Heidelberg 1809 oder Der Sommer der Ernüchterung

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Mittwoch, 5. März 2008 (ungekürzte Fassung)



 

Romantiker und Spätaufklärer im geistigen Kampf: Wie August Böckh die Philologie rechtfertigte

In der gewöhnlichen Wahrnehmung der Institutionengeschichte der deutschen Bildung und Wissenschafl ist 1809 ein eher unauffälliges Jahr. Wir befinden uns in der Niemandszeit zwischen Niedergang und Auflösung zahlreicher Universitäten des alten Reiches und der Gründung neuer Hochburgen des organisierten Geistes in Berlin und Bonn in den Jahren 1810 und 1818. An manchen Universitäten der vornapoleonischen Ära mag der Blick auf das, was von der alten Bedeutung geblieben war, und auf das, was sich gerade eben zu formieren begann, skeptischer ausgefallen sein als an anderen.

In Heidelberg muss nach den Jahren des Überschwangs, als das Fieber der Jenaer Frühromantik für eine kurze Zeit auf die Stadt am Neckar übergegriffen hatte, eine große Ernüchterung eingekehrt sein. Schon 1806 waren Sophie Mereau-Brentano im Kindsbett, Karoline Günderrode von eigener Hand gestorben. Im Herbst 1808 hatte nach Görres und Brentano schließlich auch Achim von Arnim, ermüdet vom Dauerstreit mit dem Spätaufklärer Voss, Heidelberg verlassen. Im Frühjahr 1809 kehrte auch Friedrich Creuzer, der neuhumanistisch-romantische Denker der Philosophischen Fakultät, seiner Hochschule den Rücken – wenngleich nur für einen Sommer. Im April 1809 folgte er einem Ruf an die Universität Leiden, um schon im Oktober, ohne sein neues Amt auch nur angetreten zu haben, an seine alte Wirkungsstätte zurückzukehren.

An seine Stelle war inzwischen der junge August Böckh gerückt, der 1807 einundzwanzigjährig, auf ein Extraordinariat an Creuzers Seminar berufen worden war. In jenem Sommer der Ernüchterung las Böckh zum ersten Mal über die "Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften", eine Vorlesung, die er schwerlich gehalten hätte, wenn Creuzer, der seinerseits beträchtlichen Ehrgeiz auf die konzeptionelle Profilierung der Philologie verwandt hatte, in Heidelberg verblieben wäre. So aber kommt es im doppelten Vakuum des Verlusts der institutionellen Zentren des Faches (besonders Halle) einerseits, des örtlichen Kopfes der Erneuerungsbewegung andererseits zur ersten Erprobung eines neuen philologischen Paradigmas.

In jenem Sommer fallen in der Vorlesung des noch wenig bekannten Böckh zum ersten Mal die späterhin berühmt gewordenen Begriffe und Formeln von der "Erkenntnis des Erkannten" und der "unendlichen Approximation" als der Aufgabe der Philologie. Böckhs Programmschrift, die erst 1877 von Ernst Bratuschek aus dem Nachlass ediert wurde, nimmt ihren Ausgang von dem Eingeständnis eines Unbehagens an der epistemischen Form des Fachs, das zu lehren er soeben auf seinen philologischen Lehrstuhl berufen worden war. Die Form der Philologie war trotz der Anstrengungen früherer Generationen noch nicht gefunden. Es war vielleicht sogar der Verzicht auf die Kontur, die das Fach über die Zeiten in Brot und Stellung am Tische der großen Drei (Theologie, Jura, Medizin) erhalten hatte. Die Maximalpositionen Richard Bentleys und Friedrich August Wolfs, die die Philologie zur Leitwissenschaft der historisch-kritischen Aufklärung machten, waren auf Dauer nicht durchzusetzen und banden das Überleben der Disziplin an das Überragen einzelner Intelligenzen, die das Fach auf der Höhe des je bestimmenden Diskurses zu halten vermochten.

So vermisst Böckh noch einmal das praktische und theoretische Feld der Philologie. Ganz in der Weise der aporetischen Frühwerke des Platon nähert sich der durch Schleiermachers Schule gegangene Platoniker Böckh seinem Thema auf dem Wege der Ausscheidung des Einseitig-Ungenügenden: Philologie ist nicht Altertumsstudium, nicht Studium bloß der Sprache oder der Literatur, auch nicht Polyhistorie, im Gegenteil. Aber auch in der Kritik geht die Idee der Philologie nicht auf. Zum Studium der Humanität trägt sie wohl bei – aber es füllt sie nicht aus und kennzeichnet sie nur an einem unmaßgeblichen Teil.

Kant wird dafür gescholten, dass er die Philologie als "kritische Kenntnis der Bücher und Sprachen (Literatur und Linguistik)" bestimmte, nach Böckh die Angabe "nur eines Aggregats verschiedener Dinge ohne wissenschaftlichen Zusammenhang".

