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Auch Wörter sind Geschichte

Einen historischen Lexikographen stellt man sich möglicherweise als bärtigen Mann vor, der im Elfenbeinturm sitzt und dort l'art pour l'art betreibt. Obendrein noch mit Feder und Papier. Frankwalt Möhren vom Romanischen Seminar schildert mit durchaus angespitzter Feder, wie die "bärtigen Männer" tatsächlich arbeiten und erläutert an Beispielen, welche gesellschaftliche Bedeutung lexikographischen Forschungsergebnissen zukommt. Lassen Sie sich von seinen kommentierenden Wortgeschichten durch das planvolle Labyrinth der Lexikographie führen: Die Herkunft von Kayal, Kohl und Alkohol aus einer gemeinsamen Wurzel oder der Zusammenhang von Standard und Standarte machen diesen Gang zum kurzweiligen Vergnügen.

"Wie mir Mies van der Rohe lachend erzählte, hatte die Bauhausmannschaft nach ihrer erzwungenen Auswanderungsreise von Berlin nach Chicago als Übersetzung des Bauhausterminus Gestaltung den Kunstbegriff design nach dem französischen dessin erfunden. Heute designen wir alle und keiner gestaltet mehr." Das ist doch wunderbar: Eduard Grosse, gedruckt an seriösem Ort (Gegenworte, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 7, 62), bringt uns Bildungsbürgern die Etymologie der globalen Bezeichnung design nahe: Deutsche Stararchitekten, wenn auch ausgereiste, zeigen den Amerikanern und der Welt wie's gemacht wird und liefern denen auch gleich die sprachlichen Mittel, um darüber zu reden. Das ist Balsam für die Volksseele.

Von Descartes' methodischem Zweifel angetrieben fühlt sich nun so ein Sprachwissenschaftler aufgerufen, in die schillernde Seifenblase zu stechen: Gängige wissenschaftliche Wörterbücher verlegen die englische Bezeichnung ins 17. Jahrhundert, verknüpfen sie mit dem französischen dessin (auch desseing geschrieben) und mit dem italienischen disegno der Renaissance des 15. Jahrhunderts. Sollte es egal sein, ob englisch design von deutschen Gestaltern des 20. Jahrhunderts geprägt wurde oder ob es auf der kulturellen Entwicklung Europas seit der Renaissance beruht, dann brauchen wir wirklich keine historischen Wörterbücher. Dann sollte man uns aber auch mit der Frage verschonen, und vor allem mit der falschen Antwort, wie sich der Begriff des Designs oder der Gestaltung herausgebildet hat. Der Mensch ist aber auch für Legenden dankbar, zu übermächtig ist seine historische Neugier. Dazu gehört sein elementares Interesse für die Herkunft der Wörter und der Wortbedeutungen. Durch die Ergründung des Vergangenen versucht er sein Dasein im Jetzt zu verstehen; ja, er glaubt sogar für die Zukunft gerüstet zu sein durch die Kenntnis des historischen Werdens. Der Affe tut das nicht.

Der Mensch hat historische Wissenschaften entwickelt, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen: Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, dazu, innerhalb anderer Fächer: Rechtsgeschichte, Geschichte der Mathematik, der Medizin, der Physik, der Sprachen und Literaturen, der Botanik, etwa Paläoethnobotanik – die Geschichte der Nutzpflanzen – und viele andere. Die Historiker unterscheiden auch Geschichte und Vorgeschichte, wobei sich die Vorgeschichte auf die schriftlose Zeit bezieht, die Geschichte auf die Zeit der schriftlichen Überlieferung. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, historische Wörterbücher zu erarbeiten, die den Zugang zu den schriftlichen Quellen ermöglichen.

