Prof. Dr. Christoph Schwöbel - Reformationstag über Mt 10,26-33

Predigt von Prof. Dr. Christoph Schwöbel
Gehalten zum Reformationstag 1999 in der Peterskirche Heidelberg

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

Liebe Gemeinde!

Wir feiern heute das Reformationsfest. Zusammen mit vielen anderen evangelischen Kirchen überall auf der Welt gedenken wir der Reformation Martin Luthers, die mit dem Datum des 31. Oktober 1517 verbunden ist, als Luther die 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg heftete. Jedoch – das Reformationsfest ist für uns mehr als das Stiftungsfest der evangelischen Kirche. Es ist eine Erinnerung an die Wiederentdeckung des Evangeliums, die das eigentliche Zentrum der Reformation ist. Reformation ist Neuorientierung der Kirche am Evangelium und darum ist die Reformation nicht ein abgeschlossenes geschichtliches Ereignis, das wir mit Gedenkfeiern würdigen könnten, sondern eine stets neue Aufgabe, die allen Christen immer wieder neu aufgegeben ist. Schauen wir auf Luther zurück, so weist er von sich weg auf das Evangelium als die Triebkraft der Reformation, die Quelle, aus der die Kirche stets neu ihr Leben gewinnt. Das Reformationsfest ist für uns darum ein Anlass, uns neu den Frage zu stellen: Wer sind wir als evangelische Christen? Wer sind wir als Christen, die aus dem Evangelium die Kraft ihres Glaubens gewinnen? Aus dieser Quelle wollen wir neu Orientierung gewinnen, für jeden und jede einzelne von uns, für unsere Kirche und für die Gemeinschaft aller Christen. Denn das sollte klar sein: Ist das Evangelium die Quelle des Christsein für jeden Christen, jede Christin, dann ist das Evangelium auch Grund und Grenze der christlichen Gemeinschaft, der Ökumene.
 Dieses Reformationsfest ist ein besonderes Ereignis. Aller Augen richten sich nicht nach Wittenberg, sondern nach Augsburg, wo in diesen Minuten die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von den Vertretern der römisch-katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund unterzeichnet wird. Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Angedeutet werden soll: Was 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg misslang, durch das Augsburgische Bekenntnis eine Einigung über die Lehre zwischen den Protestanten und den Altgläubigen herbeizuführen, soll nun, an der Schwelle des dritten christlichen Jahrtausends verwirklicht werden: eine Einigung zwischen Lutheranern und Römischen Katholiken in der Kernfrage des Dissenses. Das Programm der Feierlichkeiten in Augsburg kann seit Wochen im Internet abgerufen werden: unter www.rechtfertigung.de . Nach der Station im Dom zieht ab 10 Uhr eine Prozession nach St. Anna, wo um 10.45 Uhr der Gottesdienst mit Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung durch die Präsidenten des Lutherischen Weltbundes und den Vorsitzenden des Päpstlichen Rates zur Einheit der Christen beginnt. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre war von Anfang an umstritten. Nachdem sie in einem Prozess, den man nicht anders denn als theologische Geheimdiplomatie bezeichnen kann, von einigen Theologen des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen erarbeitet und – auch auf Drängen der Glaubenskongregation und der lutherischen Kirchen – überarbeitet worden war, kam sie an die kirchliche und theologische Öffentlichkeit. Und schon bald regte sich der Protest: Über 170 Theologieprofessoren und –professorinnen kritisierten das Dokument und stellten fest: Nein, es ist keine Übereinstimmung in Grundwahrheiten erreicht worden. Keine Übereinstimmung gibt es hinsichtlich des sola fide, hinsichtlich der Aussage, dass die Rechtfertigung allein aus Gnaden auch allein im Glauben angenommen sein will, im unbedingten Vertrauen auf Gott. Keine Übereinstimmung gibt es hinsichtlich des simul iustus