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Licht auf ein dunkles Jahrhundert

Das 12. Jahrhundert vor Christus galt Fachleuten bislang als der Beginn der "dunklen Jahrhunderte" Griechenlands. Nach einer Zeit anhaltender Hochkultur kam es um 1200 v. Chr. aus noch nicht hinlänglich geklärten Gründen zu einer tiefen historischen Zäsur: Paläste wurden zerstört, Städte von ihren Einwohnern verlassen, Handelskontakte zerbrachen, politische Strukturen zerfielen. Die jüngsten Ausgrabungen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Heidelberg im griechischen Tiryns, einem ehemaligen Zentrum der Macht, zeigen ein überraschend anderes Bild. Die archäologischen Befunde legen den Schluss nahe, dass das 12. Jh. v. Chr. zumindest vorübergehend zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse unter der Vorherrschaft von Tiryns geführt hat. Joseph Maran beschreibt und interpretiert die neuen Erkenntnisse, die Licht auf ein dunkles Jahrhundert werfen.

Korridor der Ostgalerie
Zu den herausragenden Baudenkmälern der Bronzezeit in Griechenland zählen die in Kraggewölbetechnik errichteten Galerien der Befestigung von Tyrins. Das Bild zeigt den Korridor der Ostgalerie.

Die Geschichte der Entdeckung der mykenischen Hochkultur des 2. Jahrtausends v. Chr. ist gleichzeitig eine Geschichte der Anfänge der Archäologie in Griechenland. Mit dem Beginn der Erforschung dieses Zeitalters ist untrennbar der Name von Heinrich Schliemann verbunden. Die Suche nach den Schauplätzen der homerischen Epen führte ihn in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht nur nach Troia, sondern auch nach Mykene und Tiryns in der Argolis sowie nach Orchomenos in Böotien, wo er Paläste und monumentale Grabanlagen einer bis dahin unbekannten und seitdem als mykenisch bezeichneten Kultur fand.

Seit den bahnbrechenden Forschungen Schliemanns sind rund 125 Jahre vergangen, und ein Blick auf die während dieses Zeitraumes gewonnenen Erkenntnisse macht deutlich, dass sich das gesamte Bezugssystem der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der mykenischen Epoche seither grundlegend verändert hat. Schliemann und mit ihm die ersten Generationen der an Orten wie Mykene, Orchomenos und Tiryns tätigen Forscher verwendeten die Ilias und Odyssee als Leitfaden ihrer Untersuchungen und beurteilten die zutage kommenden Hinterlassenschaften aus dem Blickwinkel der Überlieferung dieser Epen.


Plan der Akropolis
DerPlan der Akropolis von Tiryns zeigt die wichtigsten Strukturen der ausgehenden Palastzeit und die bisherigen Ausgrabungen.

Heute dagegen sind wir dank archäologischer Forschungsergebnisse und besonders dank der Entzifferung der als Linear B bezeichneten Schrift, mit der eine frühe Form von Griechisch geschrieben wurde, in der Lage, diese Kultur aus zeitgenössischen Quellen heraus zu verstehen. Die Linear B-Quellen zeigen uns, dass das mykenische Griechenland im 13. Jh. v. Chr. in Reiche unterteilt war, die von Palästen beherrscht wurden. An der Spitze der sozialen Hierarchie dieser Reiche stand ein mächtiger Herrscher, der den Titel wanax führte und der politische und religiöse Befugnisse in sich vereinte. Die Paläste übten eine starke Kontrolle auf bestimmte Wirtschaftszweige wie die Metallurgie, die Textil- und Ölproduktion aus, und die im Reich befindlichen Ortschaften waren dem Palast gegenüber abgabenpflichtig.

Die Burg von Tiryns
Die Burg von Tiryns steht auf einem niedrigen Felsen. Rund um ihn erstreckte sich die Stadt. Im Jahre 1999 wurde der Ort von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.

