Prof. Dr. Christian Möller - Sexagesimae über Mk 4,26-29

Prof. Dr. Christian Möller

Predigt am Sonntag Sexagesimae (07.02.99) über Mk 4,26-29
in der Peterskirche Heidelberg



Markus 4, 26-29 - Jesu Gleichnis von der selbst wachsenden Saat

"Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da."
 

Liebe Gemeinde!

I. Semesterende = Erntezeit?

1. Wohl denen, die am Semesterende sagen können: "Die Ernte ist da!" Die Vorlesung hat mir viel Einsichten gebracht! Im Seminar habe ich mit-reden können. Mein Protokoll wurde akzeptiert. Die Seminararbeit ist gut bewertet worden. Die Scheine, die ich brauche, sind gemacht. Die Examenspapiere habe ich beieinander. Die Dissertation ist von meinem Doktorvater akzeptiert worden. Das Rigorosum bestanden. Die Habilita-tion überstanden. Kurz: die Ernte ist eingefahren. Liebe Seele, nun hast du Ruhe und bald Semesterferien. Da läßt sich's gut feiern mit einer Ernte im Rücken! Wohl denen, die so zufrieden zum Semesterende in Jesu Gleichnis von der selbst wachsenden Saat einstimmen können!

 Es könnte freilich sein, daß auf diese Zufriedenen doch noch in Jesu Gleichnis ein heilsamer Schrecken wartet, ein Schrecken von der Art, wie wir es aus der Epistel auf den Sonntag Sexagesimae hörten, daß "Gottes Wort lebendig und kräftig und schärfer ist als jedes zweischnei-dige Schwert, und daß es durchdringt, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein und sich als ein Richter der Gedanken und der Sinne des Herzens erweist."

2. Zunächst aber will ich mich denen zuwenden, für die der Vergleich zwischen dem Semesterende und einer Erntezeit eher bitter ist, weil sie nichts vorzuweisen haben und ihnen dieses Semester zwischen den Fingern zerronnen ist. Schlimmer noch, es ist ihnen, als ob unter ihnen nicht nur der Boden wackelt, sondern regelrecht weggezogen ist, so daß sie sich fragen, wie es mit ihnen überhaupt weitergehen kann: Studien-wechsel, Studienabbruch und überhaupt? Wozu tauge ich eigentlich, und wohin gehöre ich mit meinem Leben? Ach, manchmal kann sich alles so sehr zuspitzen, daß ein ganzes Leben auf dem Spiel steht und sich in der Frage zusammendrängt: Was will ich eigentlich mit meinem Leben? Ist es nicht besser, wenn ich mich bis zur Rentenzeit irgendwo einbuddele, und dann mit fünfundsechzig wieder ausbuddeln lasse?

 Wem so zumute ist, für den ist Erntezeit bittere Zeit, und es schneidet ihm wie eine Sichel in die Seele, wenn es in der Epistel aus dem Hebräer-brief hieß: "Kein Geschöpf ist vor Gott verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen."

 Bei solchen Worten muß ich immer an den Schuster Vogt in Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" denken, wie er gerade aus dem Knast frei-gekommen war und sich nun fragt, was er eigentlich bisher aus seinem Leben gemacht hat. Nun folgen im schönsten Berliner Dialekt die für mich unvergeßlichen Worte: "Dann wird der Herrjott mir frajen: Vogt, wat haste eigentlich mit deinem Leben jemacht? Und dann muß ick dem Herrjott antworten: Matten jeknüpft, nischt wie Matten jeknüpft, dat war's!"

3. Wenn es so um euch steht, ihr Schuster, Schneider, Studierenden oder Kollegen, so möchte ich euch gern mit Jesu Gleichnis von der selbst wachsenden Saat zu bedenken geben, daß es in den Augen Gottes mit euch noch einmal ganz anders aussehen könnte als ihr euch selbst an-seht. Es mag sein, daß ihr euch unter einen verhängnisvollen Zeitdruck setzt, der euch die Luft zum Leben abdrückt, während Gott euch viel mehr Zeit läßt und Zeit schenkt, nämlich die Zeit des Reiches Gottes. Sie will sich heute mitten unter uns durch Jesu Gleichnis ausbreiten gegen allen teuflischen Zeitdruck, unter den wir uns mit allen möglichen Uhren und Terminkalendern und Erfolgsplänen immer wieder setzen oder gesetzt werden.

 Was ist das, die Zeit des Reiches Gottes, und wie breitet sie sich in Jesu Namen unter uns aus?

II. Zeit des Reiches Gottes

1. "Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre."

 Wer Zeit noch nicht gesehen hat, der bekommt sie hier in Jesu Gleichnis regelrecht vor Augen: Nacht und Tag, schlafen und aufstehen, wachsen und aufgehen, zuerst, danach, und danach ... das ist fast eine Geschichte von der Entdeckung der Langsamkeit. Wir sehen einen Bauern vor uns, der auf seinen Acker hinausgeht, Samen aufs Land wirft und dann wieder zu seinem gleichförmigen Lebensrhythmus zurückkehrt: schlafen und aufstehen, Nacht und Tag, und immer so weiter.

