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Meinungen

Paul Kirchhof, Professor für öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg und Richter am Bundesverfassungsgericht, sieht eine Gefahr in der Finanzierung gegenwärtiger Staatsleistungen durch Kredite.

Der Staat der Gegenwart sieht sich vor immer neue Aufgaben gestellt. Der Bürger erwartet, daß die öffentliche Hand ihn lebenslänglich bei der Bewältigung individueller Risiken begleitet, für Ausbildung, Wohnungsbau, Verkehrswesen und Gesundheitspolitik so rgt, die Umwelt bewahrt, weitgreifend - teilweise weltumspannend - Frieden sichert und die Universalität der Menschenrechte garantiert. Der deutsche Staat ist zusätzlich beauftragt, die innere Einheit in Deutschland herzustellen und als Mitglied der Europ äischen Union an einer gesamteuropäischen Integration mitzuwirken. Diese Aufgaben verursachen einen Finanzbedarf, der die Leistungskraft der Staatsfinanciers - vor allem der Steuerzahler - gegenwärtig übersteigt. Deswegen sucht der Staat Aufgaben durch Kredite zu finanzieren, deckt also einen gegenwärtigen Bedarf durch V orgriff auf die Leistungsfähigkeit zukünftiger Steuerzahler. Diese Art der Finanzierung ist aus mehreren Gründen rechtfertigungs- bedürftig. Zum einen weil der rückzahlbare und verzinsliche Kredit die Lasten gegenwärtiger Staatsleistungen in die Zukunft verschiebt, also den Empfänger von dem Financier der Staatsleistungen trennt. Des weiteren setzt das demokratische Prinzip der "Macht auf Zeit" eine Legitimation gegenwärtiger Finanzlasten durch den Wähler voraus. Deshalb darf die Belastung des zukünftigen Wählers durch das gegenwärtige Parlament nicht die Regel werden. Außerdem gefährdet oder mindert der Staat durch die Schuldenverbindlichkeiten gegenüber dem - inländischen oder ausländischen - Kreditgeber seine Unabhängigkeit und innere Souveränität. Und schließlich beruht die Rück- und Zinszahlungsverpflichtung der zukünftigen Steuerzahler gegenüber dem Kreditgeber wirtschaftlich auf einem Vertrag zu Lasten Dritter, worin tendenziell eine Umverteilung von der Allgemeinheit der Steuerzahler an den über ausreichendes Kapital verfügenden Kreditgeber, also "von arm zu reich" liegen könnte. Der ökonomisch einleuchtende Grundgedanke, daß Aufwand und Ertrag eines Finanzierungsvorhabens dieselbe Personengruppe treffen soll, ist geltendes Verfassungsrecht. Nach Art. 115 des Grundgesetzes darf die jährliche Staatsverschuldung die Summe der jährli chen Investitionen nicht übersteigen: Der Vorgriff auf die zukünftige Ertragskraft muß also durch einen entsprechenden gegenwärtigen Konsumverzicht und einen Einsatz der dadurch freigewordenen Finanzmittel für investive Zwecke, also für Zukunftserträge, ausgeglichen werden. Belastungsgleichheit meint auch eine Gleichheit in der Zeit. Die Bundesrepublik Deutschland hat allerdings in den vergangenen zwanzig Jahren diese Regel häufig durchbrochen und bei Bund, Ländern und Gemeinden in der Summe der jährlichen Verschuldung die jeweilige Investitionssumme deutlich überschritten. Der Schuld enstand öffentlicher Stellen beläuft sich zum 31. Dezember 1992 auf 1346 Milliarden Mark. In dieser Summe sind 611 Milliarden Mark Schulden des Bundes, 387 der Länder und 157 der Gemeinden sowie 92 des Kreditabwicklungsfonds, 74,5 des Fonds "Deutsche Einh eit" und 24,5 des ERP-Sondervermögens enthalten. Dazu kommen unter anderem noch 107 Milliarden Mark Schulden der Treuhandanstalt, 56,5 von Bundes- und Reichsbahn sowie 96,5 der Bundespost. Auch die weitere Entwicklung wird durch eine wachsende Neuverschuldung gekennzeichnet sein. Die durch die Altschulden übernommenen Lasten übersteigen bereits die Summe der durch Nettokreditaufnahme hinzugewonnenen Handlungsspielräume. Der hohe Schuldenstand und die laufenden Schuldenlasten sind in einer Rezession zu bewältigen, auf die Unternehmen vor allem durch den Abbau von Arbeitsplätzen reagieren. Der Weg, sich über Kreditfinanzierung veränderten Strukturen anzupassen, ist staatspolitisch und gesamtwirtschaftlich problematisch, solange nicht gleichzeitig neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die sinkende Beschäftigung vermindert die Gesamtlohnsumme, die binnenwirtschaftliche Nachfrage und die staatlichen Einnahmen. Die Verringerung der Zahl der Arbeitsplätze verbilligt nicht die Arbeit, sondern setzt den teuren Faktor Arbeit weniger oft ein; die Investitionsbedingungen werden insoweit nicht verbessert. Gleichzeitig schwächt der hohe Schuldensockel der öffentlichen Hand deren Fähigkeit, entsprechend ihrer Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG), die Konjunktur durch zusätzliche, kreditfinanzierte staatliche Nachfrage (deficit spending) zu beleben. Auch belastet der gegenwärtig hohe staatliche Kreditbedarf den Finanzmarkt, treibt tendenziell das Zinsniveau in die Höhe, begründet unternehmerische Besorgnis vor künftigen Steuererhöhungen zur Finanzierung dieser Schulden und verschlechtert so die Rahmenbedingungen für private Investitionen, Wachst um und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Deshalb ist es ein Gebot der Stunde, die wirtschaftlich und politisch destabilisierende Staatsverschuldung abzubauen. Dabei ist es erforderlich, neben einer Minderung der Staatsverschuldung die Leistungskraft der deutschen Produktivität und Forschung zu steigern und den staatlichen Anteil am Bruttosozialprodukt (die "Staatsquote") zu senken. Die Vereinbarung dieser auf den ersten Blick gegenläufigen Ziele erscheint möglich: die steuerliche Lenkung der Privatwirtschaft - insbesondere die mit Hilfe des Steuerrechts gewährten Verschonungssubventionen - behindern Produktivität und wirtschaftliches Wachstum. Ein Rückzug des Staates aus dieser Lenkung gibt den privaten Initiativen mehr Freiheit, könnte deshalb die Entfaltungsmöglichkeiten und die Anpassungskraft von Unternehmern und Unternehmen verbessern, zugleich das Ausmaß staatlicher Verantwortlichkeiten zurücknehmen und damit auch staatliche Aufgaben vermindern. So eröffnet sich die Chance, staatlichen Finanzbedarf abzubauen, vielleicht auch staatliche Auf gaben und Unternehmen zu privatisieren. Jedenfalls würde ein staatlicher Finanzbedarf verringert und damit die staatliche Finanzkraft bei gleichbleibender Steuerquote zur Schuldentilgung bereitgestellt, sodann eine Rücknahme der Steuerquote ermöglicht. Eine freiheitliche Rechtsordnung erwartet Initiative, Erneuerungskraft und Bedarfsanpassung von der privaten Hand. Der Ruf nach dem Staat und das Beharren auf staatlich gewährten Besitzständen verkennt die verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung für die Freiheit.

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