Spätestens durch die Auswertung der Linear B-Quellen wurde die Deutungsmacht der Homerischen Epen für die mykenische Zeit endgültig gebrochen. Allein schon die Gegenüberstellung der starken Herrscherpersönlichkeit des mykenischen wanax mit dem basileus, dem König der homerischen Epen, dessen politische Stellung auf dem Konsens der Eliten der Gemeinschaft beruhte, führt vor Augen, dass sich Homer bei der Schilderung der politischen Verhältnisse in erster Linie auf seine Zeit bezogen hat.


Fresko aus dem Palast von Tiryns
Zahlreiche Fresken schmückten den Palast von Tiryns (13. Jh. v. Chr.)

Die unweit der Bucht von Nafplion gelegene Akropolis von Tiryns erhebt sich auf einem schmalen und niedrigen Felsrücken aus der Argivischen Ebene. Im Laufe des 14. und 13. Jhs. v. Chr. wurde der Felsen mit einer mächtigen Mauer befestigt, die wegen ihrer riesigen Steinformate in der späteren antiken Überlieferung als Werk übernatürlicher Wesen, der Kyklopen, bezeichnet wurde. Die Befestigung blieb über die Jahrtausende hinweg in Teilen sichtbar und sorgte dafür, dass, im Unterschied etwa zu Troia, an der Identifizierung des bei Homer als "wohlbefestigt" bezeichneten Tiryns nie ein Zweifel bestand. Das Plateau des Burgfelsens fällt von Süden nach Norden ab, und diese topographische Gegebenheit wurde in der mykenischen Zeit dazu genutzt, eine Gliederung in eine Oberburg, Mittelburg und Unterburg zu schaffen.


Fresko aus dem Palast von Tiryns
Zahlreiche Fresken schmückten den Palast von Tiryns (13. Jh. v. Chr.)

Der Vergleich mit anderen zeitgleichen Zentren zeigt, dass hiermit die gesellschaftliche Hierarchie versinnbildlicht wurde, denn das Zentrum der Macht befand sich stets auf einem topographisch besonders exponierten Punkt; in Tiryns im Palast auf der Oberburg.

Um den Felsen erstreckte sich auf allen Seiten eine Außensiedlung, die so genannte Stadt von Tiryns. Ob es darüber hinaus gebaute Hafeneinrichtungen wie Kaimauern oder Wellenbrecher gegeben hat, ist noch nicht bekannt, doch ist davon auszugehen, dass ein Teil der Bedeutung des Ortes auf seiner Funktion als Tor des Seehandels für die Landschaft Argolis beruhte.

Der schon 1884 und 1885 von Schliemann und Wilhelm Dörpfeld freigelegte Palast von Tiryns verkörpert bis zum heutigen Tage das wohl beste Beispiel eines mykenischen Königssitzes. Er war prachtvoll mit Fresken ausgeschmückt und wurde, wie auch die meisten anderen zeitgleichen Paläste, von einem großen, zentralen Gebäude, dem ein ausgedehnter Hof mit Säulenhalle vorgelagert war, beherrscht. Dieses Zentralgebäude identifizierte Dörpfeld mit dem in der Odyssee als "Megaron" bezeichneten Bauwerk, ein Ausdruck, den wir auch heute noch für Gebäude mit derartigem Grundriss verwenden, obwohl sehr unwahrscheinlich ist, dass Homers Schilderung sich hierauf bezog.


Schmales Bauwerk in der Ruine des Großen Megarons
Im 12. Jh. v. Chr. wurde in der Ruine des Großen Megarons ein schmales Bauwerk ähnlichen Grundrisses errichtet. Durch die Integration des ehemaligenThronplatzes in den Neubau entstand ein neues Repräsentativgebäude.
Innenraum eines Hauses
Der Innenraum eines der um 1150 v. Chr. brandzerstörten Häuser war ehemals durch Reihen von Holsäulen mit steinerner Basis unterteilt. Der Eingang öffnete sich zum Hof, den ein weiteres Gebäude begrenzte. Eine schmale Gasse verband das Anwesen mit anderen Teilen der Siedlung.

