12.10.2003 Uta Andrée - über Mt 15, 21-28: Die kanaanäische Frau

Gottesdienst in der Peterskirche

am 17. Sonntag nach Trinitatis – 12.10.2003

Predigerin und Liturgin: Uta Andrée

 

Predigt (Mt 15, 21-28)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus! Amen.

 

Liebe Gemeinde!

Julia ist 21 Jahre alt, sie studiert Biologie, und will nach ihrem Vordiplom in München nun nach Heidelberg wechseln. Julia sucht seit zwei Wochen ein Zimmer. Morgen fängt das Semester an, immer noch kein Dach über dem Kopf, immer noch kein Platz für ihre Stereoanlage, für ihre Bücher und ihren Ficus Benjamini. Jeden Tag ist Julia in die Stadt gefahren, von Kirchheim nach Ziegelhausen, von Wieblingen nach Dossenheim. Und sie hat sich vieles anhören müssen:

 

Tut mir leid, wir nehmen erst Leute ab 25.

Tut mir leid, ich wollte eine Spanierin.

Tut mir leid, wir nehmen nur Männer.

Tut mir leid in unserer WG haben alle Auslandserfahrung, das muss man schon mitbringen.

Tut mir leid, nur Wochenendheimfahrer.

Tut mir leid ohne WG Erfahrung keine Chance.

Tut mir leid nur für BAFöG Berechtigte.

Auf ihre Anzeige in der Rhein-Neckar-Zeitung: „Suche zentrumsnahes Zimmer!“ hat sich ein Anrufer gemeldet und ihr ein Zimmer angeboten, das leider nicht ganz zentrumsnah sei, aber dafür ganz gemütlich, woraufhin Julia verzweifelt ihre Stadtplan studiert hat, um den Stadtteil Eberbach zu finden.

 

Vielleicht sitzt Julia jetzt unter uns, vielleicht heißt sie auch Sonja. Sie hat nicht aufgegeben, sie hat auf alle Absagen freundlich reagiert und will trotzdem morgen in Heidelberg anfangen zu studieren, auch wenn sie das Gefühl hat, irgendwie nicht richtig dazuzugehören. Julia ist hartnäckig und nimmt viel auf sich, um hier bei uns wohnen und leben zu können.

 

Unser Predigttext erzählt ebenfalls von einer Frau, die hartnäckig kämpft. Von einer Frau, die anscheinend nicht dazu gehört. Von einer Frau, die sich demütigen lassen muss und trotzdem freundlich bleibt.

Ich lese aus dem Matthäusevangelium im 15. Kapitel:

Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Zugegeben: Eine Zimmersuche ist nicht der verzweifelte Kampf einer Mutter um die Gesundung ihrer Tochter. Und ein unfreundlicher Vermieter ist nicht der Sohn Davids.

Aber ist die Heilung einer Todkranken ein Brotkrümel, der vom Tisch fällt?

Beide Bilder sind nur erste Eindrücke von der Situation, mit der uns der Predigttext heute konfrontiert: Im Zentrum steht hier nicht wunderbare Heilung der kranken Tochter, das Wunder bleibt eher Nebensache. Es geht vielmehr hauptsächlich um die Begegnung zwischen der Frau und Jesus. Eine brutale Begegnung, bei der die Frau immer schroffer behandelt wird.

Die Frau hat von Jesus gehört: Wie ein Gerücht geht es um, dass einer in die Gegend gekommen ist, der Wunder tut – so schreibt es Markus in der parallelen Erzählung von der Syrophönizierin. Die Frau hört dieses Gerücht, die Nachricht vom Sohn Davids, die Worte, die von ihm erzählt werden und wagt den Schritt, ihn um Hilfe zu bitten.

Die Reaktion auf ihren Hilferuf ist Schweigen. Sie wird nicht beachtet, ganz anders als wir es aus der Geschichte von Bartimäus kennen, wo Jesus ein Ohr hat für das entfernteste erstickte Schreien eines Blinden. Jesus will die Frau übergehen.

Wir wundern uns, wie ist er so unfreundlich? Das passt nicht in unser Jesusbild.

