06.02.2005: Pfarrer Dr. Fernando Enns über Lk 10,38-42

 

Predigt im Universitätsgottesdienst Heidelberg

am Sonntag Estomihi, 6. Februar 2005

Text: Lk 10:38-42

 

Fernando Enns

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Lukasevangelium, Kap. 10. Es ist eine kleine Geschichte, die sie alle gut kennen. Bei solchen Geschichten ist die Gefahr groß, nach den ersten Sätzen nicht mehr genau hinzuhören, sondern die handelnden Personen und Aussagen sofort einzuordnen in bekannte Verstehensmuster. Richtiges Zu-Hören fällt uns schwer. Das könnte heute anders werden, denn wir begegnen in der Predigt Lukas, dem Autor dieses Evangeliums und einer der handelnden Personen: Marta. Eine dritte Person, Maria, könnte auftreten. Diese sagt aber in der Erzählung gar nichts, sondern sie hört zu. Daher können Sie, liebe Gemeinde, diesen Part der Maria übernehmen.

 

Zunächst aber die Geschichte (Lk 10:38-42)

 

Als sie (Jesus und seine Jünger) aber weiterzogen, kam er (Jesus) in ein Dorf.

 

Da war eine Frau mit Namen Marta,

die nahm ihn auf.

Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria;

die setzte sich dem Herrn zu Füßen

und hörte seiner Rede zu.

 

Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen.

Und sie trat hinzu und sprach:

Herr, fragst du nicht danach,

daß mich meine Schwester läßt allein dienen?

Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll!

 

Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr:

Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe.

Eins aber ist not.

Maria hat das gute Teil erwählt;

das soll nicht von ihr genommen werden.

 

 

MARTA:

Lieber Lukas. Zunächst will ich Dir einmal danken, dass Du als einziger Evangelist diese Erzählung in Dein Evangelium aufgenommen hast. Wir Frauen kommen ja sonst nicht so oft vor in den Geschichten, jedenfalls nicht, wenn es um den engsten Kreis der Jünger geht. Dabei kam es ja häufig vor, dass Jesus in unsere Häuser kam. Die gute Phoebe und auch Priska hatten ja kleine Hauskirchen (Röm 16), und so auch Lydia (Act 16). Manchmal gewinnt man den Eindruck, die wichtigen Gespräche seien nur zwischen den Männern gelaufen. – Deine kleine Erzählung zeigt zumindest, dass wir auch da waren und dass wir sehr wohl im Stande waren, Führungspositionen zu übernehmen. Ich stand meinem Haushalt vor, was eine ziemlich große Verantwortung bedeutete und in dieser Männergesellschaft weiß Gott nicht immer einfach war.

 

Dennoch, lieber Lukas, kann ich nicht verschweigen, dass ich mit Deiner Erzählung auch so meine Probleme habe. Die Art und Weise, wie Du uns, mich und meine Schwester Maria, darstellst, ist so typisch. Natürlich sind wir immer die Dienenden – diese Rolle schreibst Du mir zu, oder die Hörenden – diese Rolle hat Maria. Ja, ja, hier die fleißige Hausfrau, dort die eifrige Bibelschülerin.

Aber das allein wäre ja noch nicht so tragisch, das sind wir gewöhnt. Aber dass ich - durch Deine sehr knappe Erzählung – so schlecht weg komme, das finde ich unfair. Man muss ja den Eindruck gewinnen, ich hätte nichts anderes im Kopf, als meinen Haushalt. Das stimmt nicht. Es gehört sich einfach, dass man einen Gast auch ordentlich empfängt, zumal wenn es Jesus selbst ist, der uns da besuchte. Er sollte sich ja Willkommen fühlen. Gastfreundschaft ist bei uns ein sehr hohes Gut. Und schließlich war es meine Verantwortung, danach zu sehen, dass auch alles da ist. Wenn die Atmosphäre nicht stimmt, wenn unser Gast hungrig geblieben wäre, wenn wir ihn nicht bewirtet hätten, wie hätten wir denn da gestanden? Natürlich ist das alles nicht die Hauptsache, aber ohne diese vielen praktischen Dinge kann auch das andere, die echte Begegnung nicht stattfinden.