Das große Megaron verfügte über eine Vorhalle, einen Vorraum und einen Hauptraum, in dem sich ein Thronplatz sowie ein zentraler, von vier Säulen umgebener runder Zeremonialherd befand. Genau in Verlängerung der Mittelachse des Megarons lag im Hof ein Rundaltar, an dem ebenso Kulthandlungen ausgeführt worden sein müssen wie an dem Herd im Thronraum.

Der von Schliemann und Dörpfeld entdeckte Palast war Teil eines umfangreichen Bauprogrammes, das um circa 1250 v. Chr. in die Tat umgesetzt wurde. In dieser Zeit wurden auch andere der für Tiryns noch heute kennzeichnenden architektonischen Glanzleistungen erbaut, zum Beispiel die so genannten Galerien mit ihrem Spitzgewölbe, die stark befestigte Westtreppe und die beiden Brunnengänge in der Unterburg. Ganz ähnliche Bauvorhaben wurden annähernd zeitgleich in dem Luftlinie nur rund 15 Kilometer entfernten Mykene verwirklicht; da aber das politische Verhältnis der beiden Orte in dieser Zeit unbekannt ist, fällt eine Interpretation der sich parallel vollziehenden Bauvorgänge schwer.

Entweder handelte es sich um das Konkurrenzverhalten zweier unter der Herrschaft verschiedener Könige stehender Orte, oder ein und dieselbe starke Herrscherpersönlichkeit war für die Maßnahmen verantwortlich und gestaltete, ähnlich den Pfalzen des europäischen Mittelalters, in zwei verschiedenen Bereichen der Argolis Palastzentren nach ihren Vorstellungen.

Schon 50 Jahre nach den ehrgeizigen Bauvorhaben, nämlich um 1200 v. Chr., fielen Tiryns und die anderen mykenischen Paläste Bränden zum Opfer, als deren Auslöser heute meist Erdbeben angesehen werden. Allerdings zeigen der gleichzeitige Untergang des Hethiterreiches Kleinasiens und Zerstörungen in Städten Zyperns und der Levante, dass die Vorgänge in Griechenland Teil politischer Wirren waren, die einen viel größeren Raum ergriffen.


Gefäße aus dem Schutt einer Siedlung
Im Schutt der Gebäude einer Siedlung, die um 1150 v. Chr. zerstört wurde, fanden sich Gefäße, die auf Kontakte der Bewohner nach Kreta und Zypern hindeuten.

Was geschah aber in Zentren wie Tiryns nach ihrer umfassenden Zerstörung? Unbestritten ist, dass mit dem starken Königtum und seinem Verwaltungsapparat die Schriftkenntnis und die Monumentalarchitektur verschwanden und das Kunsthandwerk einen empfindlichen Rückschlag erlitt. Ungewissheit herrscht aber noch immer über die Tiefe der historischen Zäsur. Versanken die ehemaligen Palastzentren in "Dunkle Jahrhunderte", die bis in die geometrische Zeit (8. Jh. v. Chr.) andauerten und ein Abreißen der Handelskontakte sowie vielleicht sogar die Rückkehr zu egalitären Sozialstrukturen mit sich brachten? Oder aber gibt es Hinweise auf eine politische Reorganisation und Versuche zur Wiederherstellung der Zentralgewalt?

Tatsächlich war man bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg der Ansicht, dass in der Nachpalastzeit, das heißt, in der Zeit zwischen 1200 und 1050 v. Chr., über Tiryns ein dunkles Zeitalter hereinbrach, in dem die Akropolis verlassen und die Stadt teilweise von ihren Einwohnern aufgegeben wurde. Für das Palastareal auf der Oberburg ging die Forschungsmeinung bis in jüngste Zeit von einer langen Siedlungsunterbrechung zwischen dem Brand des Palastes und der Eisenzeit aus. Ein im Ost-Teil der Ruine des großen Megarons errichtetes schmales Megaron, das Schliemann und Dörpfeld freigelegt hatten, galt als Tempel des 8. oder 7. Jhs. v. Chr. Die Unterburg wiederum wurde als eine Art Fluchtburg zum Schutz der Bevölkerung in Kriegszeiten angesehen.

