Wohnraum als Schlüssel für Integration – Mangelnder Wohnraum als Exklusion und Respektlosigkeit

1. Teil: Wohnraum als Schlüssel für Integration

Am 24. Januar 2022 fand der digitale Institutsabend des Diakoniewissenschaftlichen Instituts (DWI) im Wintersemester 2021/22 statt. Wir bedanken uns herzlich bei unserem Referenten des Abends, Herrn Thorsten Nolting, für seinen spannenden und sehr informativen Vortrag zum Thema „Wohnraum als Schlüssel zur Integration – Mangelnder Wohnraum als Exklusion und Respektlosigkeit“. Thorsten Nolting ist Pfarrer und Vorstandssprecher der Diakonie München und Oberbayern. Zuvor war er viele Jahre lang Vorstandssprecher der Diakonie Düsseldorf. Ihm ist ein enges Miteinander von Diakonie und Kirche wichtig und er setzt sich aktiv für mehr Gerechtigkeit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ein. 

Das Thema „mangelnder Wohnraum“ ist in fast allen Städten Deutschlands aktuell, die als Wohnorte attraktiv sind. Gerade in München herrscht ein großer Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Dabei hängt das Thema Wohnraum gleichzeitig auch eng mit dem Thema der Würde des Menschen zusammen, das im Grundgesetz wie auch in der Schöpfungsgeschichte thematisiert wird.

Der Begriff „Würde“ oder „Menschenwürde“ wurde im Laufe der Geschichte immer wieder unterschiedlich angereichert. In der Zeit der Renaissance war der Würdebegriff verbunden mit Freiheit, Spontaneität und Eigeninitiative. In der Klassik und Romantik spielt die persönliche Entfaltung eine große Rolle, verbunden mit der Frage: Bin ich dazu in der Lage, mich selbst zu bilden. All dies fließt in den heutigen Begriff der „Würde“ mit ein. Die Frage, die Thorsten Nolting nun dabei stellte, war: Wie wird die gesetzliche Grundlage, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, zu einer gelebten Deutungskultur? In dieser Frage sieht der Theologe Ulrich Barth gerade die Christinnen und Christen und die Diakonie als die großen Triebkräfte, da sie glauben, dass jeder Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen ist (Gen 1,26). Wenn man sich nun etwas von dem Würdebegriff entfernt und das Thema Wohnraum in den Blick nimmt, stellt sich die Frage: Was leistet angemessener Wohnraum in diesem Zusammenhang? 

Wohnraum bedeutet zunächst einmal, eine dauerhafte Beheimatung, also Schutz und Sicherheit zu haben. Dann aber bedeutet eigener Wohnraum auch die Teilhabe an einer sozialen Infrastruktur. Es bedeutet, ein Bezugssystem (Ärztinnen und Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten, die Möglichkeit für Freundschaften, etc.) im eigenen Quartier aufbauen zu können, sowie die Möglichkeit, sich im eigenen Umfeld aktiv einbringen zu können von dieser „Homebase“ aus. Mit dem eigenen Wohnraum hängt zudem die Möglichkeit zusammen, sich als selbstwirksam zu erleben, sich in der Nachbarschaft ehrenamtlich zu engagieren, usw. 

Nach dieser Bestimmung, was Wohnraum alles leistet, stellte Thorsten Nolting die Frage, welche Personengruppen oftmals keinen geeigneten Wohnraum finden. Am härtesten betroffen sind Menschen, die ihre Wohnung akut verloren haben (durch Trennung, Gewalterfahrung, etc.). Auch zugewanderte Menschen und Geflüchtete haben oftmals große Schwierigkeiten, Wohnraum zu finden, v.a. wenn sie die deutsche Sprache noch nicht beherrschen. Ebenso finden Seniorinnen und Senioren oft nur sehr schwer angemessenen Wohnraum, sowie Menschen mit Behinderungen. Auch wenn man bestimmte Erwartungen an den eigenen Wohnraum stellt (z.B. als Familie mit Kindern), ist es oftmals schwierig, angemessenen Wohnraum zu finden. In der an den Vortrag anschließenden Diskussion wurden zudem auch alleinerziehende Mütter, deren Kinder aus der Familie genommen werden und die dadurch z.B. den Anspruch auf Kindergeld verlieren, genannt. Insgesamt gilt, je länger der Zustand der Obdachlosigkeit andauert, desto schwieriger wird es, überhaupt noch Wohnraum zu finden.

