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Der feine Unterschied

Wie kleine Wörter das Verständnis von Sprache steuern
von Óscar Loureda

Sie sind meist winzig, gelten gemeinhin als verzichtbar und werden als unnütze „Füllwörter“ gerne aus Texten herausgestrichen. Und doch sind sie nicht ohne Belang: Partikeln haben in der schriftlichen wie mündlichen Kommunikation wichtige Aufgaben. Die unscheinbaren Elemente verhalten sich in der Kommunikation wie Schilder im Straßenverkehr: Notfalls kommt man auch ohne sie aus – aber sie erleichtern das Leben und helfen, Unfälle zu vermeiden.

Nicht nur in der Materie, auch in der Sprache gibt es Partikeln. Dabei handelt es sich um kleine Einheiten wie ja, bloß, denn, aber oder doch. However oder therefore sind Beispiele für Partikeln im Englischen, im Italienischen finden sich allora oder infatto, im Französischen par contre oder même und im Spanischen es decir oder sin embargo. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die kleinen unscheinbaren Einheiten werden oft für „belanglos“ gehalten. Aber sind sie es tatsächlich?

Betrachten wir ein Beispiel aus dem Alltag: Zwei Studentinnen unterhalten sich über einen neuen Kommilitonen:
Silvia: Hast Du den gesehen? Der sieht zwar gut aus, ist aber unsympathisch.
Inés: Er ist zwar unsympathisch - aber er sieht gut aus.

Beide Frauen bewerten ihren Kommilitonen vordergründig gleich als unsympathisch und gut aussehend – das Wort aber in der Äußerung von Inés indes lässt erahnen, dass sie sich wohl im Unterschied zu Silva dennoch mit dem neuen Kommilitonen einlassen würde. Die Partikel aber weist darauf hin, dass die Schlussfolgerung aus dem zweiten, nicht aus dem ersten Glied der Äußerung hervorgehen muss: Inés bewertet das Aussehen höher als die Sympathie – Silvia tut das nicht. Partikeln ermöglichen es uns fast immer zu verstehen, welche Möglichkeiten das Leben bietet ..., und welche nicht. So ganz „belanglos“ können sie also doch nicht sein.

Jede Sprache verfügt über Partikeln. In der Kommunikation funktionieren sie ähnlich wie Verkehrsschilder, was folgendes Beispiel verdeutlichen mag: Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Auto von Heidelberg nach Berlin und auf der gesamten Strecke steht kein einziges Verkehrsschild. Da Sie ein guter Fahrer sind und über gewisse kognitive Fähigkeiten verfügen, werden Sie Berlin zweifelsohne auch ohne Verkehrsschilder erreichen. Aber Sie werden vermutlich später ankommen, Sie werden von der Reise ziemlich erschöpft sein oder möglicherweise sogar einen Unfall verursacht haben. Eine Fahrt ohne Verkehrsschilder ist also durchaus denkbar, ebenso eine Kommunikation ohne Partikeln – aber ohne Partikeln wird es mehr Zeit und Mühe kosten, Informationen zu verarbeiten.

Traditionell gelten Partikeln als überflüssig. Man hält sie für „Füllwörter“ (also, beziehungsweise, sozusagen), die man ebenso gut streichen kann, man benutzt sie als sprachliche Selbstgefälligkeiten gegenüber einem Gesprächspartner (ne, oder, gell) oder wertet sie gar als Flickwerk und „leere Wörter“ ab.

Die geringe Aufmerksamkeit, die Partikeln bislang entgegengebracht wurde, lässt sich auf die Reduzierung der Sprache auf einen einfachen Code zurückführen, der die Realität repräsentiert. Dies geht einher mit der Reduktion der Kommunikation auf ein automatisches Übermitteln und Aufnehmen von Inhalten. Eine die Realität repräsentierende Sprache differenziert Dinge mittels intuitiver Konzepte (conceptual meaning): So unterscheidet man etwa im Deutschen, Englischen, Französischen und Galizischen je nach Beweglichkeit zwischen (dt.) Leiter und Treppe beziehungsweise (en.) ladder/stairway, (fr.) échelle/escalier, (gal.) escaleira/escada) – im Spanischen jedoch nicht (sp.) escalera.

An der zweiten grundlegenden Funktion der Sprache – der Kommunikation – sind immer zwei beteiligt: ein Sprecher und ein Hörer. Der Sprecher übermittelt einem Hörer die Absicht, etwas zu kommunizieren, und der Hörer versucht, einen Sinnzusammenhang herzustellen. Allerdings beschränkt sich die Erfassung des Inhalts nur selten auf das Gesagte allein: Die Sinnerfassung erfordert eine Interpretation, die auf der aktualisierten kontextuellen Information basiert (procedural meaning).