In den Jahrzehnten seit der Wiederaufnahme der Ausgrabungen in Tiryns in den 1960er Jahren hat sich indes die Beurteilung der Akropolis in der Zeit nach der Zerstörung des Palastes radikal verändert. Im Falle der Unterburg konnte gezeigt werden, dass diese keineswegs als Fluchtburg diente, sondern im Gegenteil sowohl vor als auch nach der Palastzerstörung dichte Bebauung trug und in übergeordnete architektonische Konzepte eingebunden war.

Besonders aufschlussreich war die großflächige Freilegung von Siedlungsresten der Nachpalastzeit durch Klaus Kilian. Der wohl geordnete Charakter der Siedlung veranlasste Kilian, für eine Neubewertung der sozialen und politischen Verhältnisse in den letzten beiden Jahrhunderten der mykenischen Kultur zu plädieren.

In diesem Zusammenhang erwog Kilian, dass das schmale Megaron im Großen Megaron ein nachpalatiales Repräsentativgebäude gewesen sein könnte, das man in die Ruine des Großen Megarons integriert hatte, um den Thronplatz in dem Neubau wiederzuverwenden. Mehr als 100 Jahre nach Auffindung des Gebäudes schien es allerdings, als könnte diese Meinung weder bewiesen noch widerlegt werden.

In den letzten Jahren haben Ausgrabungen, die das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Heidelberg im Auftrag des Deutschen Archäologischen Institutes in Tiryns durchführt, zu dem neuen Bild des 12. Jhs. v. Chr. beigetragen. Bei Nachuntersuchungen im Großen Megaron fanden sich 1998 überraschenderweise Gruben von Holzpfosten, die zu dem rätselhaften schmalen Megaron gehört haben müssen. Holzkohle aus diesen Gruben ergab bei einer C14-Datierung durch Bernd Kromer von der Forschungsstelle Archäometrie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Datierungen, die Kilians Annahme, es handle sich um einen mykenischen Bau, stützen.


Fünf aufeinanderfolgende Siedlungsphasen des 12. Jhs. v. Chr.
Die Ausgrabungen in Tiryns-Stadt förderten Mauerzüge von fünf aufeinanderfolgenden Siedlungsphasen des 12. Jhs. v. Chr. zutage.

Offensichtlich hat es im Zentrum der mykenischen Macht auf der Oberburg eine die Zeit vor und nach der Katastrophe verbindende Kontinuitätslinie gegeben. Die erneute Inanspruchnahme des Grundstücks des Großen Megarons und die Bezugnahme auf dieses Gebäude deuten darauf hin, dass ein Segment der Gesellschaft versuchte, Teile der alten gesellschaftlichen Ordnung wiederherzustellen.

Diese restaurativen Bestrebungen betrafen allerdings nur ganz bestimmte Teile der Oberburg mit besonders hoher politischer Symbolik. So ist bezeichnend, dass abgesehen von dem Megaron auch der Altar im Großen Hof wiederverwendet wurde. Der Hauptteil des ehemaligen Palastareals wurde dagegen nicht wieder aufgebaut, und das schmale Megaron muss sich inmitten der teilweise abgetragenen und nivellierten Ruinen des Palastes verhältnismäßig isoliert erhoben haben.

Wir wissen heute, dass sich im 12. Jh. v. Chr. in der Unterburg eine wohl geordnete Siedlung befunden hat und dass auf der Oberburg ein Gebäude stand, das das Fortbestehen von Resten einer Zentralgewalt bezeugt. Auch die wenigen Erkenntnisse über die sich zu Füßen des Burgfelsens erstreckende Stadt von Tiryns zwingen zu einer Revision früherer Vorstellungen von einem krassen Rückschlag nach der Palastzerstörung.

Die bisherigen Ausgrabungen haben gezeigt, dass die Außensiedlung im 12. Jh. v. Chr. eine besonders große Ausdehnung gehabt hat. Kilian führte dies auf ein Bevölkerungswachstum infolge eines Zuzuges von Flüchtlingen im Anschluss an die Wirren um 1200 v. Chr. zurück, und er nahm sogar an, dass die Siedlung nach der Palastzerstörung planmäßig und mit einem festen Wegenetz neu errichtet wurde.