et peccator, simul iusta et peccatrix der reformatorischen Rechtfertigunglehre, dass wir, die wir von Gott gerechtfertigt sind, dennoch unter der Macht der Sünde bleiben, solange wir leben, eben als gerechtfertigte Sünder, auch wenn der Kampf gegen die Macht der Sünde schon auf Golgatha entschieden worden ist. Keine Übereinstimmung gibt es darin, dass die guten Werke nichts zur Gnade oder deren Wachstum beitragen können, sondern vielmehr die Frucht des Glaubens sind. Und vor allem – keine Übereinstimmung gibt es hinsichtlich der Bedeutung der Rechtfertigungslehre als Formulierung des Zentrums des Evangeliums, dass „wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen können durch unser Verdienst, Werk oder Genugtun, sondern dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden (gratis) um Christi willen durch den Glauben“, wie es die Augsburgische Konfession, die von 1530, formuliert. Wenn die Rechtfertigungslehre die Mitte des Evangeliums zum Ausdruck bringt, dann kann es keinen Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre geben ohne praktische Konsequenzen für die ganze Lehre und das Leben der Kirche. An der Rechtfertigungslehre hängt das Priestertum aller Gläubigen, auf ihr beruht die Ablehnung eines unfehlbaren Lehramtes, ja sogar die Ordination der Frau ist in ihr begründet. Vor allem: Wenn wir in der Rechtfertigungslehre übereinstimmen, kann es angehen, dass Katholiken die seit 25 Jahren bestehende Einladung der evangelischen Kirche an den Tisch des Herrn nicht annehmen dürfen? Aber alle diese Konsequenzen schienen in der Gemeinsamen Erklärung sorgfältig ausgespart. Die Kritiker der Gemeinsamen Erklärung sahen sie als einen wichtigen Schritt in der Diskussion über die Rechtfertigungslehre, aber nicht als ihren Abschluss und so rieten sie den Synoden der lutherischen Kirchen, der Erklärung nicht ohne klärende Kommentare zuzustimmen: Ein Ja mit Einschränkung wurde empfohlen. So kam in den lutherischen Kirchen eine große Mehrheit für die Gemeinsame Erklärung zustande. Gerade für ihre engagiertesten Verfechter musste es darum eine große Überraschung gewesen sein, als die erste offizielle römische Stellungnahme vom 25. Juni letzten Jahres zugestand, es seien zwar wichtige Übereinstimmungen erzielt worden, aber es gebe auch ganz deutliche Differenzen: genau hinsichtlich der Punkte, die auch die Kritiker der Gemeinsamen Erklärung auf evangelischer Seite hervorgehoben hatten. Der Versuch, zu einer Einigung zu kommen, schien gescheitert, bis im Frühjahr dieses Jahres auf Initiative des bayrischen Altbischofs Hanselmann und Kardinal Ratzingers eine neue „Gemeinsame Offizielle Stellungnahme“ vorgelegt wurde, die in ihrem Anhang eine Interpretation der strittigen Punkte vorlegt, die sie für beide Seiten akzeptabel machen sollte. Wieder wurde geprüft und diskutiert. War nun Klärung erreicht? Einige wenige der Kritiker sahen ihre Anliegen voll berücksichtigt. Andere, diesmal auch solche, die zuerst die Zustimmung zur Gemeinsamen Erklärung empfohlen hatten, sahen diese Interpretation als noch problematischer an. Es schien als habe man sich zwar auf die Formeln geeinigt „sola fide“ („allein durch den Glauben“) und „simul iustus et peccator“ („Sünder und gerecht zugleich“), aber als könne jede Seite diese Formeln in ihrem Sinn interpretieren. Dass dies von römischer Seite auch so geschah, wurde schnell belegt. Wieder gab es eine Stellungnahme von Hochschullehrern der evangelischen Theologie, die in Heidelberg ihren Ausgangspunkt hatte, und der bisher 254 Hochschullehrer und Hochschulehrerinnen – darunter viele Heidelberger Theologieprofessoren - zustimmten. Darin werden die schwerwiegenden Bedenken gegen die Feststellung zum Ausdruck gebracht und vor ihrer Unterzeichnung gewarnt. Die Warnung ist auf Seiten der Kirchenleitungen missachtet worden.