Du hast recht. Es hat mich maßlos geärgert, dass Maria sich gar nicht mehr kümmerte, kaum dass Jesus da war. Sie setzte sich einfach ihm zu Füßen und hörte ihm zu. Das hätte ich auch gern gemacht. Aber so einfach ist das nicht. Und deshalb habe ich Jesus auch aufgefordert, ihr zu sagen, dass sie gefälligst helfen soll. Das ist doch nur gerecht. Schließlich will ich auch hören, was Jesus zu sagen hat. Ich habe mich doch auch so gefreut, dass er zu uns kam. – Jetzt sieht es aber gerade so aus, als hätte ich alles vermasselt mit meiner Gastfreundschaft. Vor allem, weil Jesus dann auch noch sagt: „Maria hat das gute Teil erwählt“. Wieder einmal bin ich die Dumme.

 

 

LUKAS

Also liebe Marta, ich finde, Du gehst etwas zu weit. Ich habe doch gerade diese Erzählung so aufgenommen, um zu zeigen, dass bei den Griechen sehr wohl eine Frau einem ganzen Haushalt vorstehen und dass sie auch einen Mann in ihrem Haus empfangen konnte. Das wäre im Judentum der damaligen Zeit undenkbar gewesen. Und dass Jesus selbst zu Euch kommt, ist doch eine Aufwertung sondergleichen. Außerdem stelle ich Dich doch dar als eine Frau mit den besten Absichten, die die Regeln der Gastfreundschaft völlig erfüllt.

Allerdings verfolge ich mit dieser Erzählung noch andere Ziele. Mir geht es doch nicht darum, Dich als schlecht darzustellen oder Dich auf eine bestimmte Rolle festzulegen. Ich will eine ganz allgemeine und weit verbreitete Haltung aufzeigen, die die Menschen vom Wesentlichen abhält. Du machst Dir „viel zu schaffen“, hast viel „Sorge und Mühe“. Damit meine ich ja nicht das Dienen an sich, sondern setze bewusst das Verb „perispwmai““§“ein, was – und das wissen ja alle – bedeutet: „nach allen Seiten gezerrt werden“, „absorbiert werden“, „völlig in Anspruch genommen zu sein“. Jemanden, den man heute, 2000 Jahre später, vielleicht als „Workaholic“ bezeichnen würde. Sieh Dir doch die Menschen an: sie schaffen, rennen, tun. Alle sind so schrecklich beschäftigt. Und – das ist das erstaunliche – die Christen sind nicht etwa diejenigen, die kapiert hätten, dass man dadurch auch die innere Ruhe verliert, kaum noch zum Nachdenken kommt, zum Hören auf das Wort Gottes. Nein, sie sind ganz vorne mit dabei, die Christen. Vor allem diese Protestanten: man meint gerade, sie wollten sich das Himmelreich verdienen mit ihrer Geschäftigkeit und ihrem Aktionismus. Natürlich haben sie die besten Absichten, das will ich gar nicht bestreiten. Aber das haben wir doch von Jesus immer wieder gehört: „Sorget Euch nicht, seht doch die Lilien auf dem Felde..., seht doch die Vögel unter dem Himmel.“ Dieser Aktionismus macht die Menschen ganz krank. Sie übernehmen sich. Und was bleibt am Ende? Ich meine, was bleibt wirklich? Mit Sorge sehe ich dies auch an den Universitäten: die Professoren – alles sehr beschäftigte Leute, die Assistenten – versuchen alles unter einen Hut zu kriegen: wissenschaftliche Karriere und Familie. Und die Studierenden – na, da gibt es noch einige, die sich Zeit nehmen: zur Andacht, zur Meditation, zum Feiern, zum sich treffen, zum aufeinander Hören. Und sicherlich – es gibt sie noch, die wenigen, die sonntags in die Kirche gehen, weil sie wissen, dass diese Unterbrechung des Alltags sie wieder neu ausrichten kann. Die hören noch das Wesentliche. Sie können sich mit Maria identifizieren. Sie haben das gute Teil erwählt. Dies eine tut Not!

Damit die Menschen das verstehen, habe ich Dich und Deine Schwester so typisiert dargestellt. Natürlich ist das eine Überzeichnung, das merkt ja jeder. Wichtig ist allein: Jesus ist gekommen – auch in Dein Haus – gerade um uns aus unseren Rollen zu befreien, nicht um sie zu zementieren.