Da Wohnraum jedoch, so Thorsten Nolting, ein Schlüssel zur Integration ist, wurde zunächst in den USA, später auch in Deutschland, Finnland, Großbritannien und vielen weiteren Ländern ein Ansatz versucht, der als „Housing First“ oder „rapid re-housing“ bezeichnet wird. Ziel dabei ist die Bekämpfung der Obdachlosigkeit. Wohnungslose sollen möglichst schnell in eigene Wohnungen vermittelt werden und Massenunterkünfte geschlossen werden. In Berlin gibt es dazu ein Modellprojekt, in dem Betroffene unbefristet und mit einem Mietvertrag in Wohnraum untergebracht werden. Darüber hinaus werden diese Menschen bei Bedarf professionell betreut. An dieser Stelle kommt auch der Würdebegriff wieder mit ins Spiel. Würde besteht in diesem Fall darin, dass Betroffene nicht jede Nacht in Notquartieren und Massenunterkünften verbringen müssen, wo sie quasi täglich mit all ihrer Habe ein- und ausziehen müssen, sondern dass ihnen ein privater Raum zur Verfügung gestellt wird. Auch in anderen Städten in Deutschland gibt es immer mehr Initiativen in diese Richtung. Doch trotz einiger Initiativen konnte dieser Ansatz in vielen Städten noch nicht realisiert werden.

Seit 2015 kommen zudem vermehrt Menschen als Geflüchtete in großer Not nach Deutschland, weil ihre Lebenssituation sie dazu genötigt hat, alles aufzugeben. Viele dieser Menschen haben ihren Wohnungsschlüssel aus dem Heimatland noch dabei. Ein sehr berührendes Zeichen davon, was geschützter Wohnraum für eine Bedeutung hat. Die Stadt Wuppertal dient als positives Beispiel dafür, wie diesen Menschen in Deutschland effektiv Wohnraum zur Verfügung gestellt werden kann.

Nach dieser Bestandsaufnahme stellte Thorsten Nolting die Frage, wie es in Deutschland dazu kam, dass eine solche Wohnungskrise herrscht. Ein Faktor dafür ist die starke Bevölkerungsentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten, verbunden mit einem stark hinterherhinkenden Wohnungsbau. Dazu kommt eine enorme Binnenwanderung in bestimmte Städte und Regionen. Während in Ostdeutschland viele Wohnungen leer stehen, ist es in anderen Teilen Deutschlands sehr schwierig, überhaupt Wohnraum zu finden. Auch ist in Deutschland der Bestand an Sozialwohnungen immer mehr zurückgegangen. Dazu kommen komplexe Baustandards, ein Trend zu Singlehaushalten und die Zweckentfremdung von Wohnraum (z.B. als AirBnB Ferienwohnungen). Hinzu kommt auch, dass die möglichen Flächen für den Wohnungsbau immer knapper werden. 

2. Teil: Mangelnder Wohnraum als Exklusion und Respektlosigkeit:

In vielen Städten führt bereits die Stadtentwicklung zu Ungleichheit. Obwohl einige Menschen von diesen Entwicklungen profitieren, gibt es dabei auch die sog. Verlierer der Gesellschaft (sog. „Lost“). Diese machen in München ca. 20% der Stadtbevölkerung aus. Zu dieser Gruppe zählen z.B. die Menschen, die die Digitalisierung nicht als Chance, sondern als Bürde wahrnehmen, Menschen, die schlecht oder nicht ausgebildet sind, die befristete oder gering bezahlte Jobs haben und die aus der Innenstadt an den Stadtrand gedrängt werden. Doch selbst dort können sie oftmals nicht bleiben. Immer mehr Gebiete, die früher als „No-Go-Areas“ galten, werden aufgewertet, wodurch auch dort die Mietpreise rapide steigen. Ein Beispiel dafür aus München ist das Werksviertel am Münchner Ostbahnhof. Die Gewinner bei dieser Art der Aufwertung von Stadtteilen sind die Kreativen, gut Gebildeten und Zahlungskräftigen. Doch wo es Gewinner gibt, finden sich eben immer auch Verlierer, die „lost“ oder die sog. „nearly Lost“. Dazu zählen in einer Stadt wie München z.B. Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Straßenbahnführer*innen, Verkäuferinnen und Verkäufer, Polizistinnen und Polizisten. Dies alles sind ehrbare Berufe, die die Gesellschaft am Laufen halten und doch sind Menschen in diesen Berufen oft die Verlierer bei solchen Projekten. Die Erfahrung in München zeigt, dass diese Menschen, wenn sie alleinstehend oder alleinverdienend sind, kaum noch bezahlbaren Wohnraum finden. 

Um dieses Problem zu lösen, wurde das Programm „SoBoN“ (Sozialgerechte Bodennutzung) ins Leben gerufen, das nun bereits seit 27 Jahren besteht und in dieser Zeit rund 59.000 Wohneinheiten, darunter über 16.000 geförderte Wohnungen geschaffen hat. Dazu wurden zumeist unentgeltlich Grundstücksflächen bzw. Eigenräume von Nutzungsrechten abgetreten. Dieses Projekt zeigt, dass die Stadt sich für wohnungssuchende Menschen aktiv einsetzt. Doch auch diese Hilfeleistungen sind oft nur begrenzt möglich.

