Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die demokratische hinkt der wirtschaftlichen Entwicklung hinterher

Von Mirjam Mohr

Ungarn, Polen oder die Türkei, die gerade mit den üblen Nachwirkungen des Putschversuchs kämpft: Diese Länder haben zuletzt mit politischen Entwicklungen auf sich aufmerksam gemacht, die in Deutschland als problematisch für eine Demokratie angesehen werden. Ob und inwieweit dort die Qualität der Demokratie tatsächlich abnimmt, das misst der Transformationsindex BTI (Grafik: Bertelsmann Stiftung), der eng mit dem Institut für Politische Wissenschaft (IPW) der Ruperto Carola verbunden ist. Tatsächlich lautet eines der aktuellen Ergebnisse, „dass es zwar keine Krise der Demokratie im weltweiten Maßstab gibt, aber doch eine Stagnation der Demokratieentwicklung“, wie Prof. Dr. Aurel Croissant sagt. Der Politikwissenschaftler ist einer der Regionalkoordinatoren des Transformationsindex’, den Wissenschaftler seit 1999 alle zwei Jahre im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellen.

Der BTI lässt sich als Ranking der Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und politischer Gestaltungsleistung beschreiben. Ins Leben gerufen wurde er als Reaktion auf die Welle des Übergangs von Diktaturen zu Demokratien und von planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen Systemen, die seit Mitte der 1970er-Jahre und nach dem Ende des Ostblocks die Welt ergriff. „Der BTI misst die Strategien und Ergebnisse dieses Übergangs und untersucht dabei sowohl, wie solche Prozesse verlaufen und welche Ergebnisse sie haben, als auch, wie politische Entscheider und soziale Akteure solche Transformationsprozesse managen“, erklärt Aurel Croissant.

An der Entstehung des Index war das IPW wesentlich beteiligt: Eine der prägenden Gründerfiguren war der Heidelberger Politologe Prof. Dr. Wolfgang Merkel, dessen Konzept der „eingebetteten Demokratie“ die Grundlage des BTI bildet. Aurel Croissant und sein Kollege Dr. Peter Thiery wirken wie auch der frühere Heidelberger Politikwissenschaftler Prof. Dr. Uwe Wagschal ebenfalls von Anfang an mit. Seit zwei Jahren liegt zudem die wissenschaftliche Begleitung des Gesamtprojekts bei Croissant und Thiery. Inzwischen wird es mit Angeboten für Forschungspraktika und Stellen für wissenschaftliche Hilfskräfte auch für die forschungsbasierte Lehre genutzt.

Zurzeit werden 129 Länder untersucht. Die Daten für jedes Land erheben jeweils zwei Experten. Hinzu kommen sieben Regionalkoordinatoren, welche die Experten aussuchen, sie mit dem Instrumentarium vertraut machen, sicherstellen, dass diese ein vergleichbares Verständnis der Untersuchungskriterien haben, und die Vergleichbarkeit der Daten zwischen Ländern und Regionen gewährleisten. Aurel Croissant ist als Regionalkoordinator zuständig für Asien und Ozeanien, Peter Thiery für Lateinamerika und die Karibik. Außerdem begleitet ein wissenschaftlicher Beirat das Projekt.

Grundlage der Untersuchungen ist das Konzept der „eingebetteten Demokratie“ und deren Gegenstück, die „defekte Demokratie“. „Diesem Konzept liegt das Verständnis zugrunde, dass sich Demokratie nicht auf Wahlen reduziert, sondern dass auch politische und bürgerliche Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit, eine Kontrolle der Verfassung und vor allem die Kontrolle der politischen Agenda durch die tatsächlich Gewählten dazugehören“, erläutert Aurel Croissant: „In defekten Demokratien sind zwar wesentliche Merkmale einer Demokratie erfüllt, aber einzelne Bereiche sind eingeschränkt – beispielsweise weil das Militär die politische Entscheidungskompetenz der gewählten Regierung begrenzt oder weil der Rechtsstaat wegen Korruption nicht richtig funktioniert.“

Nutzer der BTI-Daten sind neben Wissenschaftlern vor allem gesellschaftliche und politische Entscheider wie Ministerien oder politische Stiftungen und Organisationen. So ist der Index auch offizielles Messinstrument der G7 zur Evaluation gesellschaftlichen Fortschritts in den arabischen Umbruchländern oder der Bundesregierung zur Bewertung ihrer Partnerstaaten. Organisationen wie Transparency International und die Weltbank nutzen die Daten für ihre Untersuchungen ebenfalls.

Im Februar erschien die neueste Ausgabe, die den Datenstand zum Jahresbeginn 2015 dokumentiert. Zusammengefasst liefert sie folgende Erkenntnisse: Im globalen Maßstab sind in den letzten 15 Jahren bei der wirtschaftlichen Transformation deutlichere Erfolge zu erkennen als bei der demokratischen Entwicklung. Die afrikanischen Länder haben trotz teilweise beeindruckender Wachstumsraten die Entwicklung hin zu einer wirklich ausdifferenzierten Marktwirtschaft nicht geschafft. Die Hoffnungen des „Arabischen Frühlings“ auf mehr Demokratie blieben nicht nur unerfüllt, in den meisten Ländern der Region hat sich die Lage sogar verschlechtert. Und viele osteuropäische Demokratien geraten jetzt in eine Krise, die häufig mit Rechts- wie auch Linkspopulismus einhergeht. Aurel Croissant: „Ob das demokratietheoretisch auf lange Sicht problematisch oder eher ein Korrektiv für Fehlentwicklungen ist, die die populistischen Bewegungen artikulieren, kann man jetzt noch nicht sagen – das müssen wir abwarten.“

www.bti-project.org/de/startseite

Der Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2016 ist für 20 Euro erhältlich unter: www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/transformation-index-bti-2016