Aus der Stiftung Universität Heidelberg
Vom 20. bis 24. Juni 1994 fand am Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg ein Symposium über die mathematische Modellierung und die Simulation biologischer Prozesse statt, die räumliche und zeitliche Muster und Strukturen ausbilden. J. Murray, Seattle, P. Maini, Oxford, Willi Jäger und Angela Stevens, Heidelberg, veranstalteten diese Arbeitstagung im Rahmen eines europäischen Netzwerks in Theoretischer und Mathematischer Biologie, das von der European Science Foundation gefördert wird. Die Stiftung Universität Heidelberg unterstützte die Veranstaltung und ermöglichte vor allem die Teilnahme junger Wissenschaftler, die an dem Einsatz mathematischer Methoden in den Biowissenschaften besonders interessiert sind. Mehr als die Hälfte der teilnehmenden 40 Forscher aus Europa und Übersee zählte zum wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Fachkompetenz der beteiligten Biologen, Chemiker, Physiker und Mathematiker war für die Diskussion der anstehenden Fragestellungen und den Erfolg des Symposiums entscheidend. Die mathematische Modellierung, die Simulation der Modelle auf Computern und die Visualisierung der Resultate sind auch in der Biologie eine wichtige Methode geworden, die wesentlich zum Verständnis der Prozesse, zur Planung und Analyse von Experimenten beiträgt. Die Identifikation der Mechanismen, die zur Strukturbildung in der Biologie führen, gehört zu den herausfordernden Aufgaben in den heutigen Naturwissenschaften.
Die Morphogenese zum Beispiel beschäftigt sich mit der Aufklärung biophysikalischer und biochemischer Vorgänge bei der räumlichen und funktionellen Strukturierung von Lebewesen. Sie verwendet ein Konzept der Systemtheorie, nach dem es durch Wechselwirkung von Teilen eines Systems zur Ausbildung neuer Strukturen kommen kann. In einem physikalisch-chemischen Modell wirken Substanzen teilweise aktivierend, teilweise inhibierend, sie regen Wachstum an oder dämpfen es, sie beschleunigen oder hemmen die Differenzierung, beeinflussen positiv oder negativ die bestimmenden Parameter. Aber auch die mechanischen Einflüsse können für die Entwicklung von Strukturen bedeutend sein. In den Vorträgen und den Diskussionen wurden entsprechende mathematische Modelle entwickelt. Die typischen Modellgleichungen wurden analysiert und numerisch ausgewertet. Das Symposium hatte zum Ziel, an einigen konkreten Problemstellungen aus der Entwicklungsbiologie, der Mikroökologie, der Biochemie und der Medizin Modelle zu analysieren und die mit mathematischen Methoden und durch numerische Simulation getroffenen Aussagen mit experimentellen Ergebnissen zu überprüfen. Dabei ging es sowohl um die Aufklärung von Einzelphänomenen als auch um die Entwicklung neuer, fachübergreifender Methoden.
Einen Schwerpunkt bildete die Mikroökologie, die die Entwicklung von Mikroorganismen in ihrer Umwelt beschreibt. Einer der im Symposium besonders intensiv erörterten Gegenstände waren die Wachstumsmuster, die in Bakterienkulturen beobachtet werden. Es wurde über neueste Experimente berichtet, die den Einfluß von chemischen Substanzen auf die sich ausbildenden Formen von Bakterienkolonien zeigten. Die als mathematische Modelle formulierten Mechanismen zeigten mittels Computersimulationen die qualitative, aber auch bereits akzeptable quantitative Übereinstimmung mit Experimenten. Wegen der einfachen Handhabbarkeit und der beobachteten Sensitivität bieten sich Bakterienpopulationen auch als Bioindikatoren an. Der bekannte Ames-Test ist ein solches, häufig verwendetes Verfahren zur Identifizierung mutagener und mit hoher Wahrscheinlichkeit karzinogener Substanzen. Die Diskussionen wiesen Möglichkeiten für einen breiteren Einsatz von Wachstumstests auf, die durch Modellierung und Computersimulation erheblich vereinfacht und besser auswertbar werden.
Die Wechselwirkung von Organismen, Phänomene wie Bewegung in Gradienten chemischer Substanzen (Chemotaxis) oder von Licht (Phototaxis) wurden in mehreren Vorträgen behandelt. Die entsprechenden mathematischen Modelle werden sowohl mit diskreten dynamischen Systemen (zellulären Automaten) als auch mit nichtlinearen, partiellen Differentialgleichungen beschrieben. Die anstehenden Phänomene sind zum Beispiel Aggregation oder die Ausbildung von Populationswellen. Besonderes Interesse galt dabei den beobachteten Spiralwellen, deren Bestimmung aus einem mathematischen Modell ein guter Test für die zugrunde gelegten Modellvorstellungen ist. Stochastische Methoden sind für die Beschreibung von Musterbildung in Ameisenpopulationen erforderlich, wie sie einer der biologischen Experten modellierte und darüber berichtete. Medizinisch interessante Problemstellungen wie Tumorwachstum oder die Kontraktion des Herzmuskels und das Schließen von Wunden wurden behandelt, wobei die bekanntesten Spezialisten für dieses Forschungsgebiet am Symposium teilnahmen.
Der Erfolg des Symposiums bestand nicht nur in dem intensiven wissenschaftlichen Austausch, sondern auch in der unmittelbaren Fortführung gemeinsamer Forschung und dem Beginn neuer Kooperationen. Für die von allen Teilnehmern gelobte lebendige und fruchtbare Atmosphäre bot das Internationale Wissenschaftsforum beste Voraussetzungen.