Das kulturelle Gedächtnis. „Kalte“ und „heiße“ Gesellschaften
Jan Assmann
Bild: © Thibaud Poirier / Trinity College Library
In den 1960er-Jahren führte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die Unterscheidung zwischen „kalten“ und „heißen“ Gesellschaften ein. Kalte Gesellschaften streben danach, „mithilfe der Institutionen, die sie sich geben, auf quasi automatische Weise die Auswirkungen zunichte zu machen, die historische Faktoren auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität haben könnten“. „Heiße“ Gesellschaften dagegen sind „durch ein gieriges Bedürfnis nach Veränderung gekennzeichnet und haben ihre Geschichte verinnerlicht, um sie zum Motor ihrer Entwicklung zu machen“. Kälte und Hitze bezeichnen für Lévi-Strauss somit die idealtypischen Pole des Zivilisationsprozesses, der notwendig von Kälte zu Hitze führt.
In einem weitergehenden Ansatz versteht Jan Assmann Kälte und Hitze als Optionen des kulturellen Gedächtnisses, die jederzeit, unabhängig von Schrift, Kalender, Technologie und Herrschaft, gegeben sind – klassische Beispiele für solche „kalten“ Gesellschaften sind das alte Ägypten und das mittelalterliche Judentum. Zudem gibt es auch „kalte“ und „heiße“ Perioden, Perioden eines gesteigerten Geschichtsbewusstseins im Interesse von Entwicklung und Veränderung: So war für die westliche Gesellschaft die ganz im Zeichen des Fortschritts stehende Moderne, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte, eine „heiße“ Periode.
Die NS-Zeit mit Weltkrieg und Holocaust bildet als negative, aber gleichwohl normative Vergangenheit den Kern deutschen Geschichtsbewusstseins. Damit hat die deutsche Gesellschaft ihr „geschichtliches Werden“ zum Motor ihrer Entwicklung, ihres Selbstbilds und ihrer Identität gemacht – und ist so zu einer „heißen“ Gesellschaft geworden. Vergleichbare Formen von Erinnerungskultur haben sich inzwischen in vielen Gesellschaften entwickelt, die sich nach Jahren der Diktatur – mit der für Diktaturen typischen „kalten“ Option für eine gewaltsame Stillstellung der Geschichte – in Demokratien verwandelt haben. Die „heiße“ Option für eine Aufarbeitung der Vergangenheit im Interesse einer Entwicklung, die auf Frieden, Humanität und eine Durchsetzung der Menschenrechte hinarbeitet, gewinnt allmählich, allen Rückschlägen von Rechts zum Trotz, an Boden.
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Die aktuelle Ausgabe: HEISS & KALT
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