Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Fehlperzeptionen

Am 5. Mai 1928 wurde dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann und dem amerikanischen Botschafter Jacob Gould Schurman in Heidelberg die Ehrendoktorwürde verliehen. Dieser Tag symbolisiert die kurze Phase aktiver Kooperation zwischen den USA und Deutschland in der Weimarer Republik. Schurman, der ehemalige Student der Universität Heidelberg, ermöglichte durch eine Spendensammlung den Bau der Neuen Universität. Am Historischen Seminar sind die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zeitalter der Weltkriege ein wichtiger Forschungsgegenstand. Detlef Junker, Begründer der Schurman-Bibliothek für Amerikanische Geschichte, berichtet über die Unfähigkeit der in ihrer germanozentrischen Weltsicht gefangenen deutschen Politiker, die USA realistisch einzuschätzen.

Die rivalisierenden europäischen Großmächte haben seit dem Zeitalter der Entdeckungen ihren Einfluß über die Welt ausgeweitet, Hegemonie und Herrschaft ausgeübt. Dieses europazentrische Weltsystem löste sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts schrittweise auf, vor allem, weil die Neue Welt an die Stelle der Alten Welt trat. Durch die Vertreibung der letzten europäischen Kolonialmacht aus der westlichen Hemisphäre im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 und die Siege im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg hat sich das liberale, kapitalistische und marktwirtschaftliche Gesellschafts- und Staatsmodell der USA durchgesetzt, zumindest in der industrialisierten und technisierten Welt. Zukünftige Historiker könnten versucht sein, unser Saeculum "das amerikanische Jahrhundert" zu nennen. Wie im 18. und 19. Jahrhundert, blieb auch im 20. Jahrhundert Europa das zentrale Problem der USA. Auf ihrem Weg zur Weltmacht und seit 1941 zur globalen Supermacht galt für die USA ein pro-amerikanisches Gleichgewicht als notwendiges Minimum und eine amerikanische Hegemonie als Optimum ihrer Europapolitik. Deshalb lag es von der Gründung des deutschen Nationalstaats im Jahr 1871 bis zur Gegenwart im vitalen Interesse der USA, Deutschland in der Position eines liberal-demokratischen und marktwirtschaftlich-kapitalistischen Staates mittlerer Größe in Europa zu halten. Der zweifache Versuch des Deutschen Reichs, aus dieser begrenzten Position auszubrechen und selbst Weltmacht zu werden - im Ersten Weltkrieg durch eine Hegemonie über Europa, im Zweiten Weltkrieg durch eine rassisch begründete Herrschaft vom Atlantik bis zum Ural - mußte deshalb zweimal in den Krieg gegen die USA und in die Niederlage führen. Die Beschreibung und Erklärung des deutsch-amerikanischen Antagonismus im Zeitalter der Weltkriege vo n 1914 bis 1945 sowie der kurzen Phase aktiver Kooperation in den mittleren Jahren der Weimarer Republik von 1923 bis 1929 sind deshalb ein wichtiger Untersuchungsgegenstand vor allem amerikanischer, deutscher, englischer und französischer Wissenschaftler. Heidelberger Historiker haben sich an dem Forschungsproblem unter zwei übergreifenden Fragestellungen beteiligt. Erstens der Fehlperzeption, der fehlerhaften und selektiven Wahrnehmung der USA durch die deutsche außenpolitische Entscheidungselite und das Volk. Die deutschen Politiker waren bis 1945 gerade im Hinblick auf die USA unfähig, einen "Perspektivenwechsel" vorzunehmen und das Land jenseits des Atlantiks aus seinen eigenen Voraussetzungen zu verstehen. Die Unfähigkeit der in ihrer germanozentrischen Welt gefangenen deutschen Eliten, die Hilfsmittel, politischen Traditionen und Entscheidungsprozesse der USA richtig einzuschätzen, war die entscheidende Ursache sowohl für die notorische deutsche Selbstüberschätzung in den Jahren 1917 und 1941 als auch für die Katastrophen von 1918 und 1945. Diese Fehlperzeption ist in Heidelberg besonders in Studien über Stresemann und die USA, Hitler und die USA, das Amerikabild der Deutschen im Dritten Reich und die Lateinamerikapolitik des Dritten Reichs herausgearbeitet worden. Der zweite Schwerpunkt der Heidelberger Forschung ist die Herausbildung des amerikanischen Globalismus in den dreißiger und vierziger Jahren während der Amtszeit des Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1933-1945). Während im deutschen Weltmachtanspruch nic ht nur Wahrnehmung und Wirklichkeit, sondern auch Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften, wurden auf der anderen Seite des Atlantiks durch die nationalsozialistische Herausforderung Perzeption und Realität zur Deckung gebracht. Die USA entwickelten sich zur Weltmacht, die ihr nationales Interesse nicht länger