Doch die Frau schreit weiter und lässt nicht locker, sie will ihn nicht gehen lassen. Die Gewissheit, dass dieser Mann ihr helfen kann, dass das Gerücht über ihn die Wahrheit ist, setzt sich fest. Endlich löst sie eine Reaktion aus. Die Jünger fordern Jesus auf, doch etwas gegen die Quengelei der Frau zu unternehmen. Doch nicht als Fürbitter oder barmherzige Begleiter erscheinen die Jünger – wie man sie in der Alten Kirche hier gerne verstanden hat und wie wir es von den Freunden kennen, aus der Geschichte des Lahmen, die keine Mühe scheuen und ihren kranken Freund durch’s Dach zu Jesus herablassen – sondern diese Jünger sind eifrige Schüler, die nicht gestört werden möchten. Jesus soll die Frau wegschicken, damit die Sache geklärt ist. Und Jesus klärt die Sache. Er erklärt sich für nicht zuständig: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.

Wir wundern uns, wie ist Jesus so dogmatisch. Das passt nicht zu unserem Jesusbild.

Doch die Frau gibt nicht auf, als sei die unerwartete Härte des Mannes gerade ein Anreiz, alles auf diese Karte zu setzen. Sie fällt vor ihm nieder, auf die Knie. Viele alte Zeichnungen und Gemälde von dieser Szene zeigen die Frau, wie sie regelrecht an seinem Gewand hängt. „Herr, hilf mir! Du bist mein Kyrios, mein Herr, ich unterwerfe mich dir. Du bist der Sohn Davids!“ Die Bitte für die Tochter wird in der Begegnung mit Jesus zu einem Bekenntnis. „Hilf mir!“ Darin schwingt nicht nur mit, dass die Krankheit der Tochter in Begriff ist, auch das Leben der Mutter zu zerstören, sondern die Begegnung bekommt eine Bedeutung für das ganze Leben, an dieser Begegnung hängt das Heil für das Leben.

Jesu Reaktion wird nicht besser. Die dogmatische Klärung von eben wird nun in Bildform wiederholt, als hätte die Frau es nicht auch schon so verstanden, dass er für sie nichts übrig hat. Jesus wiederholt es noch einmal in pädagogisch verpackter Form, didaktisch zugeschnitten auf die Mutter, die es ja wohl ständig mit der Zubereitung von Mahlzeiten und der Versorgung der Kinder zu tun haben wird: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Brot vor die Hunde, Perlen vor die Säue. Das kennen wir schon aus der Bergpredigt, aber da ist es ein Wort an die Zuhörer und richtet sich nicht an die, die als solche beschimpft werden. Wir kennen das die schöne Wohnung in der Weststadt mit dem echten alten Parkett an Studenten vermieten, das ist doch Perlen vor die Säue werfen, aber wer sagt das schon einem Studenten ins Gesicht?

Wir wundern uns, wie ist Jesus so unverschämt? Das passt nicht in unser Jesusbild.

Doch die Frau macht aus der Not eine Tugend. „Sei’s drum, ich bin der Hund unterm Tisch, dem eigentlich nichts zusteht.“ Die Erniedrigung scheint es ihr nicht wert, aufzugeben. Eine unbeschreibliche Gewissheit hat sie gepackt in dieser Auseinandersetzung. Von diesem Mann geht etwas aus, das stärker ist als seine Weigerung, ihr zu helfen. Hinter dem schroffen, dogmatischen unverschämten Nein spürt sie das Ja, so hat Luther es einmal in einer Predigt über unseren Text gesagt: Luther spricht von dem tieffen heymlichen Ja unter und über dem Neyn. Die Frau zu Jesu Füßen belässt es bei dessen schroffer Ablehnung, stimmt ihm sogar zu: Ja, Herr, ich bin es nicht wert, aber ich weiß, dass etwas für mich abfällt. Ich weiß, dass selbst die Hunde unter dem Tisch nicht leer ausgehen.“ Da bricht das Eis: Dein Glaube ist groß. Dir geschehe wie du willst.

Matthäus erzählt hier nicht die Geschichte zu dem Spruch aus der Bergpredigt: „Bittet, so wird euch gegeben, Suchet so werdet ihr finden, Klopfet an so wird euch aufgetan.“

Matthäus erzählt nicht die Geschichte einer Fernheilung, die er bei Markus gefunden hat. Aus der Episode bei Markus, in der eine syrophönizische Frau Jesus überredet ihre Tochter zu heilen, wird eine Zerreißprobe, ein hartes Ringen um das Heil.

Der Durchgang durch die Geschichte – wie Matthäus sie erzählt – hat an vielen Stellen Verwunderung, Irritation, Ärger und Wut in mir wachgerufen. Wie geht man mit solch einem schlechten Eindruck von Jesus um? Bleibt noch etwas übrig neben diesem Ärger, was uns versöhnen könnte? Das uns mit hineinnimmt in die Szene, etwas, das uns aus dem Herzen spricht, das uns das Herz öffnet.

- Das Wohltuende des Wunders vielleicht,

- oder die Genugtuung, dass anscheinend auch im Neue Testament von alleinerziehenden Müttern gesprochen wird

- oder dass eine Frau hier den Kyrios Titel in ihrer Not an Jesus richtet und sich damit lossagt von allen Vaterautoritäten und patriarchalen Ansprüchen.

- Oder dass die Frau in all ihrer kanaanäischen Verwirrung und Sehnsucht wiederhallt in unseren koine-Bereich der Postmoderne und auch uns Klarheit verheißen ist.

- Oder dass Jesus selbst hier überzeugt wird, dass das Evangelium keine Grenzen kennt, dass die Kirche eine Gemeinschaft aus Juden und Heiden sein wird und sein soll.

Bleibt das übrig?

Obwohl alle diese Dinge mehr oder weniger Anhalt am Text haben und sicher auch mitschwingen können, muss ich gestehen, dass bei mir zuviel Ärger über den schroffen, dogmatischen, unverschämten Jesus übrigbleibt, als dass ich mich mit einem dieser Nebeneffekte oder dem Happy End der Geschichte oder der jüdisch christlichen Annäherung als Aussage des Textes zufrieden geben könnte.

Es wird wohl der Blick auf das Ärgernis des Textes selber sein, der uns einen Zugang ermöglicht, ein Blick auf dieses Nein und die Absage Jesu. Die Frau bittet, sucht, klopft und nichts tut sich ihr auf, sie findet kein Zeichen des Heils und keine Antwort auf ihre Bitte.

Das nimmt uns mit hinein in die Szene, das geschieht so oft, dass da niemand ist. Unser Gebet verflüchtigt sich in den leeren Himmel hinein, Gott bleibt bis zur Unkenntlichkeit verborgen.

Wir geben vielleicht schon nach dem Schweigen Gottes auf und sagen uns: Es gibt ihn nicht, er existiert überhaupt nicht. Alles eine schöne Geschichte, solange ich ihn nicht brauche, solange es nicht um Leben und Tod geht. Aber jetzt da ich bete, vor ihm liege, hinterlässt sein Schweigen eine unendliche Leere.

Vielleicht geben wir nach der dogmatischen Belehrung auf: Ich habe es alles gelernt, bin mit dem Katechismus groß geworden, kenne die Frage nach der Theodizee, weiß vom Deus absconditus. Und all dieses Wissen bleibt spröde und leer, wenn mein Leben an eine Grenze stößt. Wenn ich schreie und flehe und nur Sätze und Weisheiten als Antworten bei mir ankommen. Ist das der Gott auf den ich mein ganzes Vertrauen im Leben und im Sterben setzen kann.

Vielleicht halten wir durch, bis wir die schroffe Absage erfahren. Nicht das Schweigen, nicht die kirchlichen Lehrsätze, sondern das ungeheuerliche Gefühl, Gott erteile uns eine Absage. Die Antwort auf das Gebet ein Nein,

- es steht dir nicht zu,

- du musst dein Los schon tragen,

- ich habe es dir zugeteilt,

- ich habe dir die Last aufgelegt.

- Trage dein Kreuz, das ist wahre Nachfolge.

Eine Antwort Gottes Ja, aber eine die uns am Glauben verzweifeln lässt, die uns irre werden lässt in unserer Gewissheit, dass nur bei Gott die Erlösung von der Not liegen kann.

Es scheint so, als ob gleich Gott mit allen Kreaturen sich anders stellt, denn das Wort von ihm sagt, so schreibt Luther es.

Gott selbst lässt sich nicht mehr erkennen als der, von dem Hoffnung und Verheißung ausgeht. Das Wort Gottes, die bedingungslose Zusage und Annahme für unser Leben wird abstrakt und nackt, das Gefühl, dass alles und auch Gott sich gegen uns stellt ist viel größer. Genau in diesem Ringen steht die Frau. Die Situation ist so eindeutig, die letzte Hoffnung, die sie für sich und ihre Tochter hat, wird erstickt von dem klaren, schroffen Nein. Was lässt sie weiter festhalten an dem Gerücht von seiner Kraft und Macht, was hat dieses Wort noch für eine Bedeutung. Das Gefühl, der Verstand, das Herz alles spricht gegen dieses Wort.