Wenn in der Sorbonne, in Oxford, Cambridge, Tokyo oder Princeton, an der Harvard University oder der Ruperto Carola ein Forscher Auskunft zu einem lateinischen Wort sucht, schlägt er den Thesaurus linguae latinae auf, will er etwas zum Altägyptischen wissen, hilft ihm nur das Wörterbuch der ägyptischen Sprache beziehungsweise jetzt das daraus entwickelte Altägyptische Wörterbuch; Fragen zu den romanischen Sprachen stillt nur das Romanische Etymologische Wörterbuch, zum Französischen das größte je zu einer Sprache geschriebene etymologische Wörterbuch, das

Französische Etymologische Wörter buch, dem jetzt in Saarbrücken, als italienisches Pendant, der Lessico Etimologico Italiano zur Seite gestellt wird. Die Liste – sie lässt sich leicht verlängern – gibt einen Eindruck von der Kraft und der wissenschaftlichen Tiefe der deutschen, das heißt deutschsprachigen Lexikographie: Sie liegt weltweit an der Spitze. Warum? Weil geistesgeschichtliche Entwicklungen, der wissenschaftliche Forscherdrang Einzelner und die Strukturen unserer Universität einen guten Boden dafür geschaffen haben.

Hätten sich die deutschen Sprachwissenschaftler darauf reduziert, Stammeswörterbücher zu schreiben, wäre die Spitzenstellung nie erreicht worden. So hielten sie es mehr mit Goethe: "Vielleicht überzeugt man sich bald", schreibt er 1801, "daß es keine patriotische Kunst und patriotische Wissenschaft gebe. Beide gehören, wie alles Gute, der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden." (Flüchtige Übersicht).

Heidelberg nimmt in diesem Geflecht wiederum eine herausragende Stellung ein. Ganz ohne pekuniäre Leistungsanreize und ohne dirigistische positive oder negative Eingriffe und ohne etwa ein "Nationales Lexikographieinstitut" zu gründen (das französische "Institut national de la langue française" wurde inzwischen wieder abgewürgt), haben sich hier lexikographische Projekte entwickelt. Wissenschaftliche Neugier, Begeisterungsfähigkeit, Mut zu Initiativen, die in Großforschung münden können, rein wissenschaftliche Anforderungen der jeweiligen Fächer sind die Grundlage für diese Entwicklung. Weitere Voraussetzung ist die Qualität der gewachsenen und noch nicht zerstörten Seminar- und Universitätsbibliotheken, die folgende Unterstützung durch die Strukturen der Universität, durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Die so entstandenen Wörterbuchunternehmen stehen scheinbar zufällig nebeneinander, sie sind jeweils allein ihrem Fach verpflichtet. Gemeinsam sind ihnen nur die Voraussetzungen. Daher die Vielfalt, die den Reichtum des Ganzen ausmacht.

Das Neuwestaramäische Wörterbuch erschließt, allein mit den Mitteln des Lehrstuhls Werner Arnold am Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients, nichts Geringeres als die Sprache der Nachkommen Jesu, beziehungsweise dessen Stammes.

Die Epigraphische Datenbank der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, beim Lehrstuhl Géza Alföldy, Seminar für Alte Geschichte, zielt zwar nicht auf ein Wörterbuch ab, ist aber aufgrund ihrer Aufbereitung als ein solches konsultierbar. Der Diccionario del español medieval ist das erste umfassende philologische Wörterbuch des älteren Spanischen. Er erschließt den 300 Millionen Spanischsprechern dieser Welt die Frühgeschichte ihrer Sprache. Am Lehrstuhl Bodo Müller des Romanischen Seminars entwickelt, dann von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, ist er jetzt über die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften integriert. In einer gerade erschienenen kurzen Darstellung des Projektes wird als Beispiel das altspanische Wort alcohol gegeben: Es stammt von arabisch al-kuh·l, das das Antimontrisulfit bezeichnet, ein Mineral welches seit Jahrtausenden in Nordafrika und anderswo abgebaut wird und als kosmetisches Präparat die Augen der Pharaonen, Kleopatras und der modernen Frau verschönert.

Deutsch Kohl und Kayal, französisch khôl und kool etc. stammen aus dieser Quelle, ebenso Alkohol, das Destillat alkoholischer Flüssigkeiten. Die letztere, heute weltweit verwendete Bezeichnung wurde allerdings erst nach einer doppelten Bedeutungsverschiebung durch Paracelsus am Anfang des 16. Jahrhunderts geprägt: Ausgehend von dem äußerst fein gestoßenen Antimonit bezeichnete man auch andere feinste Pulver oder Auszüge so, letztlich auch den durch Destillation gewonnenen feinsten Auszug des Weines.

