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Honigsüßer Durchfluß

Die Zuckerkrankheit, Diabetes mellitus, ist eine Krankheit von großer und wachsender Bedeutung. In der ambulanten und stationären Versorgung ist er eine der am häufigsten gestellten Diagnosen. Die durch epidemiologischen Studien geschätzte Häufigkeit der Erkrankung in Deutschland beträgt heute fünf Prozent, das entspricht vier Millionen Menschen. Im Mannheimer Stadtgebiet ist daher von 15 000 Betroffenen auszugehen. Seit der Nachkriegszeit hat die Zahl der Erkrankten stetig zugenommen: Alle 15 Jahre hat sich der Bestand verdoppelt. Sollte dieser Trend anhalten, wäre bis zum Jahr 2010 jeder zehnte Bundesbürger zuckerkrank. Fokko van der Woude aus der Medizinschen Klinik der Universität Heidelberg in Mannheim gibt einen Überblick über die Erkrankung und berichtet über neue Therapieansätze.

Die gesundheitspolitische Bedeutung dieser, in den ersten Jahren nach Diagnosestellung oft harmlosen, Krankheit wird deutlich, wenn man die Krankheitshäufigkeit und die Sterblichkeit an der Erkrankung betrachtet. Diabetes ist bereits heute die häufigste Ursache für Erblindung sowie für Nierenversagen mit der Notwendigkeit einer Langzeitdialyse oder Transplantation und ebenfalls für autonome und periphere Neuropathien, deren Folgen Kreislauf-, Verdauungs- und Potenzstörungen sind beziehungsweise quälende Mißempfindungen an den Füßen wie Kribbeln, Kältegefühl, Brennen, vor allem im Ruhezustand und nachts. Im fortgeschrittenen Stadium der peripheren Neuropathie verlieren die Patienten die Schmerz- und Temperaturempfindung völlig, so daß nicht wahrgenommene Bagatellverletzungen an den Füßen oft zu septischen Erkrankungen führen. Die Amputation der betroffenen Gliedmaßen ist dann häufig eine lebensrettende Maßnahme. Daher ist Diabetes auch die häufigste Ursache für Amputationen der unteren Extremität. Zuckerkranke Menschen erleiden häufiger Herzinfarkte, Verschlüsse der Beinarterien und Schlaganfälle. Diese angiopathischen Erkrankungen verlaufen bei ihnen schwerer und diffuser und führen zudem häufiger zu Rezidiven. Auch Harnwegsinfektionen, der graue Star, Bluthochdruck und zerebrale Störungen im Sinne des „hirnorganischen Psychosyndroms“ sind bei ihnen häufiger. Schließlich gebären betroffene Frauen häufiger kranke Kinder oder haben Fehlgeburten. Besonders tragisch ist die Tatsache, daß Millionen von Menschen unbemerkt an Diabetes erkranken und dies jahrelang unentdeckt bleibt. Dadurch wird die Diagnose Diabetes mellitus erst gestellt, nachdem Folgeerkrankungen aufgetreten sind. Folgeerkrankungen treten erst nach jahrelang schlecht eingestelltem Diabetes auf. Der „Streichholzhändler“ von Otto Dix erinnert heute an das jämmerliche Dasein eines Patienten mit diabetischem Spätsyndrom.