Auch hierzu ein Beispiel: Im ersten Teil des Films „Der Pate“ verspricht der Mafiaboss Vito Corleone, dass er dem Sänger Johnny Fontane zu einem Auftrag verhelfen wolle, indem er einem Musikproduzenten ein Angebot unterbreite, das dieser „nicht ablehnen“ könne. Der Zuschauer ahnt, dass es sich bei dieser Formulierung mitnichten um die Ankündigung eines finanziell besonders großzügigen Angebots, sondern um eine Drohung handelt. Die Ahnung bestätigt sich wenig später: Corleone lässt dem Musikproduzenten eine Pistole an den Kopf halten und stellt ihn vor die Wahl, entweder zu sterben – oder seine Unterschrift unter den für den Sänger vorbereiteten Vertrag zu setzen.

Kognitive Prozesse sind also an der Kommunikation und ihrem Gelingen maßgeblich beteiligt. Wichtig daran ist die Repräsentation einer Realität durch einen Sprecher – und der Versuch eines Hörers oder Lesers, das tatsächlich Kommunizierte zu rekonstruieren. Dieser Rekonstruktionsprozess ist „inferentiell“. Die beiden Aussagen Katharina und Alexander heirateten und bekamen ein Kind beziehungsweise Katharina und Alexander bekamen ein Kind und heirateten vermitteln auf den ersten Blick dieselbe Information – zwei Menschen haben ein Kind bekommen und sind verheiratet. Aber ohne Schussfolgerungen (Inferenzen) auf der Grundlage bestimmter Ideen oder Annahmen – in der Kommunikation gibt es nur selten absolute Wahrheiten – würden wir nicht wirklich verstehen, was uns gesagt wurde: Im zweiten Fall kann man schlussfolgern, dass Katharina und Alexander geheiratet haben, weil sie ein Kind bekamen (kausale Relation); im ersten Fall hingegen liegt die Schlussfolgerung, dass die Schwangerschaft der Grund für die Heirat war, nicht nahe (temporale Relation).

Der Prozess der Rückgewinnung von Information erfolgt stufenweise. Manchmal inferieren wir alles, was man uns sagen wollte, wie die folgende Szene zeigen soll, die auf einer Cocktailparty spielt: Katrin langweilt sich, ihr Freund David hingegen genießt die Gesellschaft und schenkt seiner Partnerin nur wenig aufmerksamkeit:
Katrin sagt: Einige Gäste sind bereits gegangen.
David antwortet: Und trotzdem haben wir viel Spaß.

David vermutet – und inferiert richtig –, dass Katrin das Gehen einiger Gäste zum Anlass nehmen möchte, die für sie öde Party ebenfalls zu verlassen. Wenn auch Katrin die Antwort von David richtig inferiert, wird sie wissen, dass David noch nicht nach Hause gehen möchte ... In anderen Fällen fällt es uns schwerer, Dinge, die uns gesagt wurden, korrekt zu deuten: Das ist oft bei ironischen Aussagen der Fall, die der Hörer nicht versteht, weil er sie zunächst wörtlich interpretiert.

Wenn es also bei der Kommunikation darum geht, einen Hörer dazu zu bringen, seine kognitiven Verständnisprozesse zu aktivieren, und wenn man außerdem davon ausgeht, dass es keine perfekte Heuristik gibt – es gibt keine automatische Dekodierung –, werden „Anweisungen“ benötigt. Diese Anweisungen können unterschiedlicher Art sein: Bei der Äußerung Claudia hat es geschafft, ihr Buch fertig zu stellen  wird bereits mit dem Verb schaffen inferiert, dass es die Autorin eine gewisse Anstrengung gekostet hat. Wenn es Claudia hingegen leicht gefallen wäre, das Buch zu schreiben, hätte es der Sprecher beim fertiggestellen belassen.

Grundlegend ist, dass es in der Sprache eine Gruppe von kleinen Wörtern mit genau dieser Funktion gibt: Partikeln schränken die Interpretation der Einheiten mit repräsentationaler Bedeutung ein. Partikeln sind nicht zwingend notwendig, um Äußerungen zu verstehen – unsere Weltkenntnis ist zum Verständnis meist ausreichend genug. Aber sie machen die Kommunikation leichter.

