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Abbau für den Auf- und Umbau

Zerstören, um Neues zu schaffen, das ist ein Grundprinzip des Lebens. Zerstörung ist für die Zelle lebenswichtig, um defekte Proteine zu beseitigen, aber auch um Proteine gezielt und zeitlich begrenzt einsetzen zu können und dadurch den Stoffwechsel zu steuern. Jede Zelle besitzt eine Vielzahl verschiedener Proteine, die je nach Aufgabe unterschiedlich lange benötigt werden. In der Regel haben solche mit Strukturfunktionen sowie jene, die an allgemeinen Lebensprozessen beteiligt sind, eine lange Lebensdauer. Proteine, die nur kurzzeitig regulativ in das Zellgeschehen eingreifen, werden hingegen häufig gleich nach getaner Arbeit mit Hilfe eines spezialisierten Verdauungssystems abgebaut. Der Leibniz-Preisträger Stefan Jentsch vom Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg hat die Funktionsweise und Bedeutung der zellulären "Abfallentsorgung" für Proteine teilweise entschlüsselt.

Einhergehend mit der Entschlüsselung des genetischen Codes in den sechziger Jahren gelang es auch, die Bestandteile der Zelle zu identifizieren, die Erbinformationen in die ausführenden Komponenten der Zelle umsetzen, in Proteine. Man fand heraus, daß spezielle zelluläre "Maschinen" - die Ribosomen - die in Nukleinsäuren kettenförmig kodierte Erbinformation in ebenfalls kettenförmig aufgebaute Proteine übersetzen. Ein Protein besteht aus einzelnen, aneinandergeknüpften Aminosäuren, deren Reihenfolge seine Funktion bestimmt. Für die Funktionstüchtigkeit ist jedoch auch die richtige Faltung der Aminosäurekette sehr wichtig. Sie ist größtenteils durch die Aminosäuresequenz bedingt und beginnt schon während der Synthese des Proteins am Ribosom, noch bevor es vollständig hergestellt ist. In den allermeisten Fällen ist die Faltung korrekt, jedoch können manchmal unter dem Einfluß schädlicher Umweltfaktoren, die die Arbeit und die Präzision der Synthesemaschinen sabotieren, auch falsch gefaltete funktionslose Protein-"Knäuel" entstehen. Das kann fatale Konsequenzen für die Zelle haben: Oft konkurrieren die fehlerhaften Proteine mit den funktionstüchtigen um die gleichen zellulären Substanzen und können mit ihnen funktionslose Komplexe bilden. Wie die Proteinfaltung in der Zelle gesteuert wird, und welche zellulären Bestandteile die Qualität der Proteine kontrollieren, wurde erst durch Arbeiten der letzten Jahre bekannt.

Doch auch wenn die Synthese abgeschlossen und die Faltung korrekt ist, können Proteine unter bestimmten Umwelteinflüssen eine falsche Form erhalten. Jeder weiß aus eigener Erfahrung mit dem Frühstücksei, daß hohe Temperaturen Proteine "denaturieren" können. Das klare Eiweiß wird durch Hitze in ein milchig-weißes, härteres Material überführt. Die hohe Temperatur führt dabei zu falschen Proteinfaltungen und zu Aggregaten, die das Licht anders brechen. Abnormale Proteine - wenn auch in viel geringerer Menge - entstehen jedoch nicht nur bei solchen drastischen Temperaturerhöhungen, sondern auch schon bei geringerer Erwärmung, zum Beispiel bei Fieber. So führt ein Anstieg der Körpertemperatur auf etwas über 40 Celsius in einigen Fällen zum Zelltod. Einen ähnlich schädlichen Einfluß übt Alkohol aus, der gleichfalls direkt die Faltung der Proteine nachteilig beeinflußt. Umweltgifte wie Cadmium und andere Schwermetalle, die zum Beispiel in Industrieabfällen vorkommen, sind ebenfalls in der Lage, die Bildung abnormaler Proteine zu verursachen, wie unsere Arbeitsgruppe herausfand. Auch Pflanzen synthetisieren proteinschädigende Substanzen, um sich unter anderem vor Insektenfraß oder Pilzbefall zu schützen. So produzieren viele Gemüsesorten in größeren Mengen die Substanz Canavanin, das anstelle der Aminosäure Arginin in Proteine eingebaut werden kann.