 Was ist das Geheimnis dieses Bauern, daß er so ruhig leben kann, Nacht und Tag, daß er sich den Schlaf gönnen und dann seine Arbeit tun kann? Nun, er lebt von der Gewißheit, daß die Erde von selbst ihre Frucht bringt, und daß die Saat keimt und heranwächst, und daß er das alles geschehen lassen kann. Er weiß gar nicht, wie das Wachsen im Einzelnen vor sich geht und kann doch mit diesem Geheimnis leben und sich darauf verlassen. Und gerade das gibt ihm die Ruhe und die Zeit.

 Er gleicht also nicht jenem ungeduldigen Bauern, der nicht abwarten wollte, bis die Frucht reif geworden und der Zeitpunkt der Ernte gekom-men ist. Er ging ständig hinaus aufs Feld. Er wollte den Halmen helfen, damit sie schneller und schneller wachsen, und so zog er einen Halm nach dem andern und wunderte sich, daß eine Pflanze nach der anderen einging und keine Frucht brachte.

 Nein, der Mensch in Jesu Gleichnis läßt der Erde Zeit, bis sie ihre Frucht von selbst bringt, 'automatisch'! Er verläßt sich darauf und lebt mit die-sem automatischen Vorgang, der ihm eigentümlich viel Zeit schenkt: zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen.

2. Das scheint alles so selbstverständlich zu sein und so klar, der Erde Zeit zu lassen und dadurch selber Zeit zu gewinnen, daß uns so etwas kaum des Nachdenkens wert ist. Und doch macht Jesus uns auf einen so ein-fachen Vorgang aufmerksam, um uns das Geheimnis von Gottes Reich mitzuteilen, das sich nicht irgendwo im Jenseits, sondern ganz in unserer Mitte abspielt. Und dieses Geheimnis besteht darin, daß einer unterscheiden kann zwischen der Zeit, die er sich nehmen muß, wenn er dran ist, und derjenigen Zeit, die er sich lassen kann, weil etwas von selbst zu seinem Besten geschieht, außerhalb seiner selbst. Mit so einer Unterscheidung der Zeiten werden mehr als bloß Erfolge produziert, Scheine gemacht, Leistungen erbracht. Es wächst vielmehr Frucht heran, und ich darf mir Zeit lassen, sie wachsen zu lassen, auch wenn sie jetzt noch verborgen ist.

 Ach, wenn wir uns doch durch Jesu Gleichnis in dieses Unterscheiden zwischen Gottes Zeit und unserer Zeit einüben ließen! Wir hätten mehr Zeit und könnten uns mehr Zeit lassen. Das trennt ja den Teufel so ab-grundtief von Gott: Der Teufel hat keine Zeit und läßt dir keine Zeit, sondern nimmt dir auch noch die letzte Zeit, so daß du unter teuflischen Zeitdruck gerätst und am Ende nicht einmal mehr schlafen kannst. Am Ende eines Semesters redet er dir ein: Zu spät, mein Lieber, du hast keine Zeit mehr. Das Durcheinanderbringen der Zeiten gehört zum Geschäft des Teufels: Gottes Zeit und deine Zeit wirft er durcheinander. Mal redet er dir ein, daß du ständig und immer dran bist und nimmt dir so die Zeit und jagt dich zu Tode. Und dann redet er dir wieder ein, daß du gar nicht mehr dran bist und alles zu spät ist und bringt dich so in Verzweiflung.

 Jesus dagegen übt mit uns die Unterscheidung zwischen Gottes Zeit und unserer Zeit gleichnishaft ein. Und wenn ihr euch in dieses Unterschei-den von Jesus einüben laßt, dann beginnt ihr die Luft von Gottes Reich zu atmen. Gott hat nicht nur Zeit, er läßt uns auch Zeit und schenkt uns Zeit, so wie die Erde diesem Bauern Zeit schenkt, daß er schlafen und aufstehen kann Nacht und Tag.

3. So schenkt Gott den Menschen Zeit von Anfang an: "Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." Und das, obwohl das "Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf", wie es an jener Stelle am Anfang der Bibel heißt.

 Und wenn das Volk Israel erschöpft ist von seiner Gefangenschaft und nicht mehr weiß, worauf es sich verlassen kann, so schenkt ihm Gott wiederum Zeit, die Zeit eines verläßlichen Wortes: "Gleich wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde kommt, auch sein: es wird nicht wieder leer zu mir zurück-kommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende."

III. Erfolg und Frucht

So muß ich zum Schluß nun meinen anfänglichen Vergleich eines Semesterendes mit der Erntezeit in Frage stellen. Dabei will ich niemand seine Semestererfolge doch noch schlecht machen. Ich freue mich mit dem, der gut benotete Scheine aus diesem Semester nach Hause bringt. Ich gratuliere dem Doktoranden, der seine Dissertation abgeschlossen hat und vielleicht sogar mit summa cum laude anerkannt worden ist. Ich freue mich mit jedem Kollegen, der in den Feedback-Bögen der Studierenden gut abschneidet. Soll sein, soll sein!

Erfolg freilich ist eines, Frucht aber ist ein anderes. Und diesen Unterschied möchte ich mit Ihnen gern zum Schluß noch bedenken. Im Grunde wissen Sie es ja selbst, wie das ist, wenn einer mit seinen erfolgreichen Zeugnis-sen wedelt oder mit seinen Büchern hochstapelt oder mit seinem Titel kokettiert: Da wird die Luft im Raume dick und die Schatten werden länger, die so eine Lichtgestalt wirft. Sie kennen alle höchst erfolgreiche Menschen, die zugleich ziemlich unfruchtbar sind. Erfolge werden gemacht, Frucht aber wächst heran. Das sagt sich schnell, dieser Unterschied, aber er kann sich abgründig auswirken. Zum Beispiel so, daß ich auf der Jagd nach Erfolgen immer weniger Zeit habe und immer mehr vom Teufel gerit-ten werde. Das Geheimnis der Frucht aber ist, daß sie langsam heran-wächst, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wohl dem, der sich diese Zeit durch Jesu Gleichnis von der selbst wachsenden Saat als Gottes Zeit, als Zeit des Reiches Gottes zusprechen läßt. Ihr findet dann wieder Boden unter euren Füßen, einen Boden, in dem verborgene Frucht am Wachsen ist, auch wenn du sie jetzt noch nicht sehen kannst. Laß ihr Zeit, oder besser: laß Gott seine Zeit und nimm dir dann deine.

In seiner Abschiedsrede sagt Jesus wie ein Vermächtnis seines ganzen Lebens zu seinen Jüngern: "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, daß ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er es euch gebe." Amen.
 
 
 

Fürbittengebet

Herr Jesus Christus,
du bist das Brot des Lebens.
Darum bitten wir dich für alle, die noch nicht wissen, wie sie heute an ein Stück Brot kommen,
daß sie offene Hände, eine offene Tür, eine offene Vesperkirche finden;
und wir bitten für alle, denen das Brot im Hals stecken bleibt, weil sie an ihrem Reichtum ersticken.
Jesus Christus, du Brot des Lebens,
wir rufen dich an:
  Gem.: Kyrie eleison.

Herr Jesus Christus,
du bist das Licht der Welt.
Darum bitten wir dich für alle, die in ihrem Leben nicht mehr durchblicken und in deren Seele es dunkel geworden ist;
für alle, die vor lauter Fernsehen das nahe und ihren Nächsten nicht mehr sehen;
für alle, die keine Augen mehr haben für dein Reich der Liebe und des Friedens und der Barmherzigkeit.
Jesus Christus, du Licht der Welt,
wir rufen dich an:
  Gem.: Kyrie eleison.

Herr Jesus Christus,
du bist die Tür zum Leben.
Darum bitten wir dich für alle, die sich eingesperrt haben oder eingesperrt werden,
daß sie in dir die Tür zum Leben finden.
Jesus Christus, du Tür zum Leben,
wir rufen dich an:
  Gem.: Kyrie eleison.

Herr Jesus Christus,
du bist der gute Hirte. Du läßt dein Leben für die Schafe.
 

Darum bitten wir dich für alle, die sich verloren haben und keinen Mut zum Leben finden;
für alle, die so sehr beladen sind mit Sorgen, daß ihnen das Leben zu mühselig wird.
Jesus Christus, du guter Hirte,
wir rufen dich an:
  Gem.: Kyrie eleison.

Herr Jesus Christus,
du bist die Auferstehung und das Leben.
Darum bitten wir dich für alle, die sich vergraben haben und aus ihren Gräbern nicht mehr aufstehen können,
für alle, die schon mitten im Leben gestorben sind:
du, Herr, kannst sie auferwecken.
Jesus Christus, du Auferstehung und Leben,
wir rufen dich an:
  Gem. Kyrie eleison.

Herr Jesus Christus,
du bist Weg, Wahrheit und Leben.
Darum bitten wir dich für alle, die sich im Dickicht verrannt haben, die auf Holzwegen sind und die Orientierung für ihr Leben verloren haben.
Jesus Christus, du Weg, Wahrheit und Leben,
wir rufen dich an:
  Gem.: Kyrie eleison.

Herr Jesus Christus,
du bist der wahre Weinstock.
Darum bitten wir dich für alle, die sich vertrocknet finden, kraftlos fühlen und ohne Früchte ihrer Arbeit, ihres Lebens zu bleiben meinen.
Jesus Christus, du wahrer Weinstock,
wir rufen dich an:
  Gem.: Kyrie eleison.

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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