Der Dictionnaire onomasiologique de l'ancien gascon ist ein nach Sachgruppen geordnetes Wörterbuch. Es beginnt bei Himmel und Erde und endet bei den sozialen Dingen des Menschen. Ausgehend von den literarischen und nicht-literarischen Quellen der Gaskogne stellt diese Wörterbuch nicht nur das Gaskognische als regionale Variante des Altokzitanischen dar (manche Forscher sprechen ihm die Eigenschaften einer eigenständigen Sprache zu), sondern auch den okzitanischen und französischen Wortschatz von dort geschriebenen Texten und den entsprechenden lateinischen. So wird erstmals ein mittelalterliches Sprachgebiet in seiner Mehrsprachigkeit abgebildet. Da viele Quellen und vor allem die lexikographischen Vorarbeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das ganze Okzitanische (die Sprache der Troubadours) betreffen, werden diese Materialien in einem getrennten Dictionnaire onomasiologique de l'ancien occitan publiziert. Diese Wörterbücher wurden ausgehend vom Lehrstuhl Kurt Baldinger in Berlin an der Humboldt Universität begründet, dann an den Lehrstuhl in Heidelberg transferiert. Die Redaktion begann mit DFG-Mitteln, ist jetzt aber, wie das Altspanische Wörterbuch in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften integriert.

Der Dictionnaire étymologique de l'ancien français stellt den gesamten Wortschatz des Altfranzösischen dar, von den Straßburger Eiden des Jahres 842 (eine Art Nichtangriffspakt zwischen Ludwig und Karl, dessen Eidformel auf Altfranzösisch und Althochdeutsch überliefert ist) bis ins 14. Jahrhundert. Da das Altfranzösische alle westlichen europäischen Literaturen und Sprachen stark beeinflusst hat – das Altfranzösische ähnelte in seiner Funktion dem heutigen Englisch #150;, nimmt dieses Wörterbuch eine sachlich begründete zentrale Stellung ein. Seine Bedeutung rührt auch von seiner fortschrittlichen Methode her. Als Projekt für ein Handwörterbuch begonnen (am Lehrstuhl Kurt Baldinger), war es einige Jahre im kanadischen Exil, wo sich seine Anlage und Technik herauskristallisierten, um schließlich, erneut in Heidelberg, von der DFG und dann, wie der Diccionario del español medieval, von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen zu werden.

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch erschließt auf der Basis eines sorgfältig aus allen Textsorten aufgebauten Corpus die deutsche Sprache der bedeutsamen Epoche von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts: ausgehende Scholastik, Renaissance, Humanismus und Reformationszeit. Klischeehaft könnte man sagen, es sei das Wörterbuch der Sprache Luthers. In Wahrheit könnte man Luther darin tilgen – das Wörterbuch und damit das Abbild der Sprache seiner Zeit nähmen keinen Schaden. Von Oskar Reichmann als Lehrstuhlinhaber am Germanistischen Seminar begründet, großteils redigiert und bearbeitet, wurde es von der DFG gefördert und wird zum Teil unter dem Dach des Instituts für deutsche Sprache, Mannheim, zum Teil von Fachkollegen miterarbeitet.

Das Deutsche Rechtswörterbuch ist ein Wörterbuch der älteren deutschen und westgermanischen Rechtssprache, von den Anfängen im 5. Jahrhundert bis, im Prinzip, 1832. Das Corpus ist nicht etwa auf Rechtstexte im engeren Sinne beschränkt, sondern enthält alle Textsorten. Dadurch ist nicht nur der Jargon juristischer Fachtexte erfasst, sondern auch alle in der Allgemeinsprache auftretenden Bezeichnungen rechtlicher Dinge. Das erfasste Material reicht bis ins Altenglische, Niederländische, Niederdeutsche und schließt das Mittellateinische und damit auch frankolateinische Quellen ein. Räumlich reichen die Quellen von Großbritannien und dem Baltikum bis nach Rumänien und in die Schweiz. Dieses Wörterbuch wurde auf Initiative von Heinrich Brunner, Lehrstuhlinhaber für deutsche Rechtsgeschichte in Berlin, durch eine Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften im akademischen Jahr 1896/97 begründet; heute ist es ein Projekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, finanziert von der Bund-Länder-Kommission. Die Redaktion arbeitet unter der Leitung von Heino Speer derzeit am Buchstaben R.