Therapieempfehlung von 1550 vor Christus

Diabetes mellitus (diabetes = Durchfluß und meliteis = honigsüß) ist eine der ältesten Krankheiten des Menschen. Erste Beschreibungen der Krankheit und Therapieempfehlung sind bereits in einem ägyptischen Papyrus aus dem Jahr 1550 v. Chr. festgehalten worden. In der Neuzeit beschrieb sie Thomas Willis (1621-1675) detailliert, einschließlich des Hauptsymptoms: der süße Geschmack im Urin des Zuckerkranken. Er schrieb, „Der Harn der Kranken ist wunderbar süß, als sei er mit Zucker oder Honig durchtränkt.“ Jahrhundertelang blieb das Wissen über Diabetes knapp. Ein Beleg dafür ist das folgende Zitat aus dem „Wörterbuch der medizinischen Terminologie“ (Springer-Verlag, 1920): „Ursache [des Diabetes] wahrscheinlich ein zu vermehrter Zuckerbildung und Hyperglykämie führender Reizzustand bedingt durch Überfunktion des chromafinen Systems“. 1921 kam schließlich die bahnbrechende Entdeckung des Insulins durch Frederick Grant Banting (1891-1941) und Charles Herbert Best (1899-1978). Nach Einführung der Insulintherapie konnten zum ersten Mal Menschen mit Typ-I-Diabetes vor einem sicheren, qualvollen Tod bewahrt werden. Weitere Meilensteine in der Diabetologie waren dann die Einführung von Behandlungs- und Schulungsprogrammen für Diabetiker. Die Grundlagen der Patientenschulung wurden bereits vor über 100 Jahren gelegt. Größere Verbreitung fanden die Programme jedoch erst in den 70er Jahren, nach Einführung der Teststreifen zur Stoffwechselselbstkontrolle und des glykosylierten Hämoglobins A1 (HbA1/HbA1c) zur Überprüfung der Stoffwechsellage.

Dem Diabetes mellitus liegt eine Störung im Glukosestoffwechsel zugrunde. Nach der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden zwei Diabetes-Typen unterschieden. Heute leiden etwa 90 Prozent der Betroffenen an einem Typ-II-Diabetes. Ihm liegt eine Glukoseverwertungsstörung wegen Insulinresistenz und fehlerhafter Insulinsekretion zugrunde. Auslöser (nicht Ursache!) sind Übergewicht, Bewegungsmangel und Erschöpfung der insulinproduzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse im Rahmen des Alterungsprozesses. Außerdem ist klar geworden, daß bei Typ-II-Diabetes eine starke genetische Komponente vorhanden ist. Die Folge ist ein relativer Insulinmangel mit Neigung zur hyperosmolaren Stoffwechselentgleisung. Dieser relative Insulinmangel ist jedoch nicht akut lebensbedrohlich. In angelsächsischem Sprachgebrauch wird der Typ-II-Diabetes daher als „Non Insulin Dependent Diabetes Mellitus“ (NIDDM) bezeichnet. Übergewicht, Bewegungsmangel und Älterwerden, die wegen der günstigen Lebensbedingungen unserer Tage bei immer mehr Menschen vorliegen, sind die hauptverantwortlichen Faktoren für die oben beschriebene, explosionsartige Zunahme der Krankheit. In den letzten Jahren scheint der Anteil an jüngeren, nicht übergewichtigen Betroffenen mit Typ-II-Diabetes zuzunehmen.

Der Typ-I-Diabetes kommt bei zehn Prozent der Betroffenen vor. Die Erkrankungshäufigkeit ist seit Jahrzehnten konstant. Ursache ist eine durch Autoimmunprozesse bedingte „Insulinitis“ (Entzündung der insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse), die zur völligen Zerstörung der Inselzellen führt. Der Auslöser ist unbekannt, die Folge ist ein lebensbedrohlicher absoluter Insulinmangel mit Neigung zur ketoazidotischen Stoffwechselentgleisung. Der lebensbedrohliche Insulinmangel hat im angelsächsischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung „Insulin Dependent Diabetes Mellitus“ (IDDM) geführt. Die ebenfalls vorliegende genetische Disposition der Betroffenen ist bei weitem nicht so penetrant wie diejenige des Typ-II-Diabetes. Klassische Beschwerden einer Hyperglykämie sind Durst, Harndrang, Kraftlosigkeit, schlecht heilende Wunden, Infektanfälligkeit, Depression. Zu selten werden diese unspezifischen Beschwerden mit dem Vorliegen eines Diabetes mellitus in Zusammenhang gebracht. Ausnahme ist die Manifestation des Typ-I-Diabetes: Trinkmengen von zehn Litern Limonade pro Tag und Gewichtsabnahmen von 20 kg in nur wenigen Monaten sind nicht selten. Aber auch diese Patienten werden oft erst im diabetischen Koma eingeliefert. Betroffene mit Typ-II-Diabetes empfinden dagegen trotz hoher Blutzuckerwerte nur geringe oder überhaupt keine Beschwerden.