In den folgenden beiden Beispielsätzen dürfte der Verarbeitungsaufwand, der notwendig ist, um die Satzverknüpfung zu verstehen, ähnlich groß sein:
Es regnet. Ich werde nicht mit dem Hund in den Park gehen. / Es regnet. Deswegen werde ich nicht mit dem Hund in den Park gehen.

Bei den beiden Aussagen Frank kommt aus Heide; trotzdem ist er gesprächig und Frank kommt aus Heide; deswegen ist er gesprächig hingegen passt sich die repräsentationale Bedeutung an die von den Partikeln vorgegebene Anweisung zur Informationsverarbeitung an: Die Tatsache, aus Heide zu kommen, ist nicht gleichbedeutend mit einer besonderen Tendenz zu mehr oder weniger Gesprächigkeit. Im Gegensatz dazu ist eine solche Anpassung möglich im Fall der Aussage Seine Familie ist chinesischen Ursprungs, und trotzdem ist er ein hervorragender Stierkämpfer – nicht aber in der Aussage Seine Familie ist chinesischen Ursprungs, und deswegen ist er ein hervorragender Stierkämpfer. Die von den Partikeln vorgegebenen Anweisungen sind konstant. Deshalb kann sich die konzeptuelle Bedeutung an die prozedurale anpassen – nicht aber umgekehrt.

 

 


Wie viel Aufmerksamkeit verlangen Partikeln dem Übersetzer ab?

Nach vierzig Jahren Partikelnforschung verfügen wir über zahlreiche theoretische und deskriptive Werke in verschiedenen Sprachen, vor allem auf Spanisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Auch wir haben kürzlich mit der Veröffentlichung eines Bandes (La investigación sobre marcadores del discurso en español, hoy, Madrid, Arco/Libros, 2010) einen Beitrag zur Partikelnforschung geleistet und darin die Forschung der letzten zwanzig Jahre zusammengefasst.

Nun ist es an der Zeit, neue Wege zu gehen: Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts haben wir uns gemeinsam mit dem Psychologischen Institut und dem Seminar für Deutsch als Fremdsprachenphilologie das Ziel gesetzt, im Experiment zu messen, wie viel Aufmerksamkeit Partikeln einem Dolmetscher oder Übersetzer abverlangen.

Partikeln sind, wie wir erfahren haben, Einheiten, die Textinferenzen in eine potenziell andere Richtung lenken. Sie haben zudem prozedurale Bedeutung. Wir haben deshalb versucht, folgende drei Fragen mithilfe objektiv messbarer Blickbewegungen („eye tracking“) zu beantworten:
–    Sind Partikeln bei der Spontanübersetzung und der Simultanverdolmetschung tatsächlich ein Aufmerksamkeitsschwerpunkt?
–    Beeinflussen Partikeln den Verarbeitungsaufwand des Textes? (quantitative Messung)
–    Haben Partikeln Einfluss auf die angewandten Translationsstrategien? (qualitative Messung)

Diese Fragen haben zwei komparativ ausgerichtete Dissertationen gestellt. Um sie zu beantworten, haben wir uns für die Untersuchung von Translationsprozessen mit niedriger Planbarkeit entschieden (Spontanübersetzen und Simultandolmetschen).

Wie erste Ergebnisse zeigen, scheinen Partikeln in beiden Prozessen als Anweisung für die Informationsverarbeitung grundlegend zu sein. Sowohl der Übersetzer als auch der Dolmetscher muss eine äquivalente Repräsentation des ausgangssprachlichen Textes in einer anderen Sprache finden. Er muss darüber hinaus spontan einen Text in eine andere Sprache transferieren und es einem Leser oder Hörer dabei ermöglichen, dieselben Inferenzen zu machen wie der Empfänger des Ausgangstextes. Sie sollen es vor allem erlauben, Informationen vorauszuahnen – so, wie es Verkehrsschilder tun.

Übersetzer haben es besonders schwer: Sprachen verfügen in der Regel nicht über äquivalente Partikeln; und selbst dort, wo Sprachen scheinbar über analoge Mittel verfügen, müssen deren funktionale Eigenschaften nicht unbedingt übereinstimmen. Das deutsche einerseits ... andererseits etwa hat stärkere Anwendungsbeschränkungen als das spanische por una parte ... por otra parte. Denn die deutschen Partikeln verknüpfen ausschließlich gegenseitige Argumente.