Ein Wörterbuch eigener Art ist das Wörterbuch zur Lexikographie und Wörterbuchforschung, das am Lehrstuhl Herbert Ernst Wiegand, Germanistisches Seminar, seinen Redaktionssitz hat und von Wiegand animiert wird. Es ist ein Fachwörterbuch zur Wörterbuchschreibung, das die Termini der Theorie des Wörterbuchschreibens verzeichnet und erläutert. Es sind dies mehr als 4500 Termini mit ihren Äquivalenten in zehn Sprachen, von Afrikaans bis Ungarisch.

So viele Wörterbücher – und keines wie das andere. Sitzen da nicht bärtige Männer im Elfenbeinturm und betreiben l'art pour l'art? Obendrein noch mit Feder und Papier! Wahr ist, dass der Wissenschaftler gern stillschweigend voraussetzt, dass das, was er tut, wissenschaftlich notwendig und damit gesellschaftlich von Bedeutung und gerechtfertigt ist. Dennoch muss er sich Fragen gefallen lassen. Schließlich gibt es gute und schlechte Musikanten; wer die schlechten nicht erkennen will, wird auch die guten nicht erkennen. Immerhin sollten Gutachter, kritische Fachzeitschriften, Universitäten und Akademien zu differenzierender Beurteilung in der Lage sein – wer sonst?

Tatsächlich entspricht die scheinbare Heterogenität den unterschiedlichen Fachkulturen und Wissensständen. So ist die Existenz etwa des frühneuhochdeutschen Wörterbuchs wohlbegründet: Keine Epoche der deutschen Sprachgeschichte ist so stiefmütterlich behandelt worden. Seine Selektivität, zunächst überraschend, ist ebenso berechtigt: Nur die "manuelle", eigentlich zerebrale Selektion schafft eine wissenschaftlich bearbeitbare Materialmenge; eine digitalisierte Datenflut würde ein Wörterbuch vereiteln.

Ganz anders die erste, grobe Rechtfertigung der Existenz des Altfranzösischen Wörterbuchs: Große, in der Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Belegwörterbücher, das thesaurierende Französische Etymologische Wörterbuch, unzählige Einzelstudien, Glossare und Computerlisten machen eine kritische Sichtung und umsichtige Bearbeitung der gesamten Forschung auf diesem Felde der letzten zwei Jahrhunderte zu einer großen und bitter nötigen Aufgabe.

Soweit die Theorie. Aber wie geht das praktisch? Ein kleines Beispiel: Ein älteres Wörterbuch gibt mir das altfranzösische Wort prune, definiert "Pflaume". Der Fall ist einfach: Alle Wörterbücher und alle Glossare, also Wortverzeichnisse zu Texten, geben dem Wort, wenn sie es enthalten, die Bedeutung "Pflaume". Im Neufranzösischen heißt die Frucht immer noch prune und das Etymon, lateinisch prunum, ist ebenso klar. Gut – der Artikel wäre in Minutenschnelle geschrieben. Aber: Ein Wort ist nichts ohne Text. Alle Texte, die vorliegen und die das Wort enthalten, sind zu prüfen, ob das Wort diese Bedeutung dort hat oder ob es eine andere Bedeutung hat, oder auch ob die Texte enzyklopädisch wertvolle Auskünfte geben. Dazu muss man sich allerdings mit der historisch-enzyklopädischen Seite der Bezeichnung und der Sache vertraut machen. Es entsteht ein Pingpong zu mehreren Händen, oder mit mehreren Schlägern, wobei der Ball auf der Platte bleiben muss, sonst wird der Artikel nie fertig. Zwischen Wörterbüchern, Texten, Sachbüchern, chronologischer Bewertung (gab's die Sache überhaupt schon?) und geographischer Bewertung (war das Wort in jener Gegend in der gegebenen Form möglich?) wird der Ball so lange hin und her gespielt bis Klarheit herrscht. Nein, prune ist nicht notwendigerweise eine Pflaume. Ein medizinischer Text unterscheidet zu diätetischen Zwecken prune noire und prune blanche: Das Wort prune bezeichnet also offenkundig sowohl die "schwarzen" Pflaumen (auch Zwetschgen?) als auch die "weißen" Mirabellen (oder eine andere Frucht?; die Reineclaude soll erst im 16. Jahrhundert aufgekommen sein).