Diabetes wird meist zu spät erkannt

Zahlreiche Studien haben als Hauptursache der Folgeerkrankungen eine chronische Hyperglykämie ausgemacht. Mit einem jahrelang erhöhten HbA1c über 7,5 Prozent steigt das Risiko für das Auftreten und für das Fortschreiten von Folgeerkrankungen. Folgender Mechanismus liegt zugrunde: Glukose, eine der wichtigsten Energiequellen des Stoffwechsels, kann nur mit Hilfe von Insulin in die Körperzellen gelangen. Insulinmangel führt daher zu einer chronischen Überschwemmung der Zellen mit Glukose. Die irreversible Bindung der Glukose an Zellbestandteilen (Glykosylierung), insbesondere an Eiweißkörpern von Membranen und Enzymen, bewirkt eine Schädigung der Zellfunktion. Zahlreiche weitere direkt und indirekt toxische Glukosewirkungen sind bekannt. Die Schäden an Zellen, zum Beispiel der Retina, des Nephrons oder des Nervs sind unumkehrbar. Sehr wahrscheinlich liegt bei den Betroffenen eine genetische Disposition für die Entwicklung der gefürchteten Folgeerkrankungen vor.

Die Diabetestherapie ist immer dem einzelnen Patienten anzupassen und setzt die Formulierung von Therapiezielen voraus. Sie sollte sich nach international anerkannten Behandlungsschemata richten. Grundlage der Behandlung ist daher immer die begleitende, strukturierte Patientenschulung. Sie sollte immer ein rationales Screening auf Folgeerkrankungen beinhalten, um häufige Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzerkrankung rechtzeitig erkennen und behandeln zu können. Das HbA1c ist dabei der wichtigste Verlaufs-parameter der Stoffwechsellage: etwa fünf bis sechs Prozent (strenge Normoglykämie), gilt für Frauen mit Kinderwunsch drei Monate vor der Konzeption und für Schwangere. Vorrangiges Ziel ist eine normale Schwangerschaft. Etwa sechs bis 7,5 Prozent (nahe Normoglykämie) gilt für Personen, bei denen die Lebenserwartung die Entwicklung von Folgeerkrankungen möglich erscheinen läßt. Mit dem Auftreten von Folgeerkrankungen muß nach chronischer Hyperglykämie von zwei bis drei Jahren gerechnet werden. Daher ist dieses Therapieziel für die allermeisten Betroffenen angezeigt. Das Ziel ist, durch die Beseitigung von hyperglykämiebedingten Symptomen Folgeerkrankungen zu verhindern und eine gute Lebensqualität zu gewährleisten. Etwa 7,5 bis neun Prozent (Symptomfreiheit) gilt für Personen, bei denen das Allgemeinbefinden durch Beseitigung von Symptomen einer chronischen Hyperglykämie verbessert werden soll. Das mittelfristige Auftreten oder Fortschreiten von Folgeerkrankungen wird wegen einer kurzen Lebenserwartung des Betroffenen in Kauf genommen.