 Was sollen wir nun hierzu sagen?  Ist die ganze Auseinandersetzung ein Beispiel für jene Theologen-Tollwut, die schon Philipp Melanchthon beklagte – ein Beispiel dogmatischer Rechthaberei, ein Pochen auf doctrinal correctness in der Ökumene? Das wäre wohl ein Missverständnis. Wenn man bedenkt, wie schwer es normalerweise zwei oder drei Theologieprofessoren fällt, einer Meinung zu sein, sollte man zumindest aufhorchen, wenn 254 einer Meinung sind. Das jedenfalls sollte das Minimum sein, das beide Seiten einander gönnen: Respekt vor der Meinung des anderen und die positive Unterstellung, dass beide Seiten um echte Ökumene, aufrichtige Gemeinschaft im Glauben bemüht sind. Dennoch hat mich die Situation in den letzten Monaten immer wieder tief beunruhigt: Auf beiden Seiten sind die besten Absichten, aber trotzdem dieser deutliche Dissens. Irgendwie ist diese Situation ja auch nicht untypisch für unsere Kirche: Unübersichtlichkeit, Unsicherheit hinsichtlich des richtigen Weges herrscht allemal. Was sollen wir tun? Das Ereignis von Augsburg feiern oder den Universitätsgottesdienst in eine Protestveranstaltung umfunktionieren? Uns bleibt wohl nur eins: Gottesdienst zu feiern – weder Jubelfeier noch Protestveranstaltung – und uns vom Reformationsfest daran erinnern lassen, wo für evangelische Christen allein Orientierung zu finden ist: im Evangelium.

Wir hören den Predigttext zum Reformationsfest Mt 10, 26-33.
Jesus spricht: „Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auch den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“

Jede Auslegung dieses Predigttextes, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, betont: Unsere Situation ist nicht die der Gemeinde des Matthäus. Er schreibt für eine Gemeinde, die Verfolgungen und Anfeindungen ausgesetzt ist, und für sie nimmt er überlieferte Elemente der Verkündigung Jesu auf und präsentiert sie als Trost, als Zuspruch, als Ermutigung für die Situation der Verfolgung. Das ist wohl richtig: Verfolgung ist nicht unsere Situation hier in Westeuropa. Unsere Situation ist eher die der Unübersichtlichkeit, der Orientierungslosigkeit, der Unsicherheit hinsichtlich des richtigen Weges. Aber gerade darum kann uns auch die Verheißung ansprechen, die die ersten Verse dieses Predigttextes aussprechen:
„Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird." Im Munde Jesu ist damit nicht eine allgemeine Wahrheit gemeint: Es wird schon alles klar werden, die Sonne bringt es an den Tag. Vielmehr ist hier die Zusage, das Gott, in dem alle Wahrheit begründet ist, diese Wahrheit erscheinen lassen wird. Darum können wir singen: „O komm du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“ Wir werden nicht für immer in der Unübersichtlichkeit verharren müssen, Orientierungslosigkeit ist nicht unser ewiges Schicksal, sondern wir gehen zu auf die Offenbarung der Wahrheit. Auch unsere Auseinandersetzungen hier und jetzt, auch die über die Rechtfertigungslehre bleiben nicht unentschieden, so dass wir für alle Zeit sagen müssten: das kann man so oder so sehen, vielmehr erwarten wir die Aufdeckung der Wahrheit durch Gott.
