricht, entspricht Bornkamms redaktionsgeschichtlichen Einsichten und seinem eigenen Predigtverständnis, das der theologischen Aussage die Priorität vor der literarischen Überlieferung gibt. So schreibt Günther Bornkamm in einer Predigtmeditation: „Das bedeutet … unsere Predigt über Phil 2,5-11 … muß die Form dieses Liedes zerbrechen und die in ihm verkündete Geschichte so ausrichten, daß sie nun doch als die uns eröffnete und uns erlösend und befreiend angehende Geschichte vernehmbar wird.” Genau dies tut der Evangelist, was wiederum dem Prediger ermöglicht, den Hinweis auf Glauben aufzunehmen und Gottes Gegenwart an der Person und Geschichte Jesu zu veranschaulichen.

Wir begegnen hier einem zentralen theologischen Anliegen Günther Bornkamms, das er vor allem in seinem Jesus-Buch entfaltet hatte: Die unmittelbare Begegnung mit Jesus, den er in der Predigt zum einen als „Fremdling” zeichnet, der am Kreuz scheitert, souverän gegenüber unseren menschlichen Wünschen und Gott gehorsam seinen Weg geht. In dieser Geschichte und Begegnung - so Bornkamm - beginne die erwartete Endzeit, was im Übrigen gut zu der dem Evangelium zugeschriebenen präsentischen Eschatologie passt. Bemerkenswert sind hier die beiden der Gemeinde sicher gut vertrauten Kirchenliedzitate, die er in diesem Zusammenhang einführt. Einmal zur Charakterisierung der Intention der ersten Erzähler: „Hier ist der Mann, der helfen kann, bei dem nie was verdorben”, das auf den (damals oft in Konfirmationsgottesdiensten gesungen) Choral „Such wer da will ein ander Ziel” (EG 346) verweist, der zur Entscheidung für den Herrn, die „Freudensonn”, aufruft. Ein typischer Zug der von der Wort-Gottes-Theologie bestimmten Homiletik. Zum anderen charakterisiert er Jesus als den „Freudenmeister”, eine Referenz auf „Jesu meine Freude” (EG 396), der das Thema „Freude” kreuzestheologisch entfaltet: „Denen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein.” Entsprechend erscheint Jesus in dieser Passage nicht als auf der Erde wandelnder Gott, sondern wird zur Welt und ihrer (Wein-)Freude kontrastiert, deren Angebote zur Lebenssteigerung er paradoxerweise überbietet: „Seine Wundertat einzig und allein als Hinweis auf ihn und Wegzeichen zu ihm verstehen … als Inbegriff und Bild der überschwenglichen, vollkommenen Freude, die er zu wecken vermag. So und nicht anders ist das Kana-Wunder eine Epiphanie Jesu, des Freudenmeisters. Unsere Geschichte sagt damit allerdings unmissverständlich ein striktes Nein zu unserer Lebensgier, … er verweigert sich, um zu geben, Größeres zu geben, als wir uns träumen lassen: vollkommene Freude, seine Freude, … Freude, die mehr ist als die Daseinslust, der wir nachjagen, mehr als Stimmung und Überschwang des Gefühls; vollkommene Freude unter dem geöffneten Himmel, die Freude der Gewissheit, dass diese unsere rätselhafte, hungernde und leidvolle Welt niemals aufhören wird, Gottes geliebte Schöpfung zu sein, für die er sich das Liebste und Teuerste, seinen Sohn, vom Herzen gerissen hat. Das ist der Sinn der Epiphanie, die das Kana-Wunder bezeugt: ein Geschehen hier unter uns, Gegenwart, wo immer er auf den Plan tritt, und nicht eine erträumte Zukunft; Freiheit inmitten aller unserer Bedrängnisse, Freude auch gegen alle unsere Schmerzen.”

