Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Gedächtnisstütze der Geistlichen

Von Tina Schäfer

Mit den „Handschriften aus alevitischen Familienarchiven“ beherbergt die Abteilung Islamwissenschaft am Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Ruperto Carola eine Sammlung, die als Glücksfall für die Wissenschaft gelten kann. Die rund 30 Manuskripte geben Einblicke in die Tradition der Aleviten, einer Glaubensrichtung des Islam, die vor allem in Anatolien verbreitet ist. Das Amt des Geistlichen wird im Alevitentum innerhalb bestimmter Familien vererbt – und damit auch das religiöse Wissen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden alevitische Gemeinschaften aus machtpolitischen und religiösen Gründen sozial ausgegrenzt.

So versuchten sie, ihre Tradition vor Außenstehenden zu bewahren. Dies betraf insbesondere das gemeinsam von Frauen und Männern begangene Gemeinderitual „Cem“, in dem neben Gesängen auch der Ritualtanz „Semah“ praktiziert wird, sowie Schriftzeugnisse. Mitunter wird berichtet, Manuskripte seien aus Angst vor staatlichen Repressalien vernichtet worden. Die Handschriften der Heidelberger Sammlung sind in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich. So sind schriftliche Zeugnisse generell eher selten, da die alevitische Tradition vor allem mündlich überliefert wird.

Zugleich ist bemerkenswert, dass die Islamforscher der Ruperto Carola die Manuskripte im Jahr 2004 als unbefristete Leihgabe erhielten und ihnen damit großes Vertrauen entgegengebracht wurde. Und nicht zuletzt sind der Umfang und der gute Zustand dieser seltenen Quellen hervorzuheben.

Die Handschriften – das älteste Exemplar entstand im 19. Jahrhundert, die jüngsten in den 1950er-Jahren – stammen aus dem Besitz der Geistlichenfamilien des Şah İbrahim Veli und des Dede Kargın aus dem anatolischen Dorf Bicir. Die meisten sind in der für das Türkische mittlerweile obsoleten arabisch-persischen Schrift abgefasst und beinhalten Gesänge, Erzählungen und Details zum Cem-Ritual, klassische Dichtungen oder religiöse Traktate. Vielfach wurden sie zum Vorlesen genutzt oder von Geistlichen als Gedächtnisstütze aufbewahrt.

Das Bild zeigt einen noch leeren Platz eines alevitischen Geistlichen, des „Dede“, vor Beginn eines Rituals. Zwei Dedes haben ihre Plätze bereits eingenommen, links und rechts von ihnen haben sich die ersten Teilnehmer des Rituals versammelt.
Foto: Janina Karolewski

Interessant sind dabei auch die Bestrebungen, Dichtung und andere Texte für den Eigengebrauch erstmals schriftlich festzuhalten. Die Heidelberger Islamwissenschaftler haben alle Manuskripte digital erfasst. Ziel ist es zunächst, die Handschriften in einem Katalog zu beschreiben und der weiteren Bearbeitung zugänglich zu machen, was erheblich zur Grundlagenforschung über die alevitische Religionsgeschichte beiträgt: Rituale lassen sich in ihren Abläufen, Entwicklungen und Variationen nachvollziehen, Rückschlüsse auf eventuelle Vorläufer können gezogen und die schriftliche Weitergabe des religiösen Wissens kann beobachtet werden. In der Lehre werden die Handschriften vor allem in der paläografischen Ausbildung eingesetzt.

Das weitere Bestehen, die wissenschaftliche Bearbeitung und die Pflege der Sammlung sind bislang unklar – die derzeitige Finanzierung als ein Projekt im Field of Focus „Kulturelle Dynamik in globalisierten Welten“ ist nur bis August dieses Jahres gesichert. „Schon jetzt fehlen die Mittel zur Anschaffung von Schränken für die angemessene Archivierung und eine professionelle Restaurierung“, beklagt Projektleiter Dr. Robert Langer, der die Bearbeitung der Sammlung koordiniert. Bei einer längerfristigen Finanzierung würde er die Sammlung gerne mit Digitalisaten vergleichbarer Bestände ausbauen: „Die Forschung an der Handschriftensammlung kann schließlich als Alleinstellungsmerkmal der Heidelberger Osmanistik gelten, das weit über die ,klassischen‘ Themenfelder dieses Fachbereichs hinausweist.“

Ein ausführliches Profil der Manuskriptsammlung der Forschungsstelle „Handschriften aus alevitischen Familienarchiven“ in der Abteilung Islamwissenschaft ist zu finden unter:
www.uni-heidelberg.de/unispiegel/islamwissenschaft.html

www.islamwissenschaft.uni-hd.de/alev_handschriften.html