Daß abnormale Proteine nicht sofort zum Zelltod führen und in begrenzten Mengen für uns auch nicht besonders schädlich sind, verdanken wir der Proteinabfall-Entsorgung der Zelle, einem "dualen System". Zum einen kann die Zelle die falsche Faltung eines Proteins in Grenzen wieder reparieren. Dafür sorgen wiederum spezielle "Maschinen" im Zellinnern, die die Proteine unter Energieverbrauch wieder "zurechtrücken". Zum anderen erkennt eine ganze Mannschaft "abfallentsorgender" Enzyme die defekten Proteine und baut sie gezielt ab. Ein für die Zelle nützlicher Zusatzeffekt: Sie werden in ihre Bestandteile, die Aminosäuren zerlegt, die wiederum zur Synthese neuer Proteine dienen. Nur wenige Bestandteile der Zelle lassen sich nicht wiederverwerten und werden ausgeschieden.

Anfang der achtziger Jahre machte der israelische Biochemiker Avram Hershko, Haifa, die Entdeckung, daß für die gezielte Demontage ein spezielles Protein nötig ist. Es wurde "Ubiquitin" genannt, da es ubiquitär, in allen Organismen mit Zellkernen, den Eukaryonten, vorkommt. Das "Ubiquitin-System" hat man durch intensive biochemische und genetische Untersuchungen in den letzten Jahren in seinen Grundzügen aufgedeckt. Es arbeitet folgendermaßen: Abnormale Proteine und solche, die nur kurzzeitig existieren sollen, werden zunächst erkannt und dann mit dem kleinen, kugelförmigen Protein Ubiquitin verknüpft. Es kann mit weiteren Ubiquitinmolekülen zu einer perlschnurartigen Kette verbunden werden. Nachdem die Proteine mit einer Ubiquitinkette markiert sind, gelangen sie in röhrenförmige Zellstrukturen, die Proteasomen. Ähnlich wie in einem Fleischwolf, werden sie dort in ihre Bausteine zerlegt, während Ubiquitin frei wird und erneut für die Markierung zur Verfügung steht.

Unsere Arbeitsgruppe am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, ZMBH, interessiert sich besonders für die Fragen, wie das Ubiquitin-System organisiert ist, für welche Funktionen der Zelle es von Bedeutung ist und wie es einzelne Proteine in einem Proteingemisch erkennt. Wir wählten als Studienobjekt die Bäckerhefe, einen Einzeller, der leicht in größeren Mengen zu kultivieren und besonders leicht genetisch zu manipulieren ist. Diese Eigenschaften machten die Hefe in den letzten zehn Jahren zu einem Favoriten für Zellbiologen. Für unsere Untersuchungen zogen wir in großen Fermentern Hefekulturen, isolierten mit biochemischen Methoden die wichtigsten Enzyme - die Biokatalysatoren - des Ubiquitin-abhängigen Abbauwegs und isolierten ferner die entsprechenden Gene für die Enzyme. Der große Vorteil des Hefe- Modellsystems besteht darin, daß man mit einfachen genetischen Methoden bei der Hefe Mutantenzellen herstellen kann, denen einzelne Gene fehlen, zum Beispiel Gene für bestimmte Enzyme des Ubiquitin-Systems. Der Verlust der Gene kann entweder zum Zelltod führen - bei essentiellen Genen - oder zu Zellen, die entweder normale oder fehlerhafte Eigenschaften besitzen. An Hand der Defekte schließen wir dann auf die Funktion und Bedeutung der Gene für die Zelle.

