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Doppelgesichtige Passion: Nietzsche als Kritiker Wagners

Trotz harscher Kritik und persönlicher Abkehr von Richard Wagner blieb Friedrich Nietzsche bis an sein Lebensende dem Schöpfer des ,Tristan" und des ,Parsifal" tief verbunden. Nietzsches ,Bruch" mit Wagner war nicht so rigoros, wie es der Nachwelt lange schien. Der Heidelberger Germanist Dieter Borchmeyer erforschte die Beziehung Nietzsches zu Wagner und veröffentlichte gemeinsam mit dem Wiener Philosophen Jörg Salaquarda die erste umfassende Dokumentation mit zahlreichen, bisher kaum bekannten Quellen.

,Ich wüßte nicht, auf welchem Wege ich je des reinsten sonnenhellen Glücks theilhaftig geworden wäre als durch Wagner's Musik: und dies obwohl sie durchaus nicht immer von Glück redet, sondern von den furchtbaren und unheimlichen unterirdischen Kräften des Menschentreibens, von dem Leiden in allem Glücke und von der Endlichkeit unseres Glücks; es muß also in der Art, wie sie redet, das Glück liegen, das sie ausströmt." So lesen wir in einer nachgelassenen Aufzeichnung Nietzsches vom Sommer 1875. ,Glück": fünfmal kommt diese Vokabel in ein und demselben Satz vor. Er ist zu einer Zeit geschrieben, da Nietzsche längst in vieler Hinsicht auf Distanz zu Wagner gegangen ist. Gleichwohl - seine Musik ist ,die große Leidenschaft von Nietzsches Leben gewesen", schreibt Thomas Mann in seinem Essay ,Leiden und Größe Richard Wagners" (1933). Doch Nietzsches Liebe galt nicht nur der Musik - sie galt nicht weniger der Person Wagners, des ,Zauberers", wie er ihn immer wieder nennt. ,Ich habe ihn geliebt und Niemanden sonst." Diese ungeheure, in ihrem Lakonismus erschütternde Äußerung lesen wir in einer Aufzeichnung aus dem Frühjahr 1885 - zwei Jahre nach Wagners Tod.

Seit mehr als einem Jahrhundert rankt sich ein üppig wucherndes Blätterwerk von Legenden und Gerüchten um die Beziehungen Nietzsches zu Wagner. Durch die Edition des Nietzsche-Nachlasses in der Kritischen Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (1967ff.) ist das Gestrüpp der Legendenbildung freilich energisch zurückgestutzt worden. Die erst in jüngster Zeit unverfälscht ans Licht getretenen Nachlaß-Aufzeichnungen Nietzsches zeigen, daß sein ,Bruch" mit Wagner so rigoros nicht war, wie er sich der Nachwelt aus ihrer Unkenntnis der Quellen so lange dargestellt hat. Passion und Kritik verschränken sich in der Einstellung des frühen Nietzsche zu Wagner nicht weniger als Polemik und Passion in seinen späten Äußerungen über ihn. So konnte Thomas Mann Nietzsches Streitschriften gegen Wagner gar ,als einen Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzeichen, als eine andere Form der Verherrlichung" empfinden (,Leiden und Größe Richard Wagners").

Als Nietzsche Ende 1868 Wagner im Hause des Orientalisten Hermann Brockhaus in Leipzig persönlich kennenlernt, ist er erst 24 Jahre alt. Am Pfingstmontag 1869 besucht er, soeben zum außerordentlichen Professor für Klassische Philologie an der Universität Basel ernannt, Richard Wagner und Cosima von Bülow zum ersten Mal in ihrem Haus zu Tribschen bei Luzern. In der Folgezeit wird er von ihnen geradezu als Familienmitglied adoptiert, als Bindeglied zwischen Wagner und seinem Sohn ,Fidi" alias Siegfried. ,Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt", schreibt Wagner noch am 25. Juni 1872 an Nietzsche; ,nun kommt zwar glücklicherweise noch Fidi dazu, aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel." Wagner nimmt Nietzsche an Sohnes Statt an. König Marke und Tristan!