Diese Freude ist jetzt nur den Glaubenden zugänglich, soll aber über diese der ganzen Welt zugänglich werden. Der Prediger spürt jedoch, dass diese eschatologische Freude gegenwärtig weder in der Gesellschaft noch in der Kirche selbst Widerhall findet. Er sieht die Kirche sogar in der Gefahr, durch die Revitalisierung der traditionellen futurischen Eschatologie die Gegenwärtigkeit des Heils nicht mehr bezeugen zu können. Nachdem er bisher vor allem biblisch-theologisch argumentiert hatte, führt er hier interessanterweise eine zweite Evidenzquelle ein: ein Zitat des Psychotherapeuten Walter Schulte, der wiederum das Wort eines Arztes über den Schlaf zitiert: „Der Schlaf … ist eine Taube. Wenn wir die Hand ruhig halten, dann setzt sie sich darauf. Wenn wir nach ihr greifen, fliegt sie fort.” So lässt Günther Bornkamm den Psychologen begründen, warum sich die Kirche der Gegenwart dem Ruf verweigern sollte, sich zu aktiv in politische Debatten zu engagieren. Stattdessen solle sie durch vorbildhaftes Vertrauen der Welt zeigen, was ein gewisser Glaube ist. Dadurch könne die Freude wieder Raum und Wirksamkeit in der Welt gewinnen.

Auch in diesem letzten Abschnitt der Predigt ist der Vergleich mit der ersten veröffentlichten Predigt Günther Bornkamms instruktiv und zeigt die Kontinuität in seinem Denken und die Prägung durch den Kirchenkampf. Während dort Gesellschaft und Politik der Studentengemeinde zumuten, das Semester in „Unruhe” zu beginnen und verunsichern, ist es in dieser Predigt die innere Unruhe der Kirche, die um ihre Stabilität und gesellschaftliche Relevanz fürchtet. Dies halte sie davon ab, glaubwürdig die Freude, die Jesus bringe, zu bezeugen. In beiden Predigten taucht also am Ende das Motiv der „Ruhe” auf. Die „Ruhe” Jesu angesichts des Sturmes steht in der ersten im Kontrast zur Unruhe der Jünger, sein Schlaf im Gegensatz zur Schlaflosigkeit der Jünger, sein Schweigen schafft den Raum zum Gebet, zum Gottvertrauen und damit zu einer glaubwürdigen Existenz der Kirche. In der zweiten ist es das Bild der „ruhigen Hand”, die heute den schlaflosen Mitgliedern einer verunsicherten Kirche, den Raum zum Glauben und zu einer überzeugenden Existenz öffnen könnte. In beiden Fällen ermutigt der Prediger die Kirche, durch ihren Glauben mit Zuversicht auf Jesus zu verweisen und ihm zu vertrauen.

 

III. Wie diese Predigt zeigt, bleibt der Prediger Günther Bornkamm immer als historisch-kritisch arbeitender Exeget erkennbar. Drei Züge seiner exegetisch-homiletischen Arbeit treten hier besonders hervor.

Zuerst fällt die konsequente Kontextualisierung des Predigttextes in seiner religiösen und kulturellen Welt auf, sodass der Prediger nicht nur in einer autonom gedachten Textwelt der Perikope verbleibt, sondern diese mit der realen Welt in Verbindung bringt. Diese Kontextualisierung dient freilich nicht dazu, den Abstand des antiken Textes zum modernen Weltverständnis zu akzentuieren, sie ist vielmehr von dem Vertrauen getragen, dass sich in beiden Verstehenshorizonten genügend Berührungspunkte finden, um Verstehen zu ermöglichen.

Als Vertreter der Kerygmatheologie gibt Günther Bornkamm zweitens - wie oben gezeigt - der theologischen Aussage der Predigt die Priorität. Dies gibt ihm die Freiheit, um der theologischen Aussage der Predigt willen, von der vorgegebenen formalen Gestaltung der biblischen Überlieferung abzuweichen. Für die Architektonik seiner Predigten gilt: „form follows function”.

Durch diese Festlegung vermeidet Günther Bornkamm drittens eine einlinige Anbindung von Predigten an die Exegese. Am Beispiel von Bornkamms Umgang mit Literarkritik und Formgeschichte wird deutlich, wie er alternative Deutungen erschließt und in seine Predigt einbringen kann. Der rekonstruierten ursprünglichen Gestalt der Überlieferung wird nämlich nicht im Sinne einer Idealisierung des Ursprungs eine besondere Dignität zugesprochen. Sie ist nur der Ausgangspunkt weitergehender theologischer Reflexionen in der Überlieferungsgeschichte, die er in seiner Predigt nachzeichnet. Es entsteht so etwas wie eine inspirierende theologische Polyphonie in der Diachronie. Verschiedene Erinnerungen an Jesus und alternative Deutungen seines Wirkens kommen in der Predigt zur Sprache und können im Blick auf ihre theologische Leistungsfähigkeit beurteilt werden. Den Hörerinnen und Hörern wird so die Dynamik des Überlieferungsprozesses transparent gemacht und plausibilisiert. Heute würde eine solche Pluralität von Positionen wohl als eine Variation von Metaphern, Rollen oder Handlungsoptionen auf der synchronen Ebene gestaltet. Insofern mag es kontraintuitiv und etwas aus der Zeit gefallen sein, anhand dieser eindrucksvollen Predigt heutzutage den Reiz und die Chancen diachronen Arbeitens hervorzuheben. Allerdings sollte man bedenken: Kontraintuitive Ideen haben durchaus kreatives und innovatives Potenzial.