 

 

MARTA:

Tja, mein lieber Lukas, da stimme ich Dir zu: Befreiung aus unseren Rollen. Das haben wir Frauen sehr früh entdeckt und deshalb waren wir so begeistert von dem, was Jesus verkündete. Aber sieh Dir doch die Wirkungsgeschichte Deiner kleinen Erzählung an, was Du angerichtet hast mit Deinen Typisierungen: das fängt ja schon in der Alten Kirche an. Seit Origenes haben die Prediger des Wortes Gottes immer wieder anhand von mir und Maria diese Gegenüberstellung vorgenommen: hier die Marta – sie steht für die vita activa, dort die Maria – sie steht für die vita contemplativa. Sie hat natürlich das bessere Teil erwählt. Und die Protestanten – weil Du sie schon angesprochen hast: der gute Luther ging in einer Predigt 1523 so weit, an diesem Text zeigen zu wollen: hier die Marta – die an die Werkgerechtigkeit glaubt, dort die Maria, bei der das Wort allein gilt. Immer und immer wieder diese Gegenüberstellung zwischen der karitativen Diakonie – was nicht immer schlecht gemacht wird – gegenüber dem viel besseren Teil: dem Hören. Jesus erscheint dann als der gute Dogmatiker, der das beurteilt und jedem seinen Platz zuweist.

- Da frage ich mich, ob es literarisch wirklich klug war, das so knapp zu stilisieren. Denn bis heute sind diese Kontrastierungen so scharf, dass die Gräben manchmal tiefer erscheinen als zwischen den konfessionellen Grenzen. Selbst in der Ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts gibt es das: hier diejenigen, die meinen im gemeinsamen praktischen Tun werde die Einheit der Kirche sichtbar, dort diejenigen, die sich an den Lehrdifferenzen abarbeiten, weil dies die Voraussetzung der Einheit sei. Hier die vielen, die in der tapferen und tatkräftigen Nachfolge Jesu das Eigentliche erkennen, dort die intelligenten Beter, die sich aufs Hören beschränken.

Was soll’s, das ist mir im Grunde alles nicht so wichtig. Mir geht es vor allem um diejenigen, die sich Abrackern für andere – aus besten Überzeugungen und ohne Erwartung von Gegenleistungen, die vielen Ehrenamtlichen in der Diakonie. Um die mache ich mir Sorgen. Werden die nicht einfach ausgebremst, haben die etwa das schlechtere Teil erwählt? Meinst Du wirklich, Jesus wollte das sagen?

 

 

LUKAS:

Also jetzt mach mal langsam, Marta. Ganz so, wie Du es darstellst ist es ja auch nicht. Ich erwarte schon, dass Du die Erzählung in ihrem Kontext wahrnimmst. Und das tun die guten Exegeten ja auch: Was meinst Du wohl, warum ich die Geschichte vom barmherzigen Samariter direkt vorangestellt habe? In jener Erzählung geht es ja gerade um das rechte Tun. Wer hat das richtige getan? – fragte Jesus damals. Es war nicht der Priester, der schnell zum Beten gehen musste, es war nicht der Levit, der für die rechte Ordnung am Tempel sorgen musste, nein: der Samariter, der die Barmherzigkeit tat. Dieser Text ist zum klassischen Text der Diakonie geworden. Zu recht! Hier sind alle gewürdigt, gestärkt, ermutigt, Barmherzigkeit zu tun. Liebe zu üben, diakonein, in Nächstenliebe zu dienen – auch den entferntesten Nächsten gegenüber. Wer das tut, wird leben, sagte Jesus damals. Das gilt also!

Erst danach kommt Eure Geschichte. Ich hätte diese Geschichten wohl kaum so hintereinander platziert, wenn sie sich widersprechen würden. Mit Eurer Geschichte kommt dann die entscheidende Ergänzung dazu. Die tätige Liebe braucht auch die Zeiten der Ruhe, Zeiten des Auftankens, Zeiten der Stärkung. Nicht das eine gegen das andere, sondern um die richtige Verhältnisbestimmung geht es mir! Wer die Diakonie vom Gebet abtrennt, wird in einem ungesunden Aktionismus enden. Und wer immerzu Gottes Wort hören will, dies aber keinerlei Veränderung in seinem wirklichen Leben bewirkt, nicht hin führt zum Sehen der Not der Nächsten und zum Dienen auch an einem Entfernten, ja dessen Glaube bleibt ohne Früchte. Er endet in Selbstgenügsamkeit oder Selbstverliebtheit. Beides kann keine gelingenden Beziehungen hervorbringen, von denen wir alle doch abhängen.