Die Therapie des Typ-II-Diabetes zielt zunächst auf Gewichtsreduktion durch Einhalten einer kalorienreduzierten Kost und Steigerung der körperlichen Tätigkeit. Dadurch läßt sich das Fortschreiten der Krankheit um Jahre aufhalten. Das Körpergewicht ist daher ein weiteres zu formulierendes Therapieziel beim Typ-II-Diabetes. Bis zum Ablauf von drei Monaten sollte eine Annäherung an das Normalgewicht um zwei bis höchstens vier Kilogramm erfolgen. Selbstverständlich ist langfristig Normalgewichtigkeit anzustreben Der Stellenwert des Normalgewichts zur Verbesserung der Stoffwechsellage sollte jedoch nicht überschätzt werden. Darüber hinaus ist es nicht realistisch, jahrzehnte alte Ernährungsgewohnheiten kurzfristig umzustellen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Eingliederung des Patienten in ein Schulungsprogramm für Typ-II-Diabetiker ohne Insulintherapie erforderlich. Der Patient erhält dort eine Beratung über gesunde Ernährung und im Bedarfsfall einen Reduktionskostplan. Trotz Reduktionskost kann der Mittagstisch eines übergewichtigen Diabetikers gut gedeckt sein. Wichtig ist das Erlernen der Harnglukoseselbstkontrolle zur täglichen Überprüfung des Stoffwechsels. Der Patient sollte über wichtige Kontrolluntersuchungen und über Fußpflege bei Diabetes informiert werden.

Befindet sich bei den Folgeuntersuchungen das HbA1c nicht im Zielbereich, erfolgt eine Therapie mit oralen Antidiabetika. Wichtigster Vertreter dieser Medikamentengruppe sind die Sulfonylharnstoffderivate, wie Glibenklamid. Dabei muß berücksichtigt werden, daß es bei etwa zehn Prozent der Patienten pro Jahr zum Versagen der blutzuckersenkenden Wirkung kommt (sogenanntes Sekundärversagen). Nach zehnjähriger Diabetesdauer können nach epidemiologischen Studien daher nur sehr wenig Patienten effektiv mit Sulfonylharnstoffderivaten behandelt werden.

Befindet sich der Blutzuckerspiegel nach wie vor nicht im Zielbereich, ist die Insulintherapie indiziert. Jeder Patient mit Insulintherapie muß über Methoden zur Blutglukoseselbstkontrolle, über Techniken der Insulininjektion, über die Blutzuckerwirksamkeit von Nahrungsmitteln und über Verhaltensmaßnahmen bei Hypoglykämie geschult worden sein. Patienten mit Typ-I-Diabetes (und jüngere Patienten mit Typ-II-Diabetes) erhalten eine intensivierte Insulintherapie. Dadurch kann die physiologische Insulinsekretion am besten nachgeahmt werden. In einem fünftägigen Schulungsprogramm erlernen und trainieren die Patienten das selb-ständige, bedarfsgerechte Anpassen der Normalinsulindosis vor den Hauptmahlzeiten. Durch Injektion von Verzögerungsinsulin um sieben und 22 Uhr wird der Basalinsulinbedarf abgedeckt. Regelmäßig hohe, frühmorgendliche Nüchternwerte der Blutglukose können mit kontinuierlicher subkutaner Insulininfusion (Insulinpumpentherapie) behandelt werden.

Die intensivierte Insulintherapie hat sich für die Diabetes-Behandlung bewährt. In zahlreichen Studien konnte belegt werden, daß dadurch das Auftreten und Fortschreiten von Folgeerkrankungen am erfolgreichsten verhindert werden kann. Darüber hinaus können Patienten auf lästige Zwischenmahlzeiten verzichten und in den Genuß einer weitgehend normalen Kost kommen. Sie müssen beispielsweise nicht mehr auf Schokolade, Kuchen und sogar Haushaltszucker verzichten. Die Einstellung auf „Intensivierte Insulintherapie“ wird daher als „Befreiung aus dem Diätkäfig“ erlebt.

Befreiung aus dem Diätkäfig

Die Qualität der Einstellung darf jedoch nicht nur am Laborwert HbA1c gemessen werden. Zusätzliche Parameter sind das Vermeiden von Akutkomplikationen (Hypoglykämie und Ketoazidose) und die gute Lebensqualität der Patienten. Fehlzeiten am Arbeitsplatz durch Krankheit und Krankenhausaufenthalte sollten bei Diabetikern nicht häufiger vorkommen als bei Nicht-Diabetikern. Behandlungseinrichtungen für Diabetes müssen in regelmäßigen Abständen innerhalb von Qualitätszirkeln über diese Parameter Rechenschaft ablegen. Ein solcher Qualitätszirkel ist zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft für strukturierte Diabetestherapie der Deutschen Diabetesgesellschaft.