Selbst dort, wo zwei Sprachen über äquivalente Partikeln mit analogem Verhalten im Text verfügen, muss der Dolmetscher/Übersetzer beachten, dass es möglicherweise unter kommunikationspragmatischen Aspekten in einer Sprache angebracht ist, eine Partikel zu verwenden – während dies in der anderen Sprache nicht üblich ist, da Inferenzen auf anderen Wegen erreicht werden. Die Unterschiede, die der Übersetzer betrachten muss, sind also sprachspezifisch.

Wie man aus einem 15 Millionen Wörter umfassenden Korpus ersehen kann, wird in Zeitungstexten beispielsweise (sp.) es decir drei Mal häufiger verwendet als (en.) that is. Zudem kann es je nach Textsorte oder Kontext Unterschiede in der Partikelnverwendung geben. Bei uns im Seminar erstellte wissenschaftliche Arbeiten konnten etwa nachweisen, dass die Verwendung von Partikeln im Spanischen und Englischen je nach Kontext variiert. Es ist beispielsweise zu beobachten, dass die Tendenz, Argumente mittels Partikeln wie einerseits ... andererseits, erstens, zweitens zu ordnen, in geschichtswissenschaftlichen oder literarischen Texten größer ist als in Texten aus den Sprachwissenschaften, aus der Chemie oder Biologie. Darüber hinaus war festzustellen, dass die Reformulierung im Spanischen und im Englischen (angedeutet durch Partikeln wie (sp.) es decir, esto es oder (en.) that is, in other words) in Texten aus den Bereichen Geschichte, Literatur oder Sprachwissenschaft häufig vorkommt – jedoch kaum in Texten aus der Physik, Biologie oder Chemie.

Alles in allem lassen unsere korpusgestützten Daten darauf schließen, wie der Übersetzer seinen zielsprachlichen Text an die Traditionen des jeweiligen Fachbereichs anpassen und Inferenzen so leiten kann, wie es in eben jenem Bereich üblich ist, damit der Text nicht „fremd“ erscheint. Doch nicht nur für Sprachexperten soll unsere Forschung einen Nutzen bringen, auch dem „normalen“ Sprecher soll sie dienen: Die Entdeckungen der Partikeln-Lexikografie werden wir demnächst in ein mehrsprachiges, online verfügbares Wörterbuch einbringen.

Zugegeben: Partikeln sind klein – so klein wie die Spitze eines Eisbergs. Doch unter der Spitze des Eisbergs ist Erstaunliches zu entdecken. Partikeln geben über nicht weniger Aufschluss als über die Einstellung des Sprechers (um ehrlich zu sein, wirklich, zweifellos) oder organisieren als argumentative (außerdem, trotzdem, obwohl), reformulierende (nämlich, das heißt) oder strukturierende Verbindungen (einerseits ... andererseits) den gesamten Text.

Sie sind ebenso ein Versuch, den Gesprächskontakt zu kontrollieren. Denn wer in einem Gespräch häufig nicht wahr? oder gell? wiederholt, tut dies nicht ohne Grund: Er heischt um die Unterstützung des Gesprächspartners. Es ist teuer und Es ist teuer, gell? haben nicht die gleiche Bedeutung. Im ersten Fall wird etwas behauptet – im zweiten Fall sucht der Sprecher nach Bestätigung oder Zustimmung.

Nicht zuletzt steuern Partikeln den Fokus der Information: Im Satz Katharina hat sogar in Mathematik gute Noten bekommen wird in Mathematik durch die Partikel sogar hervorgehoben. Als Hörer geht man infolgedessen davon aus, dass Katharina auch in anderen Fächern gute Noten bekommen hat – dass aber eine gute Bewertung im Fach Mathematik nicht unbedingt zu erwarten war. Die Partikel sogar transportiert also aufgrund ihrer Bedeutung eine ganz bestimmte Information: etwas ist unwahrscheinlicher als etwas anderes.

Kurz und gut: Partikeln enthalten zu viele Informationen, um ohne Belang zu sein. Sie sind es wert, dass wir ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken, nicht wahr?

 

Prof. Dr. Óscar Loureda  

Prof. Dr. Óscar Loureda hat seit dem Jahr 2009 den Lehrstuhl für Spanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft am Seminar für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg inne. Der Philologe wurde an der Universidad de La Coruña (Spanien) promoviert, wo er von 2001 bis 2008 in der Lehre und Forschung tätig war. Als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung trug er in den Jahren 2005 bis 2007 maßgeblich zum Aufbau des Eugenio Coseriu-Archivs der Universität Tübingen bei. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen vor allem im Bereich der Textgrammatik, der Texttypologie und der Textlinguistik.

Kontakt: oscar.loureda@iued.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 17.05.2011
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