Alles hat seine Zeit, Marta, Zuhören hat seine Zeit, und Schaffen hat seine Zeit. Jesus hat die Menschen mit seinen Geschichten verunsichert, damit sie sich nicht so selbstgerecht einrichten in ihren Rollen. Er wollte sie befreien, die einen wie die anderen. Und Mutmachen: diejenigen, die sich zu klein fühlen, um etwas zu tun, sollen sich auch mal trauen: Es gibt für jeden was zu tun. Und diejenigen, die sich immer Sorgen und Abmühen, sollen auch mal den Mut haben, still zu halten und neu zuhören. Lass auch mal die Anderen machen. Du musst nicht alles schaffen.

- Vielleicht hätte Maria ja gern geholfen, aber bei Deiner Geschäftigkeit hatte sie gar keinen Platz, kam sich unnütz vor.

 

Dass meine Erzählung immer wieder auch einseitig missverstanden wurde, tut mir natürlich leid. Aber das liegt meist daran, dass auch die Predigenden eher zu jenen gehören, die immer gleich loslegen, ohne erst mal zu hören. Ihnen fällt dieses „gute Teil“ besonders schwer. Es gab aber immer auch solche, von denen ich mich verstanden fühlte, Comenius zum Beispiel: 1668 richtete er einen Vorschlag an den Kurfürsten von der Pfalz: Neben den klassischen Fakultäten der Universität (Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Medizin) sollte man zwei weitere einrichten, meinte er: eine Fakultät der Genügsamkeit und eine Fakultät, an der untersucht wird, wie man von der Einsicht in die Praxis kommt. - Um dieses rechte Verhältnis geht es!

 

 

MARTA:

Das verstehe ich, Lukas. Deine Absichten will ich mir neu klar machen. Denn da steckt ja Evangelium drin. Auf dieses Wort will ich hören, habe ich ja damals auch schon getan, sonst hätte ich wohl kaum Jesus so aufgenommen. Ich wünschte nur, Du hättest uns, mich und auch Maria, in unserer inneren Spannung wahrgenommen. Wir sind nicht diese „Typen“. Bei uns ging es ja auch immer um diese rechte Verhältnisbestimmung. Nur, wenn Jesus einem das so direkt ins Gesicht sagt, wie er es mir damals sagte, dann wird einem plötzlich bewusst, was man da eigentlich macht. Damals habe ich mich ja gleich zu den beiden gesetzt, zunächst verdutzt. Aber dann spürte ich plötzlich, dass die Last von mir abfiel. Ich konnte einfach dasitzen und zuhören. Jesu Worte berührten mich mitten in meinem Sorgen und Mühen. Ich hielt inne. Ich spürte, dass Er sich um mich sorgte, mich, Marta. Und das tat gut. Ich spürte, dass Gott in diesem seinem Sohn Jesus Christus wirklich zu uns gekommen war. Durch solch eine einfache Begebenheit, durch dieses Wort. Jesus gab mir ja nicht einfach eine Antwort auf meine Frage, sondern schaute mich an und erkannte, wie es mir geht, wer ich bin. Das hat mich tief berührt. Diese Begegnung hat mich verändert. Das Bewusstsein, dass Gott selbst sich um mich sorgt gab mir offene Ohren. Auch Maria konnte ich damals wieder mit ganz anderen Augen sehen.

Und doch bin ich – das gebe ich zu - in meinem ganzen Leben nicht fertig geworden mit dieser inneren Spannung. Sie ist geblieben. Wann ist die Tat als Wort, wann das Wort als Tat gefordert?

Wo muss ich „für die Juden schreien“, wo „gregorianisch singen“? Deine Erzählung nimmt diesen Konflikt nicht von uns, aber sie kann diese innere Spannung vielleicht doch als einen lebensnotwendigen Konflikt bewusst machen. Vielleicht erkennen die Menschen an Deiner Geschichte doch – wenn sie denn gut zuhören und ihre Geschäftigkeit unterbrechen lassen – dass der Glaube unsere Konflikte nicht löst, sondern dass der Glaube uns diese Konflikte zumutet.

 

MARTA: Weist Du eigentlich, Lukas, welche Geschichte Jesus damals der Maria erzählte, als sie zu seinen Füßen saß?

LUKAS: Nein.

MARTA: Die Geschichte vom barmherzigen Samariter.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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