Wir entdeckten, daß die Hefe eine Vielzahl spezifischer Enzyme besitzt, die abnorme oder andere kurzlebige Proteine erkennen und sie mit Ubiquitinketten verbinden. Der erstaunlichste Befund war, daß sich diese sogenannten Ubiquitin-Konjugationsenzyme an sehr unterschiedlichen Stellen in der Zelle befinden, im Zytoplasma, im Zellkern sowie in Membranen, und überraschend verschiedene Aufgaben haben. Die bei der Hefe gewonnenen Erkenntnisse scheinen auch auf den Menschen übertragbar zu sein, da sehr ähnliche Enzyme in vielen anderen Organismen und auch beim Menschen vorhanden sind.
Eine ganze Familie von verwandten Ubiquitin-Konjugationsenzymen ist anscheinend für den Abbau von fehlerhaften Proteinen verantwortlich. Bemerkenswert ist, daß sie nicht nur Proteine erkennen und mit Hilfe des "Fleischwolfs", des Proteasoms, unschädlich machen können, sondern auch bei Bedarf - zum Beispiel bei Hitze oder unter Cadmiumeinfluß - häufiger hergestellt werden. Das geschieht mit Hilfe eines "Tricks": In der Zelle befinden sich Aktivatoren, die die Synthese spezifischer Proteine mit Schutzfunktionen, wie die Enzyme des Ubiquitinsystems, anschalten. Normalerweise werden die Aktivatoren von "Anstandsdamen", den Chaperonen, in funktionslosen Komplexen gehalten. Wenn die Zahl abnormer Proteine unter Streßbedingungen, wie Hitze, Schwermetall-, Alkohol- oder Canavanineinwirkung steigt, binden die Chaperonen sich eher an die fehlerhaften Proteine als an die Aktivatoren. Der Überwachung durch die Anstandsdamen entronnen, können die Aktivatoren somit die Synthese der Schutzproteine anschalten. Es zeigte sich, daß einzelne Ubiquitin-Konjugationsenzyme vermutlich vermehrt bei Hitzeeinwirkung synthetisiert werden, während andere verstärkt nach Cadmiumexposition entstehen. Diese "Streßantwort" wirkt dem Streß, dem die Zelle ausgesetzt ist, entgegen und sichert damit ihr Überleben unter schädlichen Umwelteinflüssen. Viele Auf- und Umbauprozesse in der Zelle sind hochgradig reguliert und verlangen eine Vielzahl von exakt zeitlich koordinierten Ereignissen. Die Hefe ist zum Beispiel in der Lage, innerhalb einer Generationszeit, die nur 90 Minuten dauert, ihr "Geschlecht" zu ändern. Deshalb dürfen einige der Regulatoren, die an dem Prozeß beteiligt sind, nur für sehr kurze Zeit aktiv sein. Bei dem MATa2- Transkriptionsfaktor wird das zum Beispiel durch die gezielte Kurzlebigkeit des Proteins erreicht. Bereits auf seinem Weg in den Zellkern, wo der Regulator seine Wirkung entfaltet, wird er mit Hilfe einer Gruppe von Ubiquitin-Konjugationsenzymen an verschiedenen Stellen dem Abbau zugeführt. Einige Moleküle werden schon am Ort seiner Synthese im Zytoplasma verdaut, weitere an der Membran, die den Zellkern umhüllt, andere vermutlich im Zellkern selbst. Dadurch existiert der MATa2-Regulator durchschnittlich nur für fünf Minuten in der Hefezelle und legt so das "Geschlecht" fest. Wie meine Arbeit als Postdoc im Labor von Alex Varshavsky am MIT zeigte, existiert anscheinend ein ähnlicher regulativer Mechanismus auch für die Kontrolle der Reparatur von Erbschäden. Auch an diesem Prozeß scheint bei der Hefe überraschenderweise ein spezifisches Ubiquitin-Konjugationsenzym des Zellkerns beteiligt zu sein. Bei diesem zellulären Vorgang muß vermutlich ein komplexes Steuerungsprogramm ablaufen, bei dem Regulatorproteine gezielt abgebaut werden.

Wie wichtig die präzise Regulation für das normale Zellgeschehen ist, erkennt man daran, daß Fehlregulationen der Zellteilung zum unkontrollierten Wachstum und damit zur Tumorentstehung führen können. In jüngster Zeit fand man, daß sogenannte Cycline den präzisen zeitlichen Ablauf der Teilungsvorgänge und der Verdoppelung des genetischen Materials maßgeblich beeinflussen. Diese Proteine erhielten ihren Namen, weil sie in wachsenden Zellkulturen während des Teilungszyklus periodisch und zeitlich versetzt auftauchen und verschwinden. Einzelne Phasen der Zellteilung verlangen die Gegenwart bestimmter Cycline, andere können erst nach ihrem Verschwinden ablaufen. Die Arbeiten des Zellbiologen Marc Kirschner, Harvard Medical School, ergaben, daß auch hier das Ubiquitin-System regulativ eingreift und den zeitlich präzisen Abbau der Cycline vermittelt. Bei der Bäckerhefe entdeckten wir, daß für die schrittweisen Abläufe im Teilungszyklus verschiedene Ubiquitin-Konjugationsenzyme nötig sind, die vermutlich über den Abbau von unterschiedlichen Cyclinen jeweils nur einzelne Schritte steuern.

Eine der wichtigsten Fragen, die wir zu beantworten suchen, ist, wie das Abbausystem erkennt, welche Proteine es abbauen soll und welche nicht. Man nimmt an, daß jedes intakte Protein eine vorherbestimmte Lebensdauer besitzt, die ihm irgendwie anzusehen ist. Wahrscheinlich tragen Proteine in ihrer Aminosäuresequenz kodiert bestimmte Signale, die die Ubiquitin-Konjugationsenzyme erkennen. Einige wenige dieser Signale, die nur aus kurzen Abschnitten der Aminosäurekette bestehen, konnten kürzlich identifiziert werden. Sie sind in ihrer Sequenz sehr unterschiedlich, da verschiedene Ubiquitin-Konjugationsenzyme - die wiederum unterschiedlich reguliert werden - sie erkennen müssen. Überraschenderweise zeigte sich, daß verschiedene Ubiquitin- Konjugationsenzyme sich auch paarweise verbinden können, um vermutlich zusätzliche Signale zu lesen. Dies baukastenartige Zusammensetzen zu Enzymkomplexen mit neuen Eigenschaften scheint die Erkennung einer Vielzahl von Signalen zu ermöglichen und verhilft damit dem Abbauweg zu seiner überraschenden Spezifität und funktionellen Vielfalt. Normalerweise befinden sich die Erkennungssignale auf der Oberfläche der Proteine, leicht erkennbar für das Ubiquitin-System. Es ist jedoch anzunehmen, daß es auch im Inneren der gefalteten Proteine Abbausignale für Notfälle gibt. Unter Streßbedingungen, wie zum Beispiel Hitze, gelangen sie aus dem Inneren an die Oberfläche der Proteine, wo das Ubiquitin-System sie dann erkennt und die defekten Proteine dem Abbau zuführt. Die große Bedeutung des Ubiquitin-Systems für wichtige Lebensprozesse, aber auch für verschiedene Krankheitsbilder, läßt sich zur Zeit nur erahnen. Abnormale Proteine entstehen vermehrt beim Altern des Menschen. Die Ablagerungen im Gehirn von Alzheimer- Patienten sind mit Ubiquitin verknüpft. Auch am physiologischen wie auch pathologischen Abbau ganzer Zellen und Gewebe scheint das System beteiligt zu sein. Die kürzliche Entdeckung, daß Ubiquitin- Konjugationsenzyme sogar von Viren kodiert werden, sowie der Befund, daß auch die Produkte von Krebsgenen die Funktionen des Ubiquitin-Systems beeinflussen, weisen auf eine bislang unerwartete Rolle der zellulären Abfallentsorgung hin. Die Fähigkeit zur Zerstörung scheint für die Zelle überaus wichtig zu sein.

Autor:
Prof. Dr. Stefan Jentsch
Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 282, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 56 84 16

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