Das Fundament der ,Allianz", die Wagner und Nietzsche - dessen Brief an Erwin Rohde vom 28. Januar 1872 zufolge - geschlossen haben, bilden bekanntlich Nietzsches Erstlingsschrift ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" und ihre Vorstudien. Griechische Tragödie und Wagnersches Musikdrama werden hier ständig ineinander gespiegelt. Die Schlußsätze des Vortrags ,Das griechische Musikdrama" (1870) sind dafür symptomatisch: ,viele Künste in höchster Thätigkeit und doch ein Kunstwerk - das ist das antike Musikdrama. Wer aber bei seinem Anblick an das Ideal des jetzigen Kunstreformators erinnert wird, der wird sich zugleich sagen müssen: was wir von der Zukunft erhoffen, das war schon einmal Wirklichkeit - in einer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit." Nietzsche hebt also die geschichtliche Differenz zwischen antikem und modernem ,Musikdrama" auf. Das ,Kunstwerk der Zukunft" wird durch den Nachweis, daß es im Grunde schon einmal da war, beglaubigt und legitimiert.

Anläßlich der Grundsteinlegung des Festspielhauses im Mai 1872 weilt auch Nietzsche in Bayreuth. Diese Festtage sind für ihn eine der größten Glückserfahrungen seines Lebens gewesen. Ende Mai erscheint Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Pamphlet gegen die ,Geburt der Tragödie" unter dem Titel ,Zukunftsphilologie", der Nietzsches Engagement für die ,Zukunftsmusik" aus streng philologischer Sicht ins Lächerliche zieht. Wagner schreibt einen öffentlichen Verteidigungsbrief an Nietzsche, der dessen ruinierten Ruf als Philologe natürlich nicht wiederherstellen kann. Sogar sein Lehrer Friedrich Ritschl geht zu ihm auf Distanz und gibt seinem Schüler in einem ernsten Brief zu bedenken: ,Sie können dem ,Alexandriner' und Gelehrten unmöglich zumuthen, daß er die Erkenntniß verurtheile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft erblicke."

Bei Nietzsches Besuchen in Bayreuth kommt es zwischen ihm und Wagner anders als in Tribschen nun wiederholt zu Differenzen, die ihren Niederschlag in einer kritischen Aphorismenreihe von 1874 gefunden haben. Sie gehören zu den Vorstudien zur vierten ,Unzeitgemäßen Betrachtung" Richard Wagner in Bayreuth (1876). Die Aufzeichnungen von 1874 sind der Versuch, den ganzen Künstlercharakter Wagners mit Licht und Schatten zu beschreiben. Da wird er bereits als musikalischer Rhetor und ,versetzter Schauspieler" charakterisiert, da ist von ihm als ,Dilettanten" die Rede, und wir lesen die Feststellung: ,Keiner unserer grossen Musiker war in seinem 28sten Jahr ein noch so schlechter Musiker wie Wagner." Auch fast alle später hervorgehobenen Charakterschwächen Wagners werden angedeutet, freilich noch in versöhnlichem Licht: daß er ,keine andre Individualität" neben sich gelten läßt (zum Beispiel Brahms), die ,Neigung zu Pomp und Luxus", der ,Tyrannensinn für das Colossale", die ,Unbändigkeit und Maaßlosigkeit" im alltäglichen Verhalten, von der freilich seine Disziplin als Künstler absteche, seine fragwürdige Anhängerschaft und nicht zuletzt die Judenfeindschaft. In ,Richard Wagner in Bayreuth" sind diese kritischen Einsichten freilich so gut wie ganz unterdrückt.