Nun stellte Thorsten Nolting die Frage, was die Diakonie tun kann und wie sie sich dem Problem mangelnden Wohnraums annehmen kann. Ein großer Hebel bei der Arbeit der Diakonie sind Kooperationen mit Wohnungsbaugenossenschaften. Dabei setzt sie sich dafür ein, dass exkludierte Gruppen beim Wohnungsbau berücksichtigt werden (dass z.B. in einem Wohnkomplex eine Wohngemeinschaft für Menschen mit psychischen Behinderungen aufgebaut werden kann), dass die Belegungsrechte gesichert werden und durch langfristige Mietverträge eine Verselbstständigung ermöglicht wird. Diese Kooperationen sind möglich, jedoch auch begrenzt. Ein weiterer Hebel sind Kirchengemeinden, die eigene Grundstücke besitzen, die sie nicht selbst bebauen, zu denen sie jedoch die Belegrechte abtreten können. Die genannten Beispiele lösen zwar nicht vollständig das Problem, sie haben jedoch Signalwirkung. Sie zeigen, dass es möglich ist, in Teilen, so etwas wie „Housing First“ auch in München zu etablieren. 

An diesem Punkt spielt auch die Politik eine große Rolle. Hans-Jochen Vogel, der bis 1972 Oberbürgermeister von München war, meinte zu der Thematik: „Grund und Boden ist keine beliebige Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Boden ist unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf daher nicht dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte und dem Belieben des Einzelnen überlassen werden“ (so die These seines Buches „Mehr Gerechtigkeit. Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar“, das 2019 im Herder Verlag erschienen ist).  Doch selbst wenn sich die Politik mit dem Thema befasst und das Problem versucht zu lösen, ist an der Stadt München zu sehen, dass es sehr schwierig ist. Die Dynamik des Marktes ist deutlich spürbar. Die Linke hat kurz vor dem Regierungswechsel vergangenes Jahr einen Gesetzesentwurf vorgebracht, der u.a. folgende Artikel vorsah: „(1) Jeder Mensch hat das Recht auf eine menschenwürdige und diskriminierungsfrei zugängliche Wohnung und auf Versorgung mit Wasser und Energie. Die Miete muss einkommensgerecht sein. (2) Der Staat sorgt für Mieterschutz und gleicht Miet- und Wohnbelastungen aus. Er sichert den Zugang zu Wasser und Energie. (3) Die Räumung von Wohnraum ist unzulässig, wenn kein zumutbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung gestellt wird“ (Artikel 3b aus einem Gesetzesentwurf zur Änderung des Grundgesetzes aus dem Jahr 2017). Daran ist ersichtlich, dass es immer wieder Versuche gibt, das Problem anzugehen, dass aber das Problem gleichzeitig auch so groß ist, dass es sich als schwierig gestaltet, es gänzlich aus der Welt zu schaffen. Für die Diakonie bedeutet das, so Thorsten Nolting abschließend, dass sie weiterhin alle Chancen und Möglichketen nutzen wird, um wohnungssuchende Menschen zu unterstützen. Weitere Informationen über Projekte und Hilfsangebote der Diakonie München und Oberbayern zum Thema „mangelnder Wohnraum“ finden sich auf der Internetseite der Diakonie München und Oberbayern.

In der anschließenden Diskussion zu dem Vortrag wurden weitere Ansätze vorgestellt, die die Teilnehmenden zum Thema „mangelnder Wohnraum“ kennengelernt haben. Beispielsweise wurde ein Projekt aus den USA vorgestellt, bei dem ehrenamtlich geführte Heime errichtet werden, die Wohnungssuchenden eine Notunterkunft bieten. Dabei sorgen die Ehrenamtlichen nicht nur dafür, dass die Unterkünfte gut verwaltet, sauber und ordentlich sind, sie beschäftigen sich auch mit den Menschen, die dort zeitweise wohnen und bauen eine Beziehung zu ihnen auf. Dadurch gestaltet es sich oftmals leichter, Wohnungen zu vermitteln. Auch Zugewanderte erhalten so einfacher Anschluss an die Gesellschaft. Das Projekt trägt den Namen „Interfaith Hospitality Network“. Ein weiteres Projekt aus Italien, das genannt wurde, betreibt sog. „Matching“. Dabei werden oftmals ältere Menschen, die Unterstützung benötigen und die in ihren Häusern eine Wohnung frei haben, mit Wohnungssuchenden in Kontakt gebracht. Die wohnungssuchende Person kann dadurch Wohnraum finden und hilft als Gegenleistung der Person, der das Haus gehört im Alltag z.B. durch Einkaufen, Putzen, usw. Das Ganze verläuft über einen Prozess des Kennenlernens und ist durch ein entsprechendes Amt in Florenz auch rechtlich abgesichert. Abschließend lässt sich bemerken, dass die Vielzahl an Projekten und Ansätzen die Hoffnung zulässt, dass weniger Menschen durch mangelnden Wohnraum exkludiert werden.

 

Alessa Hagel ist studentische Mitarbeiterin am Diakoniewissenschaftlichen Institut.
 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 03.02.2022
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