Aus: FAZ, 10. Mai 2012, S. 8

 

Tempus fugit

Wie die Altphilologie zukunftsfest machen?

Von Heike Schmoll

 

In den Gymnasien haben zuletzt so viele Schüler Latein gelernt wie selten zuvor. Das gilt vor allem für Schulen, die Eltern die Entscheidung über Englisch oder Latein durch den gleichzeitigen Beginn beider Sprachen ersparen. Der Heidelberger Latinist Jürgen Paul Schwindt hat nun bei der Verleihung des Heidelberger Förderpreises für klassisch-philologische Theoriebildung an die Baseler Gräzistin Rebecca Lämmle davor gewarnt „an die Unverbrüchlichkeit des Bundes zwischen akademischer Disziplin und großem Publikum zu glauben“ und sich selbstgefällig im Erfolg des Latein zu sonnen.

Jetzt sei die Zeit, in den Alten Philologien über die guten Tage hinaus an solche Zeiten zu denken, in denen Einfälle, Ideen und Konzepte gefragt seien. Nach Schwindts Beobachtung sind es vor allem die jungen Altphilologen, die am stärksten darauf bedacht sind, ihre ersten philologischen Arbeiten konzeptionell verstehbar zu machen. Sie fragten danach, wie es denn sein könne, dass noch immer manche Vertreter der Alten Sprachen nicht imstande sind, ein Konzept oder eine Methode zu benennen, nach der sie in der Regel verfahren. Philologen, so Schwindts Plädoyer, müssten schon in der Lage sein, zumindest die Richtung ihres Tuns anzugeben oder auch ihre methodische Ungebundenheit oder Offenheit begründet darzulegen. Klassische Philologen sollten auch ihren Beitrag zum großen Ganzen der Philologie verdeutlichen können. Zwar wähnten sich die beiden einflussreichen Lager der Grammatiker und Humanisten in besonderer Nähe zu einem distinkten Formbegriff; die einen zur historisch prägnanten Ausbildung eines mustergültigen Stils, die anderen zum Ideal der Paideia (Bildung), die den ganzen Menschen umfassen sollte.

Doch Schwindt bezweifelt, dass die traditionellen Selbstbildnisse in der Moderne noch hinreichend produktiv gewesen sind und die Klassische Philologie für die Herausforderungen der Gegenwart und näheren Zukunft gerüstet ist. „Es sind Zweifel erlaubt, ob die ‚Classics’ unserer Tage aus den richtigen Gründen erfolgreich sind’, sagte er. Es scheint ihm nicht ausgemacht, dass die altphilologische Ausbildung dauerhaft einen besonderen Artenschutz für sich in Anspruch nehmen kann. Umso größer ist sein Unbehagen darüber, dass die Klassische Philologie nirgendwo – weder in Deutschland oder Österreich noch in der Schweiz – an einer Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft mehr als oberflächlich partizipiert. Wo mangelndes Methodenbewusstsein und geringe theoretische Neugier in den Alten Philologien auf Neue Philologien träfen, die sich den alten Techniken und Fertigkeiten entfremdet hätten, herrsche oft nur betretenes Schweigen. Dabei könnten die Alten Philologien etwa durch die konzeptionelle Schärfung ihres Formbegriffs zu interessanten Gesprächspartnern werden: „Philologie ist die mikroprozessorische Informatik und Hermeneutik ausschnitthafter Weltprojektionen“, so Schwindt.

Den Ort der Alten Philologien sieht er systematisch an der Seite der Gegenwartsliteratur und ihrer Erforschung, denn die nachholende Lektüre von alten Texten, deren denkerischer Gehalt schon ausgeschöpft zu sein schien, bleibe die Herausforderung der Klassischen Philologie. Hielte sie die Deutung der alten Texte für abgeschlossen, arbeitete sie an ihrer Selbstabschaffung. „Altphilologie ist auch die Wissenschaft von der Moderne unter der belastenden Probe solcher Texte, die schon mehr als einmal in eine Moderne hineingesprochen haben“, bekräftigte der Heidelberger Latinist, der den Förderpreis für solche neuen Ansätze in den Alten Sprachen 2005 gemeinsam mit dem Universitätsverlag Winter ins Leben gerufen hat.

Die Nachwuchswissenschaftler, die mit dem Heidelberger Förderpreis ausgezeichnet werden, haben manche ausgetretenen Pfade ihrer Vorläufer gemieden und schlagen oft Lösungswege für philologische Schwierigkeiten vor, an die etablierte Wissenschaftler nicht gedacht haben oder die sie, den bequemen Bahnen ihres bisherigen Denkens verhaftet, für nicht begehbar gehalten haben. Die Jungen erfahren in eigener Lektüre, dass es abwegig wäre, Montaigne ohne Seneca, Leopardi ohne Horaz, Shakespeare ohne Plautus und Plutarch verstehen zu wollen. Solche Ansätze könnten auch in die Schulen zurückwirken. Schon jetzt planen Latein- und Griechischlehrer mit Deutsch-, Geschichts- oder Politiklehrern gemeinsame Projekte, aber das könnte noch viel häufiger geschehen. Denn der Erfolg des Lateins wird nicht ewig währen, vor allem darf er nicht darüber hinwegtäuschen, wie angefochten schon heute der Griechischunterricht ist. Dabei könnte gerade der Griechischunterricht von einem integralen Konzept der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft profitieren.

 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 10.05.2012
zum Seitenanfang/up