 Zunächst überraschend, dann aber glasklar logisch einsichtig ist die Konsequenz, die Matthäus mit einem Jesuswort daraus zieht: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.“ Wenn sowieso schließlich alle Wahrheit offenbar werden wird, dann hat es keinen Sinn, die Wahrheit, die uns zugesagt und die uns aufgegangen ist, im Verborgenen zu bewahren. Sie muss an die Öffentlichkeit, von den Flachdächern herunter gepredigt werden. Das Evangelium ist kein esoterisches Mysterium, keine Geheimlehre, sondern eine Botschaft, die wegen ihres Wahrheitsanspruchs an die Öffentlichkeit drängt. Darum muss das Evangelium öffentlich verkündigt werden. Allerdings bringt das sofort Konflikte. Der öffentliche Wahrheitsanspruch des Evangeliums führt unausweichlich in Auseinandersetzungen, denn durch das Evangelium werden bestehende Autoritäts- und Machtansprüche in Frage gestellt. Die Aufklärung war der Auffassung: Man kann den religiösen Konflikten in der Gesellschaft nur beikommen, wenn man die Religion entschlossen ins Private verbannt. Heute erleben wir das Ende der Religion als Privatsache. Religiöse Überzeugungen drängen in die Öffentlichkeit und dort müssen sie debattiert und diskutiert werden, sonst bleiben die Grundüberzeugungen der Mitglieder unserer Gesellschaft im Dunklen. Angesichts der Angefochtenheit des christlichen Zeugnisses in der Öffentlichkeit spricht unser Predigttext Ermutigung zu: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können, fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.“ Hier wird die Furcht vor Menschen mit der Gottesfurcht kontrastiert. Wer eintritt für die Wahrheit Gottes, braucht Menschen nicht zu fürchten. Es gibt nur einen, dem Furcht gebührt, und das ist Gott. Gottesfurcht befreit vor der Furcht vor Menschen. Es ist dabei wohl nicht so, dass eine Furcht mit der anderen ausgetrieben werden soll. Gottesfurcht ist etwas qualitativ anderes als die Furcht vor Menschen. Sie ist die Anerkennung, dass Gott allein unsere Gewissen binden kann, dass Gott der Grund und die Macht der Wahrheit ist, die alle anderen Mächte und Autoritäten relativiert. Deshalb ist die Furcht des Herrn nicht nur der Weisheit Anfang, sondern auch die Quelle des Mutes zum Bekenntnis. Die Begründung, die hier angeführt wird, treibt ein einleuchtendes Beispiel auf die Spitze. „Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.“ Nichts gegen Sperlinge, Leben und Tod eines jeden stehen in Gottes Hand, der nicht nur im Allergrößten wirkt, sondern auch das Allerkleinste und scheinbar völlig Bedeutungslose, die Zahl unserer Haare, in der Hand hält. Gott ist im radikalsten Sinne „die alles bestimmende Wirklichkeit“. Jedoch nicht das scheint die Pointe dieses Vergleichs zu sein. Das, was den Mut zum Bekennen begründet, was der Gemeinde Furchtlosigkeit verleiht, ist nicht die allgemeine und spezielle Vorsehung Gottes, die alles, auch das Kleinste umfasst, sondern dass wir Gott Vater nennen dürfen. Keiner von den Sperlingen fällt auch die Erde „ohne euren Vater“. Das ist aber kein allgemeiner Glaube an einen Vater Gott, der als kosmische Güte im Himmel thront, „Brüder (und Schwestern) über´m Sternenzelt muss ein güt´ger Vater wohnen“. Es ist ein ganz spezifischer Glaube, der an die Person Jesu gebunden ist. Darum ist das christliche Bekennen auch zunächst und zuerst das Bekenntnis zu Jesus. Dieses Bekenntnis zu Jesus lässt uns teilhaben an Jesu Beziehung zu Gott, der sein Vater ist, und wenn wir uns zu Jesus bekennen, auch unser Vater wird. „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Damit soll gesagt sein: An dem Bekenntnis zu Jesus entscheidet sich für uns alles, Segen oder Fluch, Heil oder Unheil, Gelingen oder Scheitern unseres Lebens. Dieses Bekenntnis aber ist nichts anderes als die Anerkennung der Beziehung, die Jesus zu uns etabliert hat, die Gott durch Jesus zu uns etabliert hat.