Im Nordwesten des Stadtgebiets stellte er drei sich überlagernde Bauhorizonte der Zeit zwischen ca. 1200 und 1150 v. Chr. fest, deren Gebäude jeweils um einen Hof gruppiert waren. Der älteste dieser Bauhorizonte war im frühen 12. Jh. v. Chr. auf Flussablagerungen von 1,20 bis 1,50 Meter Mächtigkeit gegründet worden. Was hierunter folgt, konnte Kilian nur in einer Tiefgrabung untersuchen.

Dabei zeigte sich, dass sich unter den Fluss-Sedimenten eine Siedlungsschicht mit Keramik des frühen 13. Jhs. v. Chr., das heißt der Palastzeit, anschließt. Dieser Befund war ausschlaggebend für die von Eberhard Zangger aufgestellte These, der zufolge ein Fluss um 1200 v. Chr. plötzlich weite Teile von Tiryns überschwemmt und Siedlungsreste des 13. Jhs. unter mächtigen Ablagerungen begraben hätte. Nach dieser Katastrophe sei im Oberlauf des Flusses der Damm von Kofini aufgeschüttet und der Fluss weit an Tiryns vorbei umgeleitet worden, wodurch Tiryns in der Folgezeit von derartigen Katastrophen verschont blieb.

Ungefähr 130 Meter östlich jenes Grabungsareals Kilians, das erstmalig Hinweise auf die Existenz dieser angeblichen Katastrophe geliefert hatte, erbrachten Ausgrabungen, die wir in den Jahren 1999 und 2000 in Zusammenarbeit mit dem Griechischen Antikendienst durchführten, neue Erkenntnisse zum Charakter der Stadt der Nachpalastzeit.

Der Damm von Kofini
Wenige Kilometer östlich von Tiryns liegt der Damm von Kofini. Das Bett eines nach Tiryns fließenden Flusses wurde dort, wo mehrere Quellbäche zusammenflossen, mit einem Erddamm verschlossen und der Fluss durch ein neues Bett umgeleitet.

Die von uns angetroffenen Befundverhältnisse ähneln denen in Kilians Ausgrabung im nordwestlichen Stadtgebiet. Nicht nur entsprachen die Struktur und Ausrichtung der in ihren Grundmauern erhaltenen Gebäudegruppen denen der Häuser in Stadt-Nordwest, sondern am Ende der Ausgrabung erreichten wir die Oberkante der Flussablagerungen, und wieder waren Häuser des frühen 12. Jhs. v. Chr., das heißt der Zeit nach der Zerstörung des Palastes, unmittelbar auf ihnen erbaut worden.

Auf die erste Siedlungsphase folgten bis circa 1100 v. Chr. noch mindestens vier weitere, womit sich eine schnelle Abfolge von Siedlungen konstatieren lässt. Spätestens ab der zweiten Besiedlungsphase, die um etwa 1150 v. Chr. durch einen ausgedehnten Brand abgeschlossen wird, tritt in dem Areal das bereits aus anderen Grabungsarealen bekannte architektonische Arrangement mit den um einen Hof angeordneten Gebäuden in Erscheinung.

Westlich grenzte an einen solchen Hof ein Haus, das zu den größten bisher bekannten der Nachpalastzeit zählt und sich durch die Verwendung mehrerer Reihen von Säulen aus dem Kreis zeitgleicher Gebäude hervorhebt. Das umfangreiche Fundspektrum aus der Zerstörungsschicht des Hauses und seiner Umgebung umfasst Objekte, die auf Beziehungen zu Kreta und Zypern schließen lassen und die beweisen, dass der internationale Handel des Hafenortes Tiryns mit dem Fall des Palastes nicht zum Erliegen kam, sondern von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen fortgeführt wurde.

Unsere Ausgrabungsergebnisse bestätigen, dass im frühen 12. Jh. v. Chr. im Norden der Burg ein Areal, das zuvor von einem Fluss überschwemmt worden war, überbaut wurde. Ob es sich bei dieser Flussüberschwemmung wirklich, im Sinne von Zangger, um ein plötzliches, katastrophales Ereignis gehandelt hat, scheint mir zweifelhaft zu sein. Gemäß der Ausgrabungsbefunde in Tiryns-Stadt-Nordwest und -Nordost wäre es ebenso gut möglich, dass ein Fluss seit etwa der Mitte des 13. Jhs. v. Chr. für mehrere Jahrzehnte nördlich von Tiryns vorbeigeflossen ist und dabei die Sedimente zu beiden Seiten seines Laufes aufgeschüttet hat.

Karte mit Tiryns

Solche periodischen Überschwemmungen können durchaus, und hier stimme ich mit Zangger überein, die Veranlassung zur Erbauung des Dammes von Kofini gegeben haben. Neben dem Schutz vor Überschwemmung ist dabei insbesondere der Wunsch zur Gewinnung neuen Baulandes im Stadtgebiet als Auslöser des drastischen Schrittes in Erwägung zu ziehen.

Der Bau des Dammes könnte eine weitere jener eindrucksvollen architektonischen und ingenieurtechnischen Errungenschaften gewesen sein, die in Tiryns zwischen circa 1250 und 1200 v. Chr. vollbracht wurden. Trifft diese Sichtweise zu, so wurden die Pläne zur Neukonzeption des Stadtgebietes allerdings erst nach dem Fall des Palastes verwirklicht.

Durch den Nachweis eines zeitgleichen Beginns der Bautätigkeit in den bisher im Norden der Akropolis von Tiryns ausgegrabenen Arealen sowie in Anbetracht der sehr ähnlichen Ausrichtung der Bebauung in den bisher erforschten Bereichen dieser Zone gewinnt Kilians Auffassung, dass die Siedlung des 12. Jhs. v. Chr. planmäßig errichtet wurde, an Wahrscheinlichkeit. Die Ursachen für den Ausbau der Außensiedlung sind indes wohl nicht allein in einem Bevölkerungswachstum, sondern eher in einer tiefgreifenden Veränderung der Siedlungsstruktur zu suchen.

Als die treibende Kraft hinter der Bebauung des Stadtgebietes im frühen 12. Jh. v. Chr. ist eine neue Oberschicht zu vermuten, für die die Akropolis als Siedlungsareal ausschied und die, befreit von den Zwängen der strengen Palastkontrolle, neue Areale im Umfeld der Burg für sich beanspruchte.

Die in Tiryns in den letzten Jahrzehnten aufgedeckten archäologischen Befunde stellen zumindest für die Zeit nach der Zerstörung der Paläste den Begriff "Dunkle Jahrhunderte" in Frage und legen den Schluss nahe, dass das 12. Jh. v. Chr. wenigstens in der Argolis vorübergehend zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse auf einem niedrigeren Niveau geführt hat.

In der besonderen Größe der Stadt von Tiryns in der Nachpalastzeit dürften sich nicht nur lokale Strukturveränderungen, sondern auch Verschiebungen im Machtgefüge der Argolis widerspiegeln. Tatsache ist, dass es nirgends in Griechenland nach dem Katastrophenhorizont um 1200 v. Chr. vergleichbare Indizien für Bestrebungen zur Wiederherstellung der Zentralgewalt gibt wie auf der Oberburg von Tiryns, oder, anders ausgedrückt, weder in Mykene noch in irgendeinem anderen ehemaligen Palast geschah, was wir in Tiryns beobachten können: der Wiederaufbau des zentralen Megarons unter Einschluss des Thronraumes. Dieser Zeitabschnitt der Geschichte der Argolis könnte somit im Zeichen der Vorherrschaft von Tiryns gestanden haben.

Autor:
Prof. Dr. Joseph Maran,
Institut für Ur- und Frühgeschichte,
Marstallhof 4, 69 117 Heidelberg,
Telefon (06221) 542540, Fax (06221) 542526,
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