Erst nach solcher Forschung kann der Wörterbuchautor halbwegs zufrieden sein, jetzt hat er sowohl die französische Lexikographie vorangebracht als auch eine alte Fehlertradition gebrochen und der Paläoethnobotanik und der Medizingeschichte einen Dienst erwiesen.

Die historische Lexikographie hat demnach immer einen doppelten Nutzen im Sinn. Der erste ist sprachwissenschaftlicher Natur und entspricht dem, was man sich so landläufig unter der Wörterbuchschreibung vorstellt: Wörter werden aus Texten gefischt, ihre grammatikalischen Qualitäten werden festgestellt (Wortklasse, Deklinationsklasse, Geschlecht, einfaches Wort oder Ableitung etc.), ihre Bedeutungen genannt und eventuell noch die Herkunft und die Chronologie der Belege notiert… Scheint langweilig zu sein.

Neulinge in anderen Jagdgebieten

Der zweite Nutzen macht die Sache für alle spannend. Da die Wortgeschichte der Entwicklung der Sachkultur entspricht, ist der Lexikograph dauernd als Neuling in anderen Jagdrevieren unterwegs. Heute versucht er sich als Chemiker und Mineraloge – Beispiel Kohl und Alkohol – morgen als Chemiker und Färber, so wenn er der Frage nachgeht, wieso altfranzösisch, mittelhochdeutsch, mittelenglisch purpre / purpur / purple sowohl die Bezeichnung eines mittleren leuchtenden Rots, des Kardinalsrots ist, als auch die eines leuchtenden Violetts: Er wird sich mit 6-6'-Dibrom-Indigo beschäftigen und alle Meinungen der bisherigen Wörterbücher ignorieren müssen. Übermorgen versucht er sich als Staatsrechtler. Er ähnelt darin dem Forscher und Lehrer, der plötzlich als Geschäftsführender Direktor eines Instituts Arbeitgeber, Verwaltungsjurist, Psychotherapeut, Bausachverständiger, Informatiker und Diplomat sein soll. Bei beiden wird das schlechteste Ergebnis dann erzielt, wenn er meint, er kann das mit Meisterschaft. Die Stärke des Lexikographen liegt im umsichtigen Dilettieren, seine Schwäche in der Arroganz. Aus der Arroganz resultieren die vielen noch treibenden Wissenswracks unserer Halbbildungsgesellschaft: "Vor Kopernikus und Kepler glaubte man, die Erde sei eine Scheibe"; "die Araber haben uns das Rechnen beigebracht"; "die Kartoffel brachte die Iren über die kargen Zeiten des Mittelalters hinweg".

Von diesem zweiten, nicht primär sprachwissenschaftlichen Nutzen profitieren die anderen Wissenschaften, Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaften, Naturwissenschaften. So werden die Bemühungen des Lexikographen potenziert – zum Wohle der Gesellschaft. Ein Beispiel.

Das Wort Standard ist ein Internationalismus, auch der Japaner benutzt es. Standard, darin sind sich alle europäischen Wörterbücher einig, ist dem Englischen entlehnt. Das ist richtig. Dort soll sich die Bedeutung "Norm, Normstück" entwickelt haben (datiert auf 1429), und zwar aus der alten Bedeutung von standard, nämlich "Standarte, Banner". Das ist falsch. Wahr ist, dass standard die Fahne bezeichnet; dieses englische Wort stammt aus dem Französischen, der Sprache der normannischen Eroberer, die im Jahre 1066 mit Waffengewalt einen Erbanspruch auf England durchsetzten. Diese Eroberung bescherte dem Englischen die starke Durchsetzung mit französischen, genauer gesagt anglo-normannischen Wörtern (auf diesem Umweg sind übrigens deutsch Party, Piercing, Mail, easy, Parlament "französische" Wörter). Die Eroberung trug auch – das ist für unser Beispiel wichtig – zu den konstitutionellen Bedingungen bei, die nach langen Auseinandersetzungen zur allseits bekannten Magna Charta führten. Die Magna Charta von 1215 ist nicht die erste "demokratische" Verfassung, sie ist vielmehr ein Feudalvertrag, der Rechte und Pflichten der Barone, der Krone und der Stadt London regelt. Sie ist in französischer und lateinischer Fassung aus dem Jahre der Ausfertigung erhalten.