Nietzsche hat die Festspiele von 1876, zu deren Verherrlichung seine Schrift beitragen sollte, später zur Peripetie in seiner Beziehung zu Wagner stilisiert. ,Was war geschehen? - Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden - Die deutsche Kunst! der deutsche Meister! das deutsche Bier!" So in ,Ecce homo". Dieser satirischen Stilisierung ist freilich mit Skepsis zu begegnen, war es doch zumindest auch Nietzsches katastrophaler Gesundheitszustand, seine rasende Migräne, die ihn zu seiner ,Flucht" aus Bayreuth zwangen. ,Ich muß alle Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Sommers zu ertragen", schreibt er am 6. August an seine Schwester. Ein freilich doppelsinniges Wort. Hinter der Desperation Nietzsches über sein krankheitsbedingtes Unvermögen, die langen Aufführungen durchzustehen, deutet sich die Desillusionierung durch die Gestalt der Festspiele selber an, welche sich mit ihrem gesellschaftlichen Trubel von Nietzsches ,Ideal", wie es beim Fest der Grundsteinlegung vier Jahre zuvor so hell aufgeleuchtet hatte, in seinen migräneumflorten Augen beträchtlich entfernt hatten.

Das äußere Datum des Zerwürfnisses zwischen Wagner und Nietzsche ist das Eintreffen des ersten Teils von ,Menschliches, Allzumenschliches" in Bayreuth Ende April 1878. Knapp vier Monate zuvor hatte Wagner Nietzsche den Privatdruck der ,Parsifal"-Dichtung gesandt, mit einer Widmung, in der er seinem Namen unter Anspielung auf den christlichen Gehalt seines letzten Werks scherzhaft die Amtsbezeichnung ,Ober-Kirchenrath" beifügte.

Nietzsche hat in ,Ecce homo" von einer ominösen ,Kreuzung der zwei Bücher" gesprochen. ,Klang es nicht, als ob sich Degen kreuzten?" Eine ebenfalls stilisierende Verrückung der Fakten, lag doch der ,Parsifal"-Text schon seit mehr als einem Vierteljahr auf Nietzsches Schreibtisch. Im übrigen hat er schon Weihnachten 1869 zusammen mit Cosima, wie deren Tagebuch festhält, den detaillierten Prosaentwurf des ,Parsifal" von 1865 mit tiefer Bewegung gelesen. Noch am 10. Oktober 1877 schreibt er Cosima: ,Die herrliche Verheißung des Parcival mag uns in allen Dingen trösten, wo wir Trost bedürfen." Dieses Trostes bedurfte er wenig später nicht mehr. In einem Brief an Reinhart von Seydlitz vom 4. Januar 1878 wird der ,Eindruck des ersten Lesens" des ,Parsifal"-Textes wiedergegeben: ,mehr Liszt als Wagner, Geist der Gegenreformation; mir, der ich zu sehr an das Griechische, menschlich Allgemeine gewöhnt bin, ist Alles zu christlich zeitlich beschränkt". Freilich seien die Situationen und ihre Folge ,von der höchsten Poesie" und ,eine letzte Herausforderung der Musik".

Enthält Nietzsches Urteil über die ,Parsifal"-Dichtung bei aller Reserve also doch einiges Lob, so fällt dasjenige Wagners über ,Menschliches, Allzumenschliches" vier Monate später vernichtend aus. Sein Aufsatz ,Publikum und Popularität" im Augustheft der ,Bayreuther Blätter" enthält im dritten Absatz eine verdeckte Polemik gegen den Autor von ,Menschliches, Allzumenschliches". Er verhöhnt da satirisch die ungenannten Repräsentanten der ,Wissenschaft", welche ,auf uns Künstler, Dichter und Musiker, als die Spätgeburten einer verrotteten Weltanschauungs-Methode herabblicken" und das naturwissenschaftliche oder historische ,Erkennen" an die Stelle von ,metaphysischen Allotrien" setzen wollen - bis ,das rein erkennende Subjekt, auf dem Katheder sitzend, allein als Existenzberechtigt übrig bleibt. Eine würdige Erscheinung am Schlusse der Welt-Tragödie!" In der Tat läßt ,Menschliches, Allzumenschliches" den ,Geist der Wissenschaft" an die Stelle der metaphysisch-ästhetischen Spekulationen der früheren Schriften Nietzsches treten. So macht dieser sich nun selber den Standpunkt zu eigen, von dem aus sich sein Lehrer Ritschl gegen die ,Geburt der Tragödie" gewandt hatte: Die ,Erkenntnis" zu verurteilen und nur ,in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft" zu erblicken, wie Ritschl es ihm vorgeworfen hatte, davon ist er jetzt weit entfernt.

In ,Menschliches, Allzumenschliches" wird Wagner nicht namentlich erwähnt. Diesem ist gleichwohl nicht verborgen geblieben - das Zitat aus ,Publikum und Popularität" zeigt es -, daß er für Nietzsche einer der Hauptrepräsentanten der nunmehr zu Ende gehenden Kultur geworden ist. Deren Prinzipien und Lebensgefühl den Zeitgenossen und Nachkommenden noch einmal verständlich zu machen, sei die Aufgabe seiner Musik: nichts als ,Schwanengesang" vermag sie noch zu sein. Wie hätte Wagner ein Verständnis von Kultur akzeptieren können, aus dem heraus ausgerechnet ihm - der sein Kunstwerk immer auf die Zukunft projizierte und für den die gebräuchlichste Spottvokabel der Zeitgenossen das Wort ,Zukunftsmusiker" war - nur noch eine retrospektive Rolle verblieb? Er sieht den Sachverhalt ganz anders: Nietzsche habe sich von der tieferen Kultur verabschiedet und sei einem ,bildungsphiliströsen" Fortschrittsglauben anheimgefallen.

Das Jahr 1882 versetzt Nietzsche aufgrund der zweiten Bayreuther Festspiele mit der Uraufführung des ,Parsifal" noch einmal in höchste kritische Aufregung. Zwar kann er sich nicht entschließen, nach Bayreuth zu fahren, doch eingehend studiert er den Klavierauszug des ,Parsifal". Sein Urteil fällt uneingeschränkt negativ aus: ,Hegelei in Musik" nennt er Wagners letztes Werk in einem Brief an Malwida von Meysenbug vom 13. Juli des Jahres. Als er jedoch Anfang 1887 in Monte Carlo das Vorspiel zum ,Parsifal" zum erstenmal hört, stellt er sein bisheriges Urteil zumindest in musikalischer Hinsicht auf den Kopf. In seinen Aufzeichnungen redet er von der ,größten Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist. Die Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte." Noch emphatischer der Brief an Peter Gast vom 21. Januar 1887: ,Hat Wagner je Etwas besser gemacht?" fragt er da und läßt eine panegyrische Beschreibung des Wagnerschen Spätstils folgen, die gerade das rühmend hervorhebt, was er an anderem Ort so rigoros verwirft: die tiefe Erfassung des Christentums und insbesondere der christlich-Schopenhauerschen Kardinaltugend des ,Mitleidens".

Der Tod Wagners am 13. Februar 1883 bedeutet einen tiefen Einbruch in Nietzsches emotionale Welt. Als er die Todesnachricht erhält - sie wirft ihn buchstäblich aufs Krankenbett -, wird der Schmerz über den unersetzlichen menschlichen Verlust, den er seinerzeit durch den Bruch erlitten hat, ebenso wieder lebendig wie die Genugtuung darüber, mit der Emanzipation von Wagner den entscheidenden Schritt zur Selbstwerdung getan zu haben.

Sogar zu einem Kondolenzbrief an Cosima rafft er sich auf, der leider nicht erhalten ist und von dem wir nicht einmal wissen, ob die Adressatin ihn je gelesen hat. Zu ihm liegen drei Entwürfe vor, die sich als letzter, schmerzlich-desperater Versuch einer Wiederannäherung an die einstige Freundin offenbaren. In allen dreien wird sie ,die bestverehrte Frau, die es in meinem Herzen giebt" genannt. ,Sie haben Einem Ziele gelebt und ihm jedes Opfer gebracht; über den Menschen hinaus empf(anden) Sie das Ideal dieses Einen, und ihm, welches nicht stirbt, gehören Sie, gehört Ihr Name für immer".

Ist es aber nicht dieses Ideal, das nicht stirbt und angesichts dessen alle fragwürdigen Elemente des sterblichen Menschen Wagner wesenlos werden, mit dem auch Nietzsche seinen eigenen Namen verbunden sehen möchte? Noch drei Jahre später drückt er in einem Brief an Friedrich Overbeck vom 27. Oktober 1886 die Hoffnung aus, daß die Gebildeten unter den ,Anhängern Wagners" erkennen werden, ,daß ich heute noch so gut als ehemals an das Ideal glaube, an welches Wagner glaubte, - was liegt daran, daß ich an vielen Menschlich-Allzumenschlichen gestolpert bin, das R(ichard) W(agner) selbst seinem Ideal in den Weg gelegt hat". In seinem Brief an Peter Gast sechs Tage nach Wagners Tod unterscheidet Nietzsche noch einmal den ,altgewordenen Wagner, gegen den ich mich wehren mußte", von dem ,eigentlichen Wagner". Was aber diesen betreffe, so wolle er ,schon noch zu einem guten Theile sein Erbe werden". Das ist eine der wichtigsten Formeln für Nietzsches Beziehung zu Wagner nach dessen Tod. Der König ist tot - Nietzsche meldet die Thronnachfolge an.

Das dem ,altgewordenen Wagner" am entschiedensten entgegengesetzte Werk - vor den letzten Streitschriften ,Der Fall Wagner" und ,Nietzsche contra Wagner" - ist die philosophische Dichtung ,Also sprach Zarathustra" (1883-85), die freilich aufgrund ihres fiktionalen Charakters den Namen Wagner nicht nennt. Nietzsche hat in seinem Hang zur symbolischen Verknüpfung äußerer Ereignisse den Tod Wagners später in eine ,ominöse" Verbindung mit dem Abschluß des ersten Teils des ,Zarathustra" gebracht - in diesem Falle durchaus in Übereinstimmung mit den zeitlichen Gegebenheiten: ,Die Schlusspartie (...) wurde genau in der heiligen Stunde fertig gemacht, in der Richard Wagner in Venedig starb", wird es in ,Ecce homo" heißen.

Der Tod Wagners wird von Nietzsche gewissermaßen zum Ende der alten Kultur stilisiert, aus deren Asche der Phönix der neuen Kultur entsteht, der ,höhere Mensch" geboren wird. Sein Tod spiegelt den Tod der Götter, aus dem nach der Lehre Zarathustras der ,Obermensch" hervorgehen soll. Zarathustra ist der radikale Gegenentwurf zur Welt des späten Wagner - Nietzsches ,Anti- Parsifal".

Eine der wichtigsten Thesen in der Auseinandersetzung Nietzsches mit Wagner nach 1883 ist die von seiner Zugehörigkeit zu der in der Romantik gründenden Kunstbewegung in Frankreich. ,Je mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie ,wagnerisiren", das darf man vorhersagen, - sie thut es jetzt schon genug", konstatiert er im Aphorismus 254 aus ,Jenseits von Gut und Böse". Die ungeheure Wirkung Wagners auf die französische Musik, Literatur und Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat ihm erstaunlich recht gegeben!

Im Aphorismus 256 aus demselben Werk heißt es resümierend: ,Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner's darüber mit sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin Deutsches giebt, oder ob es nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess".

Diese Verwandtschaft Wagners mit dem französischen Geist ist für Nietzsche ein großes Hoffnungszeichen - für die Überwindung der Krankheit des 19. Jahrhunderts: des Nationalismus. ,Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, (...) Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa eins werden will." Wagners ins Metanationale ausgreifende Kunst und seine europäische Wirkung sind dafür ein wichtiges Signal. Ende September 1888 erscheint Nietzsches wichtigste Streitschrift gegen Wagner: ,Der Fall Wagner" wird für ihn zum Versuchsfeld einer ,Diagnostik der modernen Seele", deren Kern die Décadence-Analyse ist. Décadence bedeutet ursprünglich nichts anderes als Verfall. Doch seit Baudelaire hat der Terminus eine positive Umwertung erfahren. Gerade aus dem Verfall, aus der Vitalschwäche, aus dem sinkenden Leben und der Sympathie mit dem Tode soll nun eine neue, höhere ästhetische Sensibilität hervorgehen. In einer oft irritierenden Dialektik verbindet sich bei Nietzsche die traditionelle negative Sicht der Décadence mit ihrer Baudelaireschen Umdeutung. So kann dasselbe Phänomen einmal positive, einmal negative Facetten zeigen. Das gilt gerade für Wagner als den Décadence-Künstler schlechthin.

Eines steht für Nietzsche fest: auch wer die Décadence überwinden will, muß sie an sich selbst erfahren haben und sie bis auf den Grund durchschauen. ,Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte", heißt es im ,Vorwort" zu ,Der Fall Wagner".

Nietzsche bleibt bei aller emphatischen Verkündigung der Werte des aufsteigenden Lebens und des Willens zur Macht in seinem Instinkt doch zutiefst dem Christentum, der Kunst Wagners, den Tugenden und Schwächen des sinkenden Lebens verbunden. Und das sei der Nietzsche, den wir im Gegensatz zu dem Verkünder des Machtwillens und amoralischen Lebenssteigerung als ,unseren Nietzsche" bezeichnen möchten, hat Thomas Mann in seinen Notizen zu der geplanten Abhandlung ,Geist und Kunst" (1909) geschrieben: ,Wir haben von ihm die psychologische Reizbarkeit, den lyrischen Kritizismus, das Erlebnis Wagners, das Erlebnis des Christentums, das Erlebnis der Modernität - Erlebnisse, von denen wir uns niemals vollkommen trennen werden, so wenig, wie er selbst sich je vollkommen davon getrennt hat."

Diese Behauptung Thomas Manns wird durch die leidenschaftliche Zuwendung Nietzsches zu Wagners ,Tristan" gerade in den allerletzten Tagen seines bewußten Lebens noch einmal bestätigt: ,Es ist das capitale Werk und von einer Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist", schreibt er in seinem Brief an Carl Fuchs vom 27. Dezember 1888. Und Peter Gast kündigt er am 31. Dezember - drei Tage vor seinem paralytischen Zusammenbruch - an: ,Sie werden in ,Ecce homo" eine ungeheure Seite über den ,Tristan" finden, überhaupt über mein Verhältniß zu Wagner. W(agner) ist durchaus der erste Name der in E(cce) h(omo) vorkommt."

Diese ,ungeheure Seite" ist der sechste Abschnitt des Kapitels: ,Warum ich so klug bin". Dort stehen die Sätze: ,Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Fascination, von einer gleich schauerlichen und süssen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, - ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Lionardo da Vinci's entzaubern sich beim ersten Tone des Tristans. (...) Ich denke, ich kenne besser als irgend Jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen Niemand ausser ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, dass wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen; und so gewiss Wagner unter Deutschen bloss ein Missverständnis ist, so gewiss bin ich's und werde es immer sein." Das ist - Wagner betreffend - Nietzsches geistiges Testament! Für sein Denken ist Wagner das Paradigma aller Paradigmen gewesen. Nur so ist erklärbar, daß die Temperatur seiner Wertung bis zuletzt zwischen glühender Hitze und eisiger Kälte schwankt. Die Kluft zwischen unanfechtbarem ,Ideal" und allzu anfechtbarer Wirklichkeit war für Nietzsche das große Skandalon des ,Falls Wagner". Er hat sie jedoch in seltenen traumhaften Glücksmomenten seines Lebens und seiner ästhetischen Erfahrung zu überbrücken vermocht - oder eben in jener Vision der ,Sternen-Freundschaft" (,Die fröhliche Wissenschaft", 279), welche die bewegendste Formel für seine Beziehung zu Wagner war und ist:
,Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir wollen's uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. (...) Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! Es gibt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen, - erheben wir uns zu diesem Gedanken! (...) Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten."

Autor:
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer
Germanistisches Seminar,Hauptstraße 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 32 11, Fax 54 31 78
(Nietzsche und Wagner, Insel Verlag, Ffm, 1994.)

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