Folgeerkrankungen sind nicht heilbar

Auch für Folgeerkrankungen bestehen konkrete Therapiekonzepte. Wichtige Maßnahmen sind die nahe normoglykämische Stoffwechseleinstellung und die Prophylaxe von Komplikationen. Eine Heilung von Folgeerkrankungen ist heute nicht möglich.Bei der diabetischen Retinopathie läßt sich das Fortschreiten durch Laserkoagulation des Augenhintergrunds verhindern. Da Frühstadien der Retinopathie keinerlei Beschwerden verursachen, kommt der jährlichen Untersuchung des Augenhintergrunds eine besonders wichtige Rolle zu. Die diabetische Neuropathie und die periphere arterielle Verschlußkrankheit erfordern die Inspektion der Füße bei jedem Arztbesuch, spätestens alle drei Monate. Die Prophylaxe, Therapie und konsequente Nachbehandlung von Fußläsionen durch diabetologische Fußambulanzen reduzieren die Häufigkeit von Amputationen im jeweiligen Einzugsgebiet um über 50 Prozent. Schmerzen und quälende Mißempfindungen können symptomatisch behandelt werden. Erfolgreich eingesetzt werden Analgetika, Antidepressiva und Antiepileptika. Die diabetische Nephropathie tritt bei 20 bis 30 Prozent der Patienten nach 15 bis 20 Jahren Krankheitsdauer auf und führt zu einer hohen Sterblichkeit. Die allgemeine Behandlung ist die strenge Blutdruckeinstellung und die Behandlung mit ACE-Hemmern. Bei Versagen der Nierenfunktion uß frühzeitig eine Dialyse oder Nierentransplantation eingeleitet werden. Die Dialysebehandlung kostet pro Patient und Jahr übrigens 70 000 Mark.

Unsere Arbeitsgruppe konnte zeigen, daß Proteoglykanen eine wesentliche pathophysiologische Rolle in der Entwicklung der diabetischen Nephropathie zukommt. Proteoglykane und besonders Glykosaminoglykane (Seitenketten von Heparansulfat) sind an der Krankheits-entstehung beteiligt. Heparansulfat bewirkt die negative Ladung an der Basalmembran des Glomerulums in der Niere. Damit ist Heparansulfat für den Verlust von wichtigen Blutbestandteilen, wie Albumin, wesentlich mitverantwortlich. Heparansulfat verhindert zudem den unkontrollierten Zellwuchs von Mesangialzellen. Unter Hyperglykämie wird die Produktion von Heparansulfat in der Niere gehemmt. Tatsächlich führt im Tierversuch die Reduktion von Heparansulfat durch Bindung an Antikörper oder durch enzymatischen Abbau zum ersten Krankheitszeichen der Nephropathie: zum Verlust von kleinen Mengen Albumin im Urin (Mikroalbuminurie). Bei Patienten mit diabetischer Nephropathie ist die Menge an Seitenketten von Heparansulfat umgekehrt proportional zur Albuminurie. In unserer Arbeitsgruppe konnte durch Gabe von niedermolekularem Heparin an Patienten mit Typ-I-Diabetes mit Nephropathie eine Verminderung der Eiweißausscheidung erzielt werden. Daneben konnten wir auch erstmals beobachten, daß Heparinoide sogar zu einer Verbesserung von diabetesbedingten Veränderungen des Augenhintergrunds führen.

