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Geschrieben hat er wie im Rausch

23. Juni 2008
Zwei Heidelberger Germanisten arbeiten an einer historisch-kritischen Ausgabe von Kafkas Manuskripten – Und fördern Erstaunliches zutage
Seit über zehn Jahren arbeitet der Heidelberger Germanistik-Professor Roland Reuß zusammen mit seinem Seminarkollegen Peter Staengle an einer Lebensaufgabe: die historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte von Franz Kafka. Darin ist jeder faksimilierten Manuskript-Seite eine Transkriptions-Seite gegenübergestellt, die sich jeden Eingriffs in den Wortlaut enthält. Sieben Bände sind schon erschienen, nun folgt der nächste: Kafkas Oktavhefte 3 und 4, in denen er etwa "Ein Bericht für eine Akademie" niederschrieb.

Herr Professor Reuß, wozu braucht die Welt eine Faksimile-Ausgabe von Kafkas Werken?

Die Antwort ist einfach: Wie bei kaum einem anderen Schriftsteller der Moderne gibt es so gravierende Unterschiede zwischen den meist handschriftlichen Manuskripten und den edierten Büchern. Mit der Faksimile-Ausgabe wollen wir unter anderem einen unverstellten Blick auf Kafkas ursprüngliches Werk ermöglichen.
Was man wissen muss: Kafka hatte die Veröffentlichung seiner Texte gar nicht im Sinn. Dass – und besonders die Art wie – sein Nachlassverwalter und Freund Max Brod den Großteil von Kafkas Schriften posthum veröffentlicht hat, führte zu einem zweischneidigen Ergebnis. Einerseits konnte Kafkas Werk weltberühmt werden, andererseits wurden die Urtexte stark abgeändert. Man kann sagen: Kafkas Werk, so wie wir es aus den Büchern kennen, ist auch zu einem großen Teil eine Dichtung Brods.

Weshalb änderte Brod die Manuskripte ab?

Zum einen "zwang" ihn Kafkas Arbeitsweise dazu. Der hat nämlich wie im Rausch und in einem Guss geschrieben. "Das Urteil" etwa entstand in einer einzigen Nacht. Daher enthalten die Manuskripte etliche Streichungen und Einfügungen, die Kafka nachträglich nicht redigierte – und natürlich sind auch Fehler zu finden. Zum anderen tauchen auch einige literarische Extravaganzen auf, die Brod regulierte, da sie den damaligen Leser seiner Meinung nach überfordert hätten.

Welche Extravaganzen zum Beispiel?

In "Der Prozess" wird die damals ohnehin schon ungewöhnliche Erzählsituation der erlebten Rede im Manuskript am Ende plötzlich durch eine Ich-Perspektive durchbrochen. Das hat schon Brod für die leichtere Verdaulichkeit umgeschrieben und auch die jüngste Fischer-Ausgabe hat Brods Fassung beibehalten.

Wer kauft die Faksimile-Ausgaben?

Natürlich ist unsere Kafka-Ausgabe nicht für den normalen Literaturmarkt gedacht. Die Subskribenten sind einmal glühende Kafka-Liebhaber, die alles interessiert, was von oder über ihn erscheint. Aber besonders auch Schriftsteller wie etwa die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gehören zu den Abnehmern. Denn die Manuskripte offenbaren sehr viel über den Schreibprozess an sich. So lässt sich nachvollziehen, dass die Schreibmaterialien sehr großen Einfluss auf die Form und den Inhalt haben. Als Kafka etwa anfing, in die kleinen Oktavhefte zu schreiben, verkürzte sich auch automatisch die Länge seiner Texte.

Wie zeitaufwändig ist Ihre Arbeit an der Ausgabe?

Für einen Band brauchen wir ein bis zwei Jahre. Abgeschlossen soll das Werk in etwa zehn Jahren sein. Unser großes Glück ist, dass fast alle Manuskripte an einer Stelle archiviert sind: im britischen Oxford. Ein kleiner Teil liegt zudem im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Gab es auch schon große Stolpersteine?

Ein Problem waren die Steno-Aufzeichnungen, die Kafka gemacht hat. Nach einer Weile hatte er seinen ganz eigenen Abkürzungs-Code entwickelt, der leider nicht sehr leicht zu entschlüsseln war.

Können Sie Kafka überhaupt noch sehen?

Ja! Denn ich sitze nicht ausschließlich über den Manuskripten. Etwa 50 Prozent meiner Arbeitszeit investiere ich in meine weiteren universitäre Aufgaben.
Bastian Strauch
© Rhein-Neckar-Zeitung

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