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Eine Chance für Leichtgewichte

Jedes Jahr kommen in Deutschland 8000 Frühgeborene mit einem Gewicht von weniger als 1500 Gramm zur Welt. Die meisten von ihnen sind gesund, aber wegen ihrer Unreife nicht auf das Leben außerhalb des Mutterleibs vorbereitet. 90 Prozent der extrem unreifen Frühgeborenen können mit Hilfe der modernen Geburtshilfe und Neugeborenen-Intensivmedizin überleben. Sie haben gute Chancen, gesund zu überleben, wenn es den Ärzten gelingt, Sauerstoffmangel und Durchblutungstörungen des Gehirns zu vermeiden und den Kindern die Reifung zu ermöglichen, die sie im Mutterleib erfahren hätten. Otwin Linderkamp berichtet über die intensiven Bemühungen der Neonatologen um die Frühchen.

Die Entwicklung der Neugeborenen-Intensivmedizin, deren Anfänge erst 20 Jahre zurückliegen, ist zunächst von der Öffentlichkeit kaum bemerkt worden. Die Medien berichten seit einigen Jahren zunehmend häufiger über Frühgeborene, stellen aber zumeist das Risiko von Behinderungen in den Mittelpunkt. In vielen Berichten wird behauptet, daß die meisten extrem unreifen Frühgeborenen mit schweren Behinderungen überleben. Schwestern und Ärzte, die auf Neugeborenen-Intensivstationen arbeiten, werden häufig einem Rechtfertigungsdruck ihres Handelns ausgesetzt, den andere Bereiche der Medizin kaum kennen. Dies hat aber auch dazu beigetragen, daß sich die neonatologische Forschung mit aller Kraft bemüht, das Risiko bleibender Schäden bei Frühgeborenen, insbesondere Hirnschäden, weiter zu vermindern. Zugleich versuchen alle Beteiligten den Säuglingen, trotz der erforderlichen Technik, eine möglichst humane und sanfte Pflege angedeihen zu lassen.

 

Ungeduldige Winzlinge

 

Ein Baby wird normalerweise nach einer Schwangerschaftsdauer von 40 Wochen mit einem Gewicht von etwa 3500 Gramm geboren. Frühgeborene werden vor der 37. abgeschlossenen Schwangerschaftswoche entbunden und sind meist leichter als 2500 Gramm. In Deutschland erblicken sechs Prozent, das heißt 48 000 der jährlich geborenen 800 000 Babies, zu früh das Licht der Welt. Bei 8000 Kindern, einem Prozent aller Neugeborenen, beträgt das Geburtsgewicht sogar nur 500 bis 1500 Gramm und die Schwangerschaft dauerte nur 24 bis 32 Wochen. Diese nach internationaler Übereinkunft als ,sehr kleine Frühgeborene" bezeichneten Kinder belegen im Durchschnitt drei von vier Neugeborenen-Intensivplätzen und ein Viertel der Kinderklinikbetten Deutschlands.

 

Die Zahl der Frühgeburten steigt

 

Je unreifer Frühgeborene sind, desto größer ist die Sterblichkeit und desto häufiger treten bedrohliche Krankheiten und Komplikationen auf. Eltern und Betreuer fürchten besonders Schädigungen des Gehirns, die zu bleibenden Behinderungen führen. Die Bemühungen der Schwangerenvorsorge sind deshalb wesentlich darauf ausgerichtet, eine verfrühte Geburt zu vermeiden. Tatsächlich hat aber die Zahl der frühgeborenen Kinder in den letzten Jahren erheblich zugenommen: In Baden- Württemberg stieg die gesamte Geburtenzahl in den Jahren 1984 bis 1992 um 24 Prozent. Der Anteil der Babies, die unreif zur Welt kommen erhöhte sich aber auf 30 Prozent, die der Kinder mit Geburtsgewichten von 500 bis 1000 Gramm sogar auf 43 Prozent. In den meisten entwickelten Ländern beobachten wir eine Zunahme der Frühgeburten. Das läßt sich mit vermehrten Schwangerschaftsrisiken erklären. Hierzu gehören unter anderem Umwelteinflüsse, Streß, soziale und psychologische Belastungen, aber auch Rauchen und Drogenkonsum während der Schwangerschaft, ebenso wie die Zunahme des durchschnittlichen Alters der Schwangeren und die Häufung von Mehrlingsschwangerschaften nach künstlicher Befruchtung. Die besonders starke Zunahme der ,sehr kleinen Frühgeborenen" ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß viele dieser Kinder früher gar nicht versorgt wurden, da nach deutschem Recht totgeborene Kinder mit einem Gewicht unter 1000 Gramm als Fehlgeburten gelten.