auf die westliche Hemisphäre begrenzte, sondern global definierte. Im folgenden sollen die Ergebnisse der Perzeptionsforschung am Beispiel Gustav Stresemanns (1878 - 1929) und Adolf Hitlers (1889 - 1945) vorgestellt werden. Diesen beiden deutschen Politikern des 20. Jahrhunderts hat die internationale Geschichtswissenschaft die meiste Aufmerksamkeit gewidmet. Die Amerika-Perzeptionen der beiden und ihre Bedeutung für die tatsächliche deutsche Amerikapolitik haben Historiker erst in jüngster Zeit analysiert. Liberalismus und Nationalismus prägten die Weltanschauung des Nationalliberalen Stresemann. Etwas zugespitzt kann man sagen, daß es dem liberalen, besonders dem wirtschaftsliberalen, Stresemann sehr früh gelang, die objektive Bedeutung der USA für die Wel twirtschaft und Weltpolitik zu erkennen. Die Kriegsleidenschaft des Ersten Weltkriegs dagegen trübte dem Nationalisten, Alldeutschen, ja Chauvinisten und wilden Annexionisten den Blick. Sie führte zu verheerenden Fehlperzeptionen der USA und teilweise zum Verrat an seinen liberalen Grundüberzeugungen. Erst die Erschütterung über die Niederlage des Deutschen Reichs im Jahr 1918 erlaubte es ihm, sich den "neuen Tatsachen" zu stellen, die USA wieder in ihrer wirklichen Bedeutung zu sehen und das Verhältnis zu ihr zur Achse seiner Außenpolitik während der Weimarer Republik zu machen. Stresemann war Nationalökonom. Zwei Grundüberzeugungen gewann er als Reichstagsabgeordneter, Syndikus des Verbands Sächsischer Industrieller und Präsidialmitglied im Bund der Industriellen sowie Geschäftsführer im Deutsch-Amerikanischen Wirtschaftsverband und besonders durch eine Reise in die USA im Jahr 1912, die ihn durch zehn Industrie- und Handelszentren der Ostküste und des Mittleren Westens führte: "Politik und Völkerpolitik ist heute in erster Linie Weltwirtschaftspolitik". Die USA sind die potentiell stärkste Wirtschaftsmacht, für Deutschland ein Handelspartner und Konkurrent zugleich. Für die "kolossale Stärke" der USA auf wirtschaftlichem Gebiet gelte das Goethe-Wort "Amerika, du hast es besser - als unser Kontinent, der Alte." Über die Niederlage im Jahr 1918 hinaus blieb diese Erkenntnis ein zentrales Element seines außenpolitischen Koordinatensystems. Deshalb besaß Stresemann bei Amtsantritt als Außenminister im Jahr 1923 ein Konzept zur außenpolitischen Revision zum Nutzen Deutschlands, das auf weltwirtschaftliche Verflechtung und die überragende Bedeutung der USA setzte. Weil alle kapitalistischen Staaten in einem Boot saßen, so sein Kalkül, lag die wirtschaftliche Genesung Deutschlands im wohlverstandenen Interesse der Feinde von gestern, besonders der dominierenden Wirtschaftsmacht der zwanziger Jahre, eben der USA, die ihre Außenpolitik zu der Zeit in erster Linie als Außenhandelspolitik definierten. Die wirtschaftliche Rationalität werde sich aber, so Stresemann, nur durchsetzen, wenn Deutschland sich dem Prinzip des friedlichen Wandels verpflichte, strikt an der multilateralen und kooperativen Methode festhalte und die Interessen anderer Staaten hin länglich berücksichtige, zum Beispiel die Sicherheitsinteressen Frankreichs; und wenn es innenpolitisch die nationalistische Rechte im Zaume hielt - von der er sich losgesagt hatte -, der jeder Sinn für Maß und Möglichkeit fehlte. Deshalb unterstützte er die wirtschaftliche amerikanische Intervention durch den Dawes-Plan (1924), die vermutlich wichtigste außenpolitische Entscheidung der Weimarer Republik. Denn die wirtschaftliche Sicherung durch den Dawes-Plan machte den politischen Sicherheitsvertrag von Locarno, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund und die Räumung des Rheinlands erst möglich. Der Plan war der Anfang vom Ende der politischen Vorherrschaft Frankreichs in Mitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg. Deutschland wurde mit amerikanischer Hilfe aus der hilflosen Objektrolle des Jahres 1919 befreit. Im Ersten Weltkrieg hatte der verblendete Nationalist und Annexionist Stresemann hingegen seine leidenschaftliche Propaganda für den unbeschränkten U-Boot-Krieg - der nach der richtigen Einsicht von Reichskanzler Bethmann Hollweg den sicheren Kriegseintritt der USA und "Finis Germaniae" bedeutete - mit zwei Aussagen über die USA begründet, die sich als falsch erwiesen. Die amerikanische Regierung bluffe, das amerikanische Volk sei nicht kriegsbereit. Überdies würden die Amerikaner deutscher Herkunft in Tr eue zum alten Vaterland stehen, gleichsam als eine Wacht des Deutschtums am Hudson. Die völlig unrealistische Erwartung, daß die erste Loyalität der Deutsch-Amerikaner nicht ihrer neuen, sondern der alten Heