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Ein Unzeitgemäßer lehnt den Schlussstrich ab

10. Juli 2008
Heidelberger Vorträge zur Kulturtheorie: Ausklang mit Martin Walsers Gedanken zur Identitätskrise in Deutschland
Die Freundschaft Martin Walsers mit Dieter Borchmeyer reicht fast soweit zurück wie die vielfachen Vorwürfe des Reaktionismus und Antisemitismus, welchen sich der Schriftsteller schon seit Jahrzehnten stellen muss. Denn im Kampf gegen einen oftmals uneinsichtigen und verfehlten Zeitgeist hat er mit dem Heidelberger Germanistik-Professor einen langjährigen Mitstreiter gefunden.

Dementsprechend begannen die gestrigen Vorträge trotz der zahlreichen Zuhörer in lockerer Atmosphäre bei einem Glas Wein, allerlei Anekdoten und ironischen Anspielungen, führten allerdings im Verlaufe des Abends direkt hinein in die Problematik der deutschen Identität und letzten Endes zur ewig offenen Wunde unserer Vergangenheit.

Dieter Borchmeyer gab den Auftakt mit einem Referat zu den vielfachen Literaturstreiten unter dem Dach der "Kulturnation" Deutschland, welche in der Nachkriegszeit mit der Spaltung der politischen Nationen BRD und DDR zusätzlich befeuert wurden.

Auf Grund ideologischer Verblendungen kam und kommt es auch heute noch beiderseits zu "Götterstürzen" in der Literaturszene, so zum Beispiel, als Botho Strauß und Martin Walser mit einer Verdrängung in die "rechte" Ecke diskreditiert werden sollten oder als umgekehrt die Schriftstellerin Christa Wolf aus der ehemaligen DDR in den neunziger Jahren auf Grund einer umstrittenen Stasi-Vergangenheit in die USA flüchten musste, weil sie sich den Attacken der Presse nicht mehr gewachsen fühlte. Borchmeyer wittert hier nicht zuletzt eine selbstregulierte Aufwiegelung der Medienkonzerne, welche unter dem zunehmenden Wettbewerbsdruck immer neue künstliche Skandale aus dem Boden stampfen.

Martin Walser wollte nach diesem "Segelflug übers geistige Hochgebirge" seines Kollegen in die Täler seiner eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zurückkommen. So beklagte er sich bereits 1977 darüber, dass er als Deutscher nicht unbehelligt nach Leipzig und Dresden reisen durfte und die beiden "Verkürzungen", die sich Nationen nannten, nicht akzeptieren konnte.

Die vermeintlich "Fortschrittlichen" – unter ihnen auch der damalige Bundeskanzler Willy Brandt – bezeichneten Walser daraufhin als "Gestrigen". 1988 dann stellte Walser heraus, dass Auschwitz nicht als Argument gegen die Wiedervereinigung angeführt werden könne, denn die Teilung Deutschlands sei nicht als Strafe für die Verbrechen angelegt, sondern schlichtweg eine Folge des Kalten Krieges gewesen. Bereits ein Jahr darauf wurde er mit dieser Ansicht zu einem "Morgigen".

Mit dem Ansprechen der deutschen Erbsünde war denn auch der Kern der Identitätskrise gefunden. Am eindrucksvollsten schilderte vielleicht der Mitveranstalter Manfred Lautenschläger das schwierige Verhältnis zwischen Konfrontation und Abwendung von der schrecklichen Vergangenheit.

Er beschrieb seinen Reflex des Wegsehens, sich Davon-Schleichens, des stillen Weinens und der kaum zu bewältigenden Scham im Angesicht der unfassbaren Realität bei einer Besichtigung des KZ Dachau und verwies darauf, dass diese allzumenschliche Reaktion bei der Sensibilität eines Schriftstellers wohl notwendigerweise noch stärker ausgeprägt sei.

Martin Walser will auf keinen Fall als Schlussstrich unter der Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld stehen, allerdings darf man ihm auch keinen Strick daraus drehen, wenn er nicht zum Leiden an der Vergangenheit gezwungen sein, sondern sich dem Schmerz aus eigener Entscheidung stellen will.
Christian Bentz
© Rhein-Neckar-Zeitung

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