Die Intensivbehandlung der frühgeborenen Kinder verfolgt das Ziel, ihnen das Überleben ohne Langzeitprobleme zu ermöglichen. Sie muß Funktionen lebenswichtiger Organe übernehmen oder unterstützen und ihre Reifung fördern. Die Behandlungsmaßnahmen dürfen den verletztlichen Kindern möglichst keine Schäden zufügen und müssen trotz der unvermeidlichen Technik human sein und dem Kind eine angemessene Umgebung für seine Entwicklung bieten. Da die meisten Frühchchen gesund, aber unreif geboren werden, ist die Intensivbehandlung hier präventiv ausgerichtet und wird erst bei Komplikationen kurativ. Im Mittelpunkt der Behandlung stehen die Unterstützung von Atmung und Kreislauf sowie die Abwehr von Infektionen und die Ernährung. Neugeborene mit einem Gewicht unter 1500 Gramm kommen meist mit unreifen Lungen und mangelhaftem Atemantrieb zur Welt. Sie benötigen unmittelbar nach der Geburt Atemhilfen. Hierzu gehören die möglichst schonende maschinelle Beatmung und die Verabreichung von sogenanntem Surfactant. So bezeichnen Mediziner die dünne Fettschicht, die die Lungenbläschen auskleidet und verhindert, daß diese zusammenfallen. Die Lungen extrem unreif geborener Kinder bilden zuwenig von diesem Stoff, der überdies leicht zerstört wird. Einer japanischen Arbeitsgruppe ist es gelungen, Surfactant aus Tierlungen zu gewinnen und Frühgeborenen über den Beatmungsschlauch direkt in die Lungen zu spritzen. Dank der Verfügbarkeit von Surfactant und der schonenden Beatmung Frühgeborener mit speziell für sie konstruierten Geräten werden die meisten der kleinen Patienten nur wenige Tage beatmet. Neugeborene, die wegen einer schweren Lungenerkrankung mit der üblichen Technik nicht mehr ausreichend zu beatmen sind, können durch eine spezielle Beatmungsform häufig noch gerettet werden: In der Heidelberger Kinderklinik haben wir gezeigt, daß die oszilliernde Beatmung mit Frequenzen von etwa 1000 pro Minute die Lungen mehr schont als die üblichen Beatmungsgeräte, und den Kreislauf weniger beeinträchtigt. Außerdem haben wir die Oszillationsbeatmung erstmals erfolgreich bei schwer zu beatmenden Säuglingen nach einer Herzoperation eingesetzt.

In den letzten Jahren ist der Kreislauf der Kinder in den Mittelpunkt der neonatologischen Forschung gerückt, da schwere Organschäden, insbesondere Hirnschäden, überwiegend Folgen einer gestörten Organdurchblutung sind. Auch wir beschäftigen uns wissenschaftlich mit dem Kreislauf des Neugeborenen. Messungen des Herzzeitvolumens und der Blutflußgeschwindigkeiten in den Arterien, die das Gehirn und andere Organe versorgen, sind selbst bei extrem kleinen und unreifen Frühgeborenen durch Doppler-Ultraschall-Untersuchungen möglich. Dabei haben wir festgestellt, daß kleine Frühgeborene unmittelbar nach der Geburt häufig ein niedriges Herzzeitvolumen und eine schlechte Durchblutung des Gehirns und des Darms aufweisen. Volumenexpansion unmittelbar nach der Geburt kann diese gefährliche Mangelversorgung verhindern. Computermodell hilft Bluttransfusionen vermeiden Da Kreislaufuntersuchungen bei Neugeborenen nicht unter exakt definierten Bedingungen erfolgen können, verwenden wir in unserem Labor Modelle der Zirkulation, die im wesentlichen aus Glaskapillaren mit einem Durchmesser von einem bis 300 æm bestehen und unter kontrollierten Bedingungen mit roten oder weißen Blutzellen durchströmt werden. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, daß das Blut Neugeborener im Vergleich zu Erwachsenen ausgesprochen günstige Fließeigenschaften aufweist. Das könnte dazu beitragen, daß die Organe kleiner Frühgeborener trotz der extrem niedrigen Blutdruckwerte meist sehr gut durchblutet werden. Zugleich bedeuten das: transfundiertes Blut, das ja von Erwachsenen stammt, kann den Kreislauf der Säuglinge beeinträchtigen. Wir haben anhand der Ergebnisse unserer Kreislaufuntersuchungen Computermodelle des Kreislaufs und der Mikrozirkulation erstellt, die uns beispielsweise ermöglichen, für das einzelne Kind zu berechnen, ob eine Bluttransfusion erforderlich ist, um die Gewebe ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Hierdurch konnten wir die Zahl der Bluttransfusionen bei Frühgeborenen erheblich verringern. Die intensivmedizinisch behandelten Säuglinge sind ständig durch schwere Infektionen bedroht, da ihre Infektabwehr noch unreif ist und Bakterien über Schläuche, die der Beatmung oder Ernährung dienen, leicht in den Körper eindringen können. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß Frühgeborene keineswegs so wehrlos gegenüber Bakterien sind, wie früher angenommen wurde. So funktionieren verschiedene Abwehrzellen auch bei ihnen recht gut und Infektionen führen ebenso wie Impfungen zu einer ausreichenden Antikörperbildung. Allerdings vermag das Frühchen die plötzliche Invasion einer größeren Menge von Bakterien nicht abzuwehren, da die Aktivierung des für die erste Abwehrstufe verantwortlichen Komplementsystems, noch mangelhaft ist, wie Dr. Gertrud Zilow, Institut für Immunologie, und Dr. Eugen Zilow aus unserer Arbeitsgruppe kürzlich herausfanden.

Die Ernährung gehört zu den schwierigsten praktischen und wissenschaftlichen Problemen der Neonatologie. Da ungeborene Kinder nicht mit Milch, sondern über die Plazenta von der Mutter ernährt werden, fehlt ein ,Goldstandard" der Ernährung Frühgeborener. Glücklicherweise wurde schon frühzeitig erkannt, daß die unreifen Babies Muttermilch besonders gut vertragen. Allerdings zeigen sie ein mangelhaftes Wachstum, wenn sie lediglich Muttermilch ohne Anreicherung erhalten. Erst die systematische Fahndung nach den Mangelzuständen ergab, daß die Muttermilch zur ausreichenden Ernährung mit Eiweiß, Kohlenhydraten, Calcium sowie Phosphor und Natrium angereichert werden muß. Dann stellt sie noch immer die beste Nahrung für das Frühchen dar, da sie sehr gut vertragen wird und die Fettzusammensetzung optimal ist. Epidemiologischen Studien aus Goßbritannien zu Folge, weisen Frühgeborene, die mit angereicherter Muttermilch ernährt worden sind, die beste intellektuelle Entwicklung auf. In Untersuchungen, die wir gemeinsam mit der Arbeitsgruppe für Ernährungsphysiologie im Kindesalter unter Leitung von Professor Hans Joachim Bremer, Heidelberg, durchführen, fanden wir jedoch heraus, daß Fettzusammensetzung sowie Eiweiß- und Kaloriengehalt von Muttermilch außerordentlich schwanken. Unser Ziel ist deshalb, durch Vereinfachung der Analysetechniken die Muttermilch je nach Zusammensetzung individuell anzureichern.

Ein weiteres Problem mit dem wir bei der Betreuung von Frühgeborenen konfrontiert sind, ist ihre Sterblichkeit. 1992 verstarben in Baden-Württemberg drei von 1000 Neugeborenen innerhalb der ersten beiden Monate nach der Geburt. Davon wogen 45 Prozent weniger als 1500 Gramm, obgleich die Gruppe der ,sehr kleinen Frühgeborenen" nur knapp ein Prozent aller Neugeborenen ausmacht. Eine Verminderung der Sterblichkeit der Frühgeborenen muß sich somit erheblich auf die Gesamtsterblichkeit der Neugeborenen auswirken. Tatsächlich ist die Sterblichkeit kleiner Frühgeborener in Baden-Württemberg seit dem Jahr 1986 von 27 Prozent auf 16 Prozent gesunken, und die Gesamtsterblichkeit der Neugeborenen entsprechend von 0,4 Prozent auf 0,3 Prozent. Worauf ist das zurückzuführen? Zum einen haben sich die Fortschritte der Neugeborenen- Intensivmedizin ausgewirkt. Ebenso bedeutsam ist aber die Zentralisierung von Risikogeburten in sogenannten Perinatalzentren, die wir in der Bundesrepublik seit einigen Jahren vermehrt anstreben. In einem Perinatalzentrum befinden sich Geburtshilfe und Neugeborenen-Intensivstation im gleichen Gebäude. Erfahrene Frauen- und Kinderärzte, Hebammen und Krankenschwestern betreuen die Schwangere, den Feten und schließlich das Kind ohne Unterbrechung durch Transporte und wechselndes Personal. Am besten arbeiten Geburtshilfe und Neonatologie Wand-an-Wand, ein Optimum daß in Baden-Württemberg nur das Perinatalzentrum Heidelberg erreicht. Derzeit könnten in der BRD 90 Prozent der Mütter, die ein Frühgeborenes zur Welt bringen, rechtzeitig in ein Perinatalzentrum verlegt werden. Hier kann die zu frühe Geburt oftmals durch erfahrene Geburtshelfer hinausgezögert werden. Von Vorteil ist außerdem, daß der Transport des Babies in der kritischsten Phase vermieden wird, denn unmittelbar nach der Geburt ist das Risiko von Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörungen besonders hoch. Hinzu kommt, daß das Rütteln und Vibrieren während des Transports Blutungen in das Gehirn auslösen kann. Es überrascht deshalb nicht, daß die Sterblichkeit sehr kleiner Frühgeborener, die nach der Geburt transportiert werden müssen, bei 20 Prozent liegt, während in Perinatalzentren nur 10 Prozent von ihnen sterben. Dank der besonders günstigen Bedingungen verstarben im Heidelberger Perinatalzentrum im Jahr 1993 sogar nur drei Prozent der Frühgeborenen mit Geburtsgewichten unter 1500 Gramm. Da die Landesregierung im Jahr 1990 ein Programm zur Einrichtung von Perinatalzentren in Baden-Württemberg verabschiedet hat, ist eine weitere Verbesserung der Versorgung Frühgeborener zu erwarten.

Das wichtigste Ziel der aufwendigen Intensivbehandlung ist die möglichst ungestörte Entwicklung zu gesunden Kindern. Vielfach wird aber behauptet, die Senkung der Sterblichkeit bei Frühgeborenen führe nur zur Produktion geistiger und körperlicher Krüppel. Der Vorwurf resultiert meist aus dem persönlichen Erleben behinderter Kinder, das nicht selten zu Ängsten und Ablehnung führt. Die weit verbreitete Ablehnung Behinderter erklärt wohl auch, daß die Mehrheit der bundesdeutschen Abgeordneten nicht gewillt ist, dem Schutz Behinderter Verfassungsrang einzuräumen. Neonatologen wird häufig unterstellt, es gehe ihnen vor allem um eine geringe Sterblichkeit ohne Rücksicht auf mögliche Behinderungen. Tatsächlich ist es für uns außerordentlich bedrückend, daß einige Frühgeborene lebenslang schwer behindert leben müssen. Andererseits können wir nicht viele Frühgeborene sterben lassen, um einigen von ihnen ein behindertes Leben zu ersparen.

 

Perinatalzentren gewährleisten optimale Versorgung

 

Die wichtigste Voraussetzung um den Tod oder die lebenslange Behinderung Frühgeborener zu vermeiden, stellt die Geburt in einem gut ausgestatteten Perinatalzentrum dar. Das zeigen viele Untersuchungen, in Deutschland insbesondere die bayerische Neonatalstudie, in Baden-Württemburg Studien in Tübingen und Heidelberg. Daran läßt sich ablesen, daß von den überlebenden ,sehr kleinen Frühgeborenen", die nach der Geburt transportiert werden mußten, 15 Prozent schwer behindert und weitere 20 Prozent leicht behindert sind. Während nach Geburt in einem Perinatalzentrum nur fünf Prozent der Überlebenden schwere und 10 Prozent leichte Behinderungen davontragen. Allein in Baden- Württemberg ließen sich jährlich Behinderungen bei 100 Kindern verhindern, wenn alle Frühgeborenen mit Geburtsgewichten unter 1500 Gramm in Perinatalzentren geboren würden. Es ist ein für die Säuglinge gefährlicher und für die Allgemeinheit teurer Trugschluß, Frühgeborene könnten an jeder Kinderklinik ausreichend versorgt werden.

Zu den schweren Behinderungen, welche die Säuglinge durch Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörungen erleiden, zählen Intelligenzminderung, Bewegungsstörungen und Erblindung. Zu den leichten Behinderungen gehören Verhaltens- und Lernstörungen, die sich relativ gut behandeln lassen, wenn sie frühzeitig erkannt werden. Dazu wäre ein besonderes Vorsorgeprogramm für Frühgeborene durch geschulte Kinderärzte notwendig, das seit langem gefordert, aber bislang nicht eingeführt wurde. Eine Abteilung des Landesgesundheitsamtes Baden-Württemberg arbeitet an einem solchen Programm. Gemeinsam mit der Abteilung für Pädiatrische Neurologie untersucht Dieter Sontheimer aus unserer Arbeitsgruppe verschiedene Möglichkeiten leichte und schwere Behinderungen der Säuglinge zu erkennen, bevor sie aus der Klinik entlassen werden.

Neuere Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, daß zum Beispiel Lern- und Verhaltensstörungen die Folge psychologischer und sozialer Probleme der Familien mit frühgeborenen Kindern sind. Eine wichtige Aufgabe der Neugeborenen-Medizin liegt deshalb darin, den frühgeborenen Kindern und ihren Eltern optimale Bedingungen zu bieten, um im schützenden Rahmen der Klinik zusammenzuwachsen. Hierzu gehören: Mutter und Kind nach der Geburt in einem Perinatalzentrum gemeinsam zu behandeln, um die Trennung nach der Geburt zu vermeiden, ebenso wie der intensive Hautkontakt von Kind und Eltern, die ,Känguruh-Methode", und die frühzeitige Beteiligung der Eltern an der Pflege ihres Kindes. Dadurch scheinen sich spätere Probleme Frühgeborener mildern oder sogar vermeiden zu lassen.

Trotz größter Sorgfalt und intensiver ärztlicher Bemühungen lassen sich Tod oder schwere Behinderungen aber nicht bei allen Frühgeborenen verhindern. Erwachsene Patienten dürfen gegen ihren Willen nicht über längere Zeit intensiv behandelt werden, wenn nach dem aktuellen Wissensstand die schwere Erkrankung den baldigen Tod erwarten läßt. Die Hoffnungslosigkeit eines totkranken Patienten unterscheidet sich aber grundsätzlich vom Verzicht auf die Behandlung Frühgeborener, da diese nicht selbst entscheiden können und die Behandlungsmöglichkeiten nicht durch eine Erkrankung, sondern durch die Unreife der Kinder begrenzt werden.

 

"Känguruh-Methode" für das psychische Wohl

 

Nach den sogenannten ,Einbecker Richtlinien", die den Neonatologen bei der Entscheidung über den Abbruch einer Behandlung sehr kleiner Frühgeborener helfen sollen, besteht keine Behandlungspflicht, ,wenn nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erfahrungen und menschlichem Ermessen das Leben des Neugeborenen nicht auf Dauer erhalten werden kann, sondern ein in Kürze zu erwartender Tod nur hinausgezögert wird." Grenzen der Behandlungspflicht können aber auch bestehen, wenn medizinische Behandlungsmaßnahmen ,dem Neugeborenen nur ein Leben mit äußerst schweren Schädigungen ermöglichen würden, für die keine Besserungschancen bestehen." Diese Richlinien, die von Ärzten und Juristen verabschiedet wurden, wirken zunächst erschreckend. Tatsächlich sollen sie aber dazu dienen, auch extrem unreifen Frühgeborenen mit der gleichen Achtung wie jedem anderen Kranken zu begegnen und dazu beitragen, den medizinischen Standard in allen Frauen- und Kinderkliniken, die Frühgeborene betreuen, auf das gleiche Niveau anzuheben. Als Ärzte können wir nicht hinnehmen, daß einige Kliniken grundsätzlich die Behandlung von Säuglingen mit Geburtsgewichten von weniger als 750 Gramm ablehnen, obgleich viele dieser Kinder bei optimaler Betreuung eine gute Chance haben, gesund zu überleben.

Wo die Behandelbarkeit endet, muß aufgrund des heutigen Wissensstands über die Organfunktionen extrem unreifer Frühgeborener und der verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten definiert werden. Künftige Verbesserungen werden dazu führen, daß sich diese Grenzen ändern. Die extreme Unreife von lebenswichtigen Organen, die nicht in der Lage sind, ihre Funktionen zu übernehmen, begrenzt die therapeutischen Möglichkeiten ebenso, wie die extreme Empfindlichkeit der zarten Gewebe Frühgeborener, die durch Behandlungsmaßnahmen leicht verletzt werden. Beides gilt in besonderem Maße für die Lungen und das Gehirn.

Bessere Überlebenschancen - Keine geistigen Krüppel Die Lungenbläschen bilden sich nach einer Schwangerschaftsdauer von etwa 24 Wochen aus. Vorher besteht die Lunge aus dickwandigen Röhrchen, durch deren Wände Sauerstoff und Kohlendioxid nur schwer hindurchtreten können. In diesem Entwicklungsstadium können die Lungen nicht künstlich beatmet werden. Das Gehirn eines Frühgeborenen, das vor Ablauf von 25 Schwangerschaftswochen geboren wird, ist extrem unreif und von Mangeldurchblutung und Blutungen bedroht. Auch in hervorragenden Perinatalzentren zeigen daher die wenigen überlebenden Frühgeborenen nach einer Schwangerschaftsdauer von 23 oder 24 Wochen fast ausnahmslos schwere Behinderungen. Nach dem heutigen Wissensstand liegt somit die Grenze für eine gute Chance ohne Behinderung zu überleben bei 25 Wochen. Sie wird sich möglicherweise in den nächsten Jahren auf 24 Wochen verschieben. Das Ziel der Geburtshilfe und Neonatologie liegt aber nicht darin, die Grenzen der Behandelbarkeit Frühgeborener immer weiter abzusenken. Die neonatologische Forschung konzentriert sich vielmehr darauf, schwere Dauerschäden, aber auch leichtere Langzeitprobleme bei denjenigen zu verhindern, die bereits jetzt gute Chancen haben, gesund zu überleben. Neben den klassischen Forschungsgebieten der Atmung und des Kreislaufs, der Infektionsabwehr und der Ernährung gewinnt daher zur Zeit die Erforschung psychosozialer Entwicklungsbedingungen in der Klinik und nach der Entlassung an Bedeutung. In Heidelberg streben wir an, die bereits begonnene Kooperationsforschung mit den Abteilungen Pädiatrische Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie in Heidelberg und Mannheim und dem Psychologischen Institut in Heidelberg auszubauen. Hier eröffnet sich auch ein wichtiges Feld für die Pflegeforschung, die sich in der Neonatologie zur Zeit vor allem mit der ,sanften Pflege" befaßt.

Autor:
Prof. Dr. Otwin Linderkamp
Abteilung für Neonatologie, Kinderklinik der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 150, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 56 23 06

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