 Für die Leser des Matthäusevangeliums damals und heute ist darum die Geschichte Jesu der Kontext, in dem die Aufforderung zum öffentlichen Bekenntnis, die Zusage „Fürchtet euch nicht“ und die Aussage von der alles in der Hand haltenden Fürsorge Gottes des Vaters zu verstehen ist. Die Geschichte Jesu ist die Geschichte, die ans Kreuz führt, die Geschichte, die in tiefste Gottverlassenheit führt „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27, 46) und in dieser völligen Hingabe an Gott, die lebensschaffende Nähe Gottes offenbart, die den Hauptmann unter dem Kreuz sagen lässt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Können wir sagen: So wie sich Gott der Vater zu Jesus bekennt, indem er ihn nicht im Tod lässt, sondern zu neuem ewigen Leben und unvergänglicher Herrlichkeit auferweckt, so wird sich Gott, der Herr über Leben und Tod, wenn wir uns zu Jesus bekennen und Jesus sich zu uns bekennt, auch zu uns bekennen und uns teilhaben lassen am Leben des auferweckten Gekreuzigten? Das ist wohl der äußerste Horizont, in dem die Aussagen dieses Textes zu verstehen sind. In der Nachfolge Jesu, die auch seine Jünger und Jüngerinnen in Not und Bedrängnis führt, gilt darum die Zusage der Fürsorge Gottes, die selbst jedem unserer Haare gilt. In der Nachfolge Jesu ist der Gott, der alles zum Gericht oder zum Heil wirkt, unser Vater und darum müssen wir vor allem, was uns Angst machen könnte, keine Angst haben.
Ist das Bekenntnis zu Jesus, die Anerkennung der Beziehung, die Gott zu uns in Jesus aufgebaut hat, das, was unserem Leben letzten Halt und Mut gibt, uns geborgen sein lässt in der Fürsorge des Gottes, den wir um Jesu Willen Vater nennen dürfen, dann ist das Bekenntnis aber auch kein besonderer Akt, kein besonderer Auftritt in der Bekennerpose, sondern das ganz normale Christsein, das sich auf alle Bereiche unseres Lebens auswirkt. Keine konfessorische Extravaganz ist gefordert, sondern nur, dass wir unser Leben in der Öffentlichkeit transparent sein lassen für das, was uns hält und trägt. Das geschieht, denke ich, meist in ganz undramatischen Formen: dass man der Kirche die Treue hält, auch wenn sie weit von unserem Bild der idealen Kirche entfernt ist; dass man in der oft beklagten Orientierungslosigkeit seine Orientierung dort sucht, wo sie uns im Evangelium angeboten wird, in der Gemeinschaft der Christen und Christinnen. Unverkrampft Christ sein, weil wir uns sagen lassen „fürchtet euch nicht“ ,denn „wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“.

Und der Streit um die Rechtfertigungslehre? Finden wir in der Zusage unseres Predigttextes auch Orientierung in Bezug auf die Rechtfertigungsbotschaft, deren Wiederentdeckung wir am Reformationsfest feiern? Ein Stück weit hat sich für mich in der Auseinandersetzung mit diesem Predigttext bewährt, dass die Botschaft von der Rechtfertigung das Kriterium christlicher Lehre und christlichen Lebens ist. Wenn es das Bekenntnis zu Christus ist, das uns unter die Fürsorge Gottes stellt, gilt dann nicht wirklich das solus Christus, dass allein in Christus unser Heil verwirklicht ist? Wer in Christus von der Fürsorge des Vaters umgeben ist, braucht der noch andere Heilsmittel und Heilsmittler? Kann der nicht singen und sagen: „Such wer da will Nothelfer viel ...“ Wenn wir durch Christus uns sagen lassen können: „Fürchtet euch nicht!“, weil Gott, der im Gericht und in der Gnade wirkt, in Christus unser Vater geworden ist, gilt dann nicht das sola gratia? Und ist das Vertrauen, das sich auf die Zusage: „Fürchtet euch nicht!“ einlässt, nicht genau das, was mit dem sola fide gemeint ist? Die Botschaft von der Rechtfertigung hat viele Gestalten, aber ihre gemeinsame Pointe ist: dass allein Gott in Christus der Grund und der Mittler unseres Heils ist. Wenn wir diese Botschaft im Evangelium wiederentdecken, dann feiern wir richtig das Reformationsfest: als Wiederausrichtung an der Botschaft, dass Gott uns in Christus gratis Gerechtigkeit und Leben schenkt. Und wenn uns diese Botschaft als die Wahrheit für unser Leben und als Verheißung für die ganze Welt aufgegangen ist, dann können wir auch darauf vertrauen, dass Gott die Wahrheit seiner Gnade in, mit und unter unseren theologischen Irrungen und Wirrungen erscheinen lassen wird, denn „es ist nichts verborgen was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.“
Amen

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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