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Agonie der Moderne

Um 1900 scheint die spanische Literatur aus einem zweihundertjährigen Dornröschenschlaf selbstgewählter Isolation zu erwachen. In den Augen der Literaten bricht eine neue Epoche an, deren außerordentliche Produktivität und Fruchtbarkeit an das "goldene Zeitalter" spanischer Literatur erinnert. Gerade dieser Neubeginn konfrontiert jedoch Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung mit gravierenden Problemen. Denn dort, wo andere Literaturgeschichten mit einem relativ konsistenten Epochenbegriff literarischer Moderne und Totalisierungskonzepten verschiedener aufeinanderfolgender literarischer Strömungen wie Dekadenz, Futurismus oder Dadaismus operieren können, muß sich die Historiographie spanischer Literatur mit dem vagen Konzept eines "silbernen Zeitalters" und einem ebenso diffusen wie umstrittenen Begriff der nach dem Jahr des Verlustes der letzten Überseekolonien benannten "Generation von 1898" begnügen. Vielen Kritikern erschien der Generationsbegriff als bloße Ausgeburt literaturgeschichtlicher Phantasie, die so unterschiedliche Autoren wie Miguel de Unamuno, Pío Baroja, Azorín, Ramiro de Maeztu und Antonio Machado in das historiographische Korsett einer nichtexistierenden literarischen Generation zwängte. Schwierigkeiten bereitet auch die Einordnung der Generation in das Verlaufsschema der übrigen europäischen Literaturen. Erscheinen die Werke der Autoren aus der europäischen Perspektive, wenn sie überhaupt beachtet werden, zumeist als marginal, rückständig oder traditionell, so haben vor allem Philologen spanischer Provenienz auf deren Modernitätspotential aufmerksam gemacht. Eine wissenschaftsgeschichtliche Analyse der Genese und Entwicklung des Generationsbegriffs zeigt, daß ein Teil des mit ihm verbundenen historiographischen Problems darauf zurückzuführen ist, daß der literaturgeschichtliche Diskurs über die 98er Generation von Anfang an vom literarischen Diskurs der 98er Generation selbst bestimmt war. So sind die Kritiken des Generationsbegriffs und die neueren Plädoyers für seine Auflösung einem bereits von der 98er Generation artikulierten Begehren unterstellt, die spanische Kultur zu europäisieren, diesmal allerdings nicht durch die literarische Praxis selbst, sondern durch die Anpassung der spanischen Literatur an Totalisierungskonzepte und Verlaufsschemata der europäischen. Paradoxerweise gibt daher erst eine Überschreitung des im Diskurs von 1898 festgelegten Spanien-Problems den Blick frei auf die von ihm verdeckte, grundlegendere Problematik des Generationsbegriffes. Löst man sich von den Vorgaben des Spanien-Europa-Diskurses von 1898, so wird deutlich, daß sich die Heterogenität der 98er Generation einem Spannungsfeld verdankt, in dem moderne Tendenzen sich im Widerstreit mit der spanischen Tradition barocker Repräsentation befinden. Detaillierte Werkanalysen zeigen, daß sich die "generación del 98" in der Tat zahlreicher experimenteller Techniken bedient, die unbestreitbar zum Repertoire literarischer Moderne gehören. Die Zerstörung oder Reduktion der erzählten Geschichte, ihre Auflösung in einzelne Fragmente und Impressionen, oder ihre Relativierung durch wechselnde Erzählperspektiven, die Auflösung der Figuren im Bewußtseinsstrom, die Verwendung des Präsens als Erzähltempus, die Nutzung neutraler Erzählperspektiven, Selbstbezüglichkeit und Selbstthematisierung der Ästhetik des Romans, der Rückzug des Autors bis hin zu kinematographischen Techniken erheben unmißverständlich Anspruch auf eine Modernität, die derjenigen resteuropäischer Moderne durchaus vergleichbar ist.

Allerdings wird die von fast allen Autoren betriebene Zerstörung traditioneller Formen literarischer Repräsentation im Unterschied zur europäischen Moderne nicht zum Ausgangspunkt einer Revolution poetischer und narrativer Sprache, aus deren Produktivität neue literarische Formen gewonnen werden könnten. Vielmehr verharren die behandelten Werke in der widerspruchsvollen Situation zwischen moderner Destruktion traditioneller Formen und einer gehemmten Moderne, die den "linguistic turn" moderner Literatur kaum oder gar nicht vollzieht. Statt die Dispositive der Repräsentation endgültig zu transzendieren, verharrt die poetische und narrative Praxis der 98er Generation in der spannungsreichen Situation zwischen modernen und traditionellen Tendenzen. Zwar zerstört Azorín in seinem Roman Der Wille (1902) traditionelle Formkategorien des Romans, doch finden wir bei ihm statt einer verdichteten poetischen Prosa, welche die moderne Revolution des Romans in den Werken Joyces, Virginia Woolfs oder Marcel Prousts vollendet, eine dem Journalismus verwandte Sprache, deren Transparenz sich Roland Barthes Nullgrad der Schrift asymptotisch nähert. Diese Transparenz ist in Barojas Roman Der Baum der Erkenntnis (1911) das Ergebnis einer narrativen Metonymie, durch die der Roman einer Desillusion sich auf die ästhetische Einstellung überträgt und zu einer Desillusion des Romans führt. Verharrt Azorín im Widerspruch von Tradition und Moderne, und löst Baroja diesen in einer gleichgültig-distanzierten Haltung zur Literatur selbst auf, so macht Miguel de Unamuno den Widerstreit traditioneller Repräsentation und moderner Präsenzbestrebungen in seinem Roman Nebel (1913) ästhetisch um. Zwar verwendet auch Unamuno hochmoderne Techniken, doch diese sind keinesfalls Ausdruck einer Revolution der Hierarchie zwischen Autor und literarischer Sprache, sondern zunächst deren genaues Gegenteil: Denn Unamuno denunziert die vor allem im ersten Teil des Romans unter Beweis gestellte Modernität seines eigenen Romans als illusionär, indem er in einem im zweiten Teil unvermittelt eingeschobenen auktorialen Kommentar auf der traditionellen Rolle des Autors als "Gott des Romans" besteht. Die berühmteste Szene des Romans, in welcher der Held seinen Autor aufsucht und mit ihm über sein weiteres Schicksal diskutiert, dekonstruiert die traditionelle Hierarchie von Autor und Werk: Denn die Diskussion zeigt, daß der Autor Unamuno sich agonal, das heißt erst in der Aus-Ein-Ander-Setzung mit seinen Figuren und seinem Werk konstituiert. Damit erhebt Niebla die schwierige Modernität spanischer Literatur, das heißt den Widerspruch zwischen traditioneller Repräsentation und moderner Selbstpräsenz zum ästhetischen Prinzip. Die von Unamuno ästhetisch genutzte Agonie der Moderne ergibt sich aus einem paradoxalen Bezug zur Tradition barocker Repräsentation, der vor allem in der Kritik des Lyrikers Antonio Machado an der Dichtung der Moderne deutlich wird: Seine Kritik läßt sich von dem Verdacht leiten, die dunkle Sprache der Moderne komme nicht in dem von Arthur Rimbaud angestrebten Unbekannten und Ungesagten an, sondern im Allzu-Bekannten literarischer Gemeinplätze. Es ist dieser obsessive Verdacht, die moderne Dunkelheit könne sich als undurchschaute Illusion einer Moderne erweisen, die in Wirklichkeit nur barocke Sprachspiele hervorbringe, der dazu führt, daß die literarischen Experimente der 98er Generation an der Grenze der modernen Revolution literarischer Sprache haltmachen und daß sie eine Loslösung von vorgegebenen Bedeutungs- und Sinnkonfigurationen nur in begrenztem Maße zulassen. Damit befindet sich die 98er Generation in einem Dilemma: Zwar denunziert sie mit aller Schärfe die Sklerose der quasi als historisches Apriori literarischer Produktion wirkenden spanischen Tradition der Repräsentation, doch dieser obsessive Rhetorikverdacht erstreckt sich gerade aufgrund der Wirksamkeit dieser Tradition auch auf die Ansprüche moderner Literatur auf Authentizität, Aktualität und Selbstpräsenz. Die spanische Moderne erscheint deswegen als gehemmt, weil die Destruktion traditioneller Dispositive der Repräsentation im Unterschied zur europäischen Moderne nicht in den Anspruch auf Selbstpräsenz und Authentizität umschlägt. Vielmehr verharrt sie in der literaturgeschichtlichen Grätsche zwischen Repräsentation und Präsenz, um deren Agon in ein wirkunsvolles und produktives ästhetisches Prinzip zu verwandeln. Wenn aber sowohl traditionelle als auch moderne Formen von Literatur einem generalisierten Rhetorik-Verdacht ausgesetzt sind, tritt Literatur in Distanz zu sich selbst, sie erscheint nicht als Präsenz, sondern als Repräsentation von Literatur. Der historiographische Begriff der 98er Generation eignet sich gerade aufgrund seiner Heterogenität dazu, die Querlage der spanischen Literatur der Moderne zu eurozentrischen Periodisierungen auszudrücken. Insbesondere die Tatsache, daß der spanische Weg in die literarische Moderne nicht über eine Destruktion der Tradition und deren Ersetzung durch Neukonstruktionen führt, sondern in der agonalen Position des unaufhebbaren Widerstreites zwischen Tradition und Moderne verharrt, läßt sie aus heutiger Perspektive als möglicherweise interessanter erscheinen als Werke der Moderne, deren Ansprüche auf Aktualität, Authentizität und Präsenz der Diskurs von 1898 als undurchschaute Täuschungen denunzierte.

Priv.-Doz. Dr. phil. habil. Jochen Mecke: "Agonie der Moderne: Ambivalenzen der Repräsentation in der spanischen generación del 98", Heidelberg 1993, Habilitationsschrift

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