 

Predigt über Joh 2, 1-11 („Das Zeichen von Kana“) am 14. Januar 1973 (2. Sonntag nach Epiphanias)

 

LITERATURHINWEISE

Bauer, Walter (1925): Das Johannesevangelium. 2., völlig neubearb. Aufl. Tübingen: Mohr (Handbuch zum Neuen Testament, 6).

Bornkamm, Günther (1935): Die Stillung des Sturmes. In: Gottes Herrschaft. Flugschriften für die evangelische Kirche im Osten. Heft 1, S. 7–13.

Bornkamm, Günther (1954): Matthäus als Interpret der Herrenworte. In: Theologische Literaturzeitung 79, S. 341–346.

Bornkamm, Günther (1959): Palmarum. Phil 2, 5-11. In: Georg Eichholz (Hg.): Herr, tue meine Lippen auf. Bd. 2. Die altkirchlichen Episteln. Wuppertal: Müller Verlag, S. 224–235.

Bornkamm, Günther (1973): Das Zeichen von Kana. 2. Sonntag nach Trinitatis. In: Lothar Perlitt (Hg.): Universitätsgottesdienst. (1968 - 1973). Edmund Schlink z. 70. Geburtstag am 6. März 1973. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht (Göttinger Predigthefte, 30), S. 104–109.

Bultmann, Rudolf (1978): Das Evangelium des Johannes. 20. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 2).

Bultmann, Rudolf; Bornkamm, Günther (2014): Briefwechsel 1926-1976. Hg. v. Werner Zager. Tübingen: Mohr Siebeck.

Deeg, Alexander (2015): 70 Jahre „Göttinger Predigtmeditationen“ oder: „ein gemeinsames Bemühen, das Wort Gott im Zeugnis der Schrift […] vernehmlich zu machen“. In: Göttinger Predigtmeditationen 70, S. 5–11.

Hahn, Ferdinand (2008): Günther Bornkamm (1905-1990). In: Cilliers Breytenbach und Rudolf Hoppe (Hg.): Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, S. 137–145.

Hild, Helmut (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand u. Erneuerung; Ergebnisse e. Meinungsbefragung. Gelnhausen, Berlin: Burckhardthaus-Verlag (Empirische Untersuchungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland).

Hochschild, Ralph (2020): Günther Bornkamm (1905 -1990). In: Johannes Ehmann, Volker Herrmann, Gerhard Schwinge, Gottfried Seebaß und Udo Wennemuth (Hg.): Lebensbilder aus der evangelischen Kirche in Baden im 19. und 20. Jahrhundert. Band III: Heidelberger Universitätstheologie. Ubstadt-Weiher: verlag regionalkultur (Sonderveröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden, 10), S. 408–419.

Lührmann, Dieter (1980): Bibliographie Günther Bornkamm. In: Dieter Lührmann (Hg.): Kirche. Festschrift für Günther Bornkamm zum 75. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Günther Bornkamm. Tübingen: Mohr, S. 507–525.

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Seeliger-Zeiss, Anneliese (1986): Ev. Peterskirche Heidelberg. Universitätskirche. 1. Aufl. München: Schnell & Steiner (Kunstführer, 1595).

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Thyen, Hartwig (2005): Das Johannesevangelium. Tübingen: Mohr Siebeck (Handbuch zum Neuen Testament, 6).

Weis, Markus (1985): Das Wissenschaftlich-Theologische Seminar. Kisselgasse 1. In: Peter Anselm Riedl (Hg.): Die Gebäude der Universität Heidelberg. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg (Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 -1986, 5), S. 304–308.


 

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Letzte Änderung: 25.11.2022
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