Une mesure de vin seit par tot nostre regne, e une mesure de cerveise, e une mesure de blé, ço est li quartiers de Londres, e une leise de dras teinz e de rosez e de habergiez, ço est deus aunes dedenz listes; e des peis seit ensement come des musures. «Ein Weinmaß soll gelten in unserem ganzen Reich, ein Biermaß, ein Getreidemaß, nämlich der Scheffel von London, ein Tuchmaß für gefärbte, grobwollene und gewaffelte Tuche und zwar zwei Ellen zwischen den Webkanten gemessen, und ebenso die Gewichte.»

Hier sei noch eingeworfen, dass dieser Vertrag, der keinen Titel trägt, nicht erst seit 1568 Magna Carta genannt wurde (so das Oxford English Dictionary), sondern dass schon den Zeitgenossen die große Bedeutung klar war: die Bezeichnung Magna Carta ist seit 1218 bezeugt, ein Jahr nach ihrer modifizierten, endgültigen Fassung.

Der Paragraph 35 regelt zwar Standardisierungen, nennt diese aber noch nicht standart beziehungsweise estandart. Diese Bezeichnung taucht erst nach den Baron's Wars auf: Die Hundreds Roll von 1274 stellt die Eigentumsverhältnisse im Land fest und die Extenta manerii-Akte von 1276/77 regelt die Veranlagung beschlagnahmter Güter nach Boden- und Gebäudewert. All das ist Juristenwerk, das peinlich genau verschriftlicht wurde. Kein Wunder, dass jetzt, 1274, lateinisch standardum als Bezeichnung der Norm auftaucht und 1279/80 estaundard, eine anglo-normannische Schreibvariante von estandart.

Zwei Erkenntnisse sind hervorzuheben: 1. Die Bedeutungsentwicklung von "Standarte, Banner" zu "Norm" hat im Französischen Englands stattgefunden (sie ist erklärbar). 2. Diese Entwicklung ist erfolgt durch die konstitutionellen Bedingungen in England, die die Festlegung der Maße und Gewichte viel früher als anderswo erzwangen.

Das internationale Wort standard verdankt also seine Entstehung den besonderen sprachlichen und politischen Bedingungen Englands, die sich in der Magna Charta kristallisierten.

Es ist dies ein schönes Beispiel für die Tatsache, dass die Wiege der Moderne das Mittelalter ist. Es ist auch geeignet, jenen zweiten Nutzen der Lexikographie augenfällig zu vermitteln. Wenn allerdings solche Resultate im Einzelnen und in der Summe als unbedeutend betrachtet werden sollten, könnte man Kultur als Ganzes aus dem Veranstaltungskalender streichen.

Die Linguistik hätte noch genug zu tun. Sie könnte die Innovationssemantik, die Modernisierungslyrik, die Reformrhetorik, die Effizienzgrammatik und vieles andere analysieren, um herauszufinden, warum Deutsch als Fachsprache weltweit führend ist nur noch als Sprache des Steuerrechts (quantitativ) und wie uminterpretiert wird nachdem jede ernsthaftere Forschung zum Erliegen gekommen sein wird, wenn demnächst der Journal Impact Factor elektronisch erhoben und der Wissenschaftsförderung zugrunde gelegt wird. Zum Glück haben Universitäten und Akademien die geisteswissenschaftlichen Großforschungen unter die Haube genommen. Auch der Chefökonom der Deutschen Bank Norbert Walter ist der Meinung, dass die Geisteswissenschaften nicht der privaten Förderung überlassen werden können. Hoffen wir also, dass sich die Reformen der Haube annehmen und nicht der Torte. Dann bleibt auch die historische Lexikographie was sie ist: international nicht etwa konkurrenzfähig, sondern einsame Spitze.

Autor:
Professor Dr. Frankwalt Möhren,
Romanisches Seminar, Seminarstraße 3, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 27 53

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