Die Geschichte von der Kanaanäerin im Matthäusevangelium lässt sich in dreißig Sekunden durchlesen, in deren Nacherzählung in einer Predigt dauert vielleicht zehn Minuten, aber in Wirklichkeit ist das Ende nicht so schnell in Sicht. Wenn wir in dieser Geschichte stehen, dann dauert es manchmal Jahre bis das Ja wieder sichtbar wird, bis der Sinn wieder deutlich wird, bis eine fatale Situation sich löst, bis der Tod nicht mehr das letzte Wort unser das Leben hat. Die Kanaanäerin hat den langen Atem des Glaubens gehabt, der bis zum Ja wartet, auch wenn es ganz unter dem Nein verschüttet ist. Mehr noch, sie gewinnt in der massiven Ablehung, in der reihe von vergeblichen Bitten immer mehr Gewissheit. Ihr Glaube wächst an der Unkenntlichkeit des Heils, das in Christus verborgen ist. Sie steigert sich hinein in ihr Vertrauen und lässt nicht los, wie Jakob am Jabbok: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Gott stehe uns bei, dass wir die Geschichte der Frau mit hinein nehmen können in unser Leben und in solchem Ringen den Mut zum Glauben behalten bis das erlösende Wort auch bei uns ankommt: Frau, dein Glaube ist groß, Dir geschehe, wie du willst.

 

Jetzt erst kann ich auch die anderen Klänge der Geschichte wieder hören und mich über das Wunder der Heilung freuen, wie ich mich über die vielfältigen prächtigen Gaben des Erntedankgottesdienstes, die Wunder der Natur, am letzten Sonntag gefreut habe.

Auch wenn das Wunder Nebensache ist, so wird es doch am Ende der Geschichte für die Kanaanäerin zur wichtigsten Nebensache, wie eben auch ein Zimmer in Heidelberg in diesen kalten Oktobertagen vor Semesterbeginn zur wichtigsten Nebensache der Welt werden kann.

Amen

 

Fürbitten

Gott, wir haben gehört von der fremden Frau, die für ihr krankes Kind bittet.

Wir rufen dich an für alle, die krank sind,

deren Körper nicht so will, wie wir es uns wünschen.

Für alle deren Leben von Krankheit bedroht ist,

für alle, die unter der Krankheit eines geliebten Menschen leiden.

Hilf unter und über diesem großen Nein des Lebens Dein Ja für uns zu hören. Gib Mut und Kraft und stärke unseren Glauben.

Gott wir haben gehört von der fremden Frau, die an der Sorge für ihr Kind fast verzweifelt ist.

Wir bitten dich für unsere Eltern,

dass sie uns ziehen lassen

und dass ihre Sorge um uns sich in freundschaftliche Anteilnahme an unserem Leben verwandelt.

Wir bitten dich für uns als Eltern,

dass wir nicht allein bleiben mit unserer Sorge

für unsere Kinder das richtige zu tun und zu entscheiden,

dass die Freude an unseren Kinder größer bleibt als die Sorge.

Gott, wir haben gehört von der fremden Frau, die Jesus selbst davon überzeugt hat, Grenzen zu überwinden.

Wir bitten dich für unsere Kirche, dass sie ein Ort der Begegnung über Grenzen hinweg sein möge, dass Juden und Christen in ihrem Dialog immer wieder auf die Geschichte der Kanaanäerin stoßen und keine Seite die andere vom Heil ausschließt, das du für uns bereitet hast.

Wir bitten dich für die Christen in aller Welt,

dass wir sensibel bleiben für alle neuen Grenzen, die errichtet werden.

Dass wir uns gegen jede Blockadehaltung und gegen jeden Mauerbau wenden,

dass wir unseren Ort immer wieder an der Seite derer finden,

die ausgeschlossen und an der Rand gedrängt werden.

Gott, wir haben gehört von der fremden Frau, deren Glaube stärker war als das Schweigen Gottes.
Wir bitten dich, bewahre uns in unserem Glauben,

segne uns mit dem Glauben dieser Frau,

dass wir aufrichtig bekennen können:

Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

In der Stille denken wir vor dir an alle,

die mit ihrer Lebenssorge allein sind

und befehlen sie deiner treuen Hilfe an.

....

Vater unser

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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