Dagegen versteht Böckh als "die eigentliche Aufgabe der Philologie das Erkennen des vom menschlichen Geist Produzierten, das heißt des Erkannten". Von der Geschichte wird sie dadurch unterschieden, dass sie nicht an der Darstellung des Geschehenen interessiert sei, sondern nur am "Wiedererkennen der in der Geschichtschreibung niedergelegten Geschichtskenntnis, also der Geschichte der Geschichtsschreibung". Das gesprochene oder geschriebene Wort bestimmt der Heidelberger Philologe als den "ursprünglichsten philologischen Trieb" und die Philologie als eine "der ersten Bedingungen des Lebens, ein Element, welches in der tiefsten Menschennatur und in der Kette der Kultur als ein ursprüngliches aufgefunden wird".

Das sind Einsichten, die gelegentlich zitiert, aber nur selten in ihrer herausfordernden Radikalität begriffen worden sind. Den schärfsten Einwand gegen die neue Auffassung des philologischen Geschäfts formulierte der versierte Methodologe selbst und kleidete ihn sinnigerweise in die Form des Zitats. "Sagt mir doch, ihr Gelehrten", so lässt Böckh Laurence Sternes Romanheld Tristram Shandy vernehmen, "sollen wir denn nur immer in kleinere Münze verwechseln und das Kapital so wenig vermehren? Sollen wir bis acht Tage nach Ewig immerfort, Festtag und Werkeltag sitzen, bestimmt die Reliquien der Gelehrsamkeit zu zeigen, wie Mönche die Reliquien ihrer Heiligen, ohne auch nur ein einziges Wunderwerk damit zu tun?"

Bei der Erkenntnis des Erkannten liegt, so Böckh, "mehr Produktion in der Reproduktion als in mancher Philosophie, welche rein zu produzieren vermeint". Die Philologie verfüge sogar über ein eigentümliches Wissen, das im Denken über das fremde Erkennen gründe. In der Reproduktion werde das Fremde zum Eigenen und müsse dann doch so weit distanziert werden, dass es im Akt des philologischen Urteils als ein Objektives seine Stelle im Ganzen der Erkenntnis des Erkannten finden könne. Das Geschäft der Philologie ist indessen unabschließbar: "Die Philologie ist, wie jede Wissenschaft, eine unendliche Aufgabe für Approximation."

Sosehr sich Böckhs Methode von Herders Sprachphilosophie, Schleiermachers Hermeneutik und Schellings Figur des Künstlerphilologen beeinflusst zeigt, so originell ist doch die programmatische Verve, mit er die Philologie auf sich selbst verweist. Es gehört zu den Ironien der Rezeptionsgeschichte des Böckhschen Methodenwerks, dass es in seinen pragmatisch-enzyklopädischen Teilen stärker als in seinen formal-theoretischen Teilen gewirkt hat. Die "materialen Disziplinen der Altertumslehre", die in Böckhs Darstellung den zweiten Hauptteil bestreiten, ließen sich nicht auf Dauer dem Plan einer "umfassenden Bildung" integrieren, der dem Gestaltungswillen einer philologischen Idee unterstellt war.

In dem Maße, wie sie sich disziplinär verselbständigten, entfernten sich die materialen Altertumswissenschaften oft dauerhaft von jenem reflektierenden Zentrum der Böckhschen Philologie, das die wissenschaftliche Erkenntnis an ein Verfahren knüpfte, das man die Selbstrechtfertigung des philologischen Denkens nennen kann. So hat paradoxerweise der Erfolg, der Böckhs Methode beschieden war und ihn zu einem der wichtigsten Anreger noch der heutigen Kulturwissenschaften machte, das Legitimationsproblem einer "spekulativ" gedachten Philologie nicht gelöst, sondern im Gegenteil verschärft.

Als intrikater noch erwies sich schon bald die innerphilologische Situation. Mochte Böckh auch manchen Zeitgenossen von der Vernünftigkeit fortgesetzter Rechenschaftslegung überzeugen, die Hochburgen der Textkritik und Editionswissenschaft, besonders in Leipzig und Bonn, konnte er nicht gewinnen. Das philologische Feld zerfiel in zwei Lager, die sich mit erstaunlicher Hartnäckigkeit bis in die Gegenwart hinein behauptet haben: in die sogenannte Wort- und Sachphilologie. Man kann es einen doppelten Konstruktionsfehler nennen, dass Böckh, der später epochale althistorische und epigraphische Werke verfasste, dem textwissenschaftlichen Kern des philologischen Arbeitens zu fern stand, als dass er selbst die Idee der Philologie hätte glaubhaft verkörpern können, und dass die Sachphilologie bald eine merkwürdige Blindheit gegenüber dem Zentrum der Böckhschen Theoriebildung an den Tag legte, dem Glauben an die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes auch dort, wo kein textliches Zeugnis an ein fremdes Erkennen erinnert.

1811 verließ Böckh Heidelberg, um in Berlin eine überragende Lehr-und Forschungstätigkeit zu entfalten. In den 56 Jahren seines Wirkens in der Hauptstadt hat er seine Vorlesung über die "Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften" noch fünfundzwanzigmal wiederholt. Bis zuletzt stützte er sich dabei auf ein Kollegheft aus dem wundersamen Intermezzo jenes Sommers von 1809, als sich die Philologie im Schatten der großen Institutionen und ihrer glanzvollsten Vertreter auf sich selbst besann.
JÜRGEN PAUL SCHWINDT

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 01.11.2012
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