Neue Therapievorschläge aus Mannheim

Diese bahnbrechenden Ergebnisse werden derzeit in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Nephrologen an einem größeren Kollektiv von Patienten mit Typ-II-Diabetes und Nephropathie oder Retinopathie untersucht. Denn es ist notwendig, neue therapeutische Ansätze konsequent weiterzuentwickeln: Im Tierversuch konnte nämlich eine Thereapie mit Heparinoiden die gefürchtete Nephropathie sogar heilen!

Eine weitere wichtige Aufgabe der nephrologischen Forschung ist die Suche nach dem für die diabetische Nephropathie verantwortlichen Gen. Dadurch könnte die Prävention der Nephropathie verwirklicht werden. Unsere Arbeitsgruppe hat sich in Zusammenarbeit mit dem Institut für Humangenetik der Universität Heidelberg auf die Suche nach dem verantwortlichen Gen gemacht. Als Methode wird die positionelle Klonierung angewendet. Diese Methode erfordert die Rekrutierung von vielen Großfamilien mit betroffenen Mitgliedern. In Zusammenarbeit mit der Universität Istanbul konnten zahlreiche geeignete Familien gefunden werden.

Trotz dieser erfolgversprechenden therapeutischen Ansätze bleiben derzeit strukturierte Kontrolluntersuchungen von Retina, Albuminurie, Nervenfunktion, Blutdruck und Durchblutung die wichtigsten, im Alltag der Diabetikesversorgung jedoch kaum ausgeschöpften Maßnahmen zur Reduktion von diabetesbedingten Folgeerkrankungen. Innerhalb Europas bestehen erhebliche Unterschiede in der Versorgung von Patienten mit Diabetes. Endpunkte der Versorgungsqualität sind die Neuerblindungsziffern, die Häufigkeit von Amputationen oder die Häufigkeit des Nierenversagens bei Diabetes-Patienten. Im Rhein-Neckar-Gebiet ist bei etwa 50 Prozent der neu in die Dialyseprogramme aufgenommenen Patienten der jahrelang schlecht eingestellte Diabetes Ursache für das Nierenversagen. In den Niederlanden, wo es etwa ebensoviele Diabetiker gibt wie in Deutschland, haben nur 13 Prozent der neuen Dialysepatienten diese Grunderkrankung. Hauptursache für die unterschiedliche Entwicklung ist die frühzeitige intensive und differenzierte Diabetestherapie in den Niederlanden.

Die Notwendigkeit, die Diabetesversorgung zu verbessern, wird europaweit akzeptiert. Verschiedene Initiativen haben dazu geführt, daß die Weltgesundheits- und die Weltdiabetes-Organisationen (IDF) 1989 eine Konferenz einberufen haben, um Ärzte, Gesundheitspolitiker und Vertreter von Patientenorganisationen auf die Defizite in der Diabetesversorgung aufmerksam zu machen. Verabschiedet wurde die sogenannte „St. Vincent“ -Deklaration, in der die Fünfjahresziele der Diabetesversorgung genau definiert sind: So soll die Zahl neuer diabetesbedingter Fälle von Nierenversagen um mindestens ein Drittel reduziert werden, ebenso die Zahl der Neuerblindungen und die Zahl der Amputationen um die Hälfte. Um diese Ziele verwirklichen zu können, wurde die Einrichtung von Überwachungs- und Kontrollsystemen unter Verwendung moderner Informationstechnologie empfohlen. Auch deutsche Ärzte und Politiker haben sich zur St. Vincent-Deklaration bekannt.

Eine optimale Diabetesversorgung bewirkt erhebliche Kostenersparnisse, zum Beispiel durch die Verminderung von statio-nären Behandlungen. Eine Kostenhochrechnung zeigt das Ausmaß der zu erwartenden Einsparungen: Wenn die Ziele der St. Vincent-Deklaration erreicht sind, könnten in einer Stadt wie Mannheim innerhalb von 40 bis 50 Jahren 1,2 Milliarden Mark eingespart werden. Für den Gesamtzeitraum ergibt sich so rein rechnerisch ein durchschnittliches Sparpotential von 500 Mark pro Patient und Quartal. Auch kurzfristige Einsparungen sind durch eine optimale, strukturierte Diabetesbehandlung möglich, nämlich durch Absetzen der Therapie mit Substanzen, deren Wirksamkeit nicht erwiesen ist. Epidemiologische Studien zeigen, daß dadurch bis zu einer Milliarde Mark pro Jahr im deutschen Gesundheitswesen eingespart werden könnte. Für die Ausgaben auf dem Gesundheitssektor in Mannheim bedeutet das ein kurzfristig zu erreichendes Sparpotential von bis zu 3,75 Millionen Mark pro Jahr (entsprechend 60 Mark pro Patient und Quartal).

PRÄDIKAT Mannheim

Unsere Arbeitsgruppe hat 1996 beschlossen, in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordbaden eine umfassende Kollaboration von Hausärzten, Fachärzten und klinischen Einrichtungen im Raum Mannheim zu organisieren. Das Projekt zur Prävention von Diabeteskomplikationen in Klinik und Arztpraxis (PRÄDIKAT Mannheim) wurde entwickelt. Dieses energische Programm soll zur drastischen Reduzierung von diabetesbedingten Folgeerkrankungen führen. Die teilnehmenden Patienten werden in den hausärztlichen Praxen einer standardisierten Untersuchung unterzogen. Der registrierte Datensatz entspricht den Inhalten des Gesundheits-Passes „Diabetes“ der Deutschen Diabetesgesellschaft. Ziel ist die Erfassung der Stoffwechsellage, der Komplikationen und der wichtigsten Begleitkrankheiten des Patienten. Anschließend formulieren Arzt und Patient individuelle Therapieziele für Körpergewicht und HbA1c. Alle erhobenen Daten werden in einem Bogen dokumentiert und an die Organisationseinheit von PRÄDIKAT Mannheim weitergeleitet. In der Organisationseinheit werden die Daten aus den Bögen analysiert. Bei bestehenden Folgeerkrankungen und bei unbefriedigenden Ergebnissen der Diabetestherapie generiert die Organisationseinheit individuelle Therapievorschläge, die dem behandelnden Arzt übermittelt werden. Der Arzt leitet die vorgeschlagenen Maßnahmen ein. Auch der Patient wird über die Untersuchungsergebnisse durch einen Befundbogen informiert. Von der Organisationseinheit werden in den darauffolgenden Quartalen problemorientierte Folgeuntersuchungen empfohlen, um auffällige Befunde der vorangegangenen Untersuchung zu kontrollieren. Auch diese Untersuchungsergebnisse werden an die Organisationseinheit zurückgemeldet, die erneut individuelle Therapieempfehlungen generiert und an die Hausärzte zurücksendet. Sämtliche Daten liegen in kodierter Form vor. Name und Adresse des Patienten sind nur dem behandelnden Arzt bekannt. Die Beratung durch die Organisationseinheit und die begleitende Fortbildung der teilnehmenden Ärzte werden zur Grundlage einer flächendeckenden Verbesserung der Diabetesversorgung nach international anerkannten Standards. Diabetes mellitus ist eine medizinische und gesundheitspolitische Herausforderung für das 21. Jahrhundert, die nur durch enge, kollegiale Zusammenarbeit aller an der Diabetesversorgung beteiligten Personen bewältigt werden kann. Der Ausspruch von Thomas Willis aus dem 17. Jahrhundert hat heute mehr denn je uneingeschränkte Gültigkeit: „Unter den antiken Völkern ist der Diabetes selten gewesen. Aber in unserem Zeitalter, das bereit ist zum Wohlleben und geneigt, den Wein unverdünnt und in Mengen zu trinken, begegnen wir genügend Beispielen dieser Krankheit.“

Autor:
Prof. Dr. Fokko J. van der Woude,
Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, V. Medizinische Klinik,
Theodor-Kutzer-Ufer 1-3, 68135 Mannheim,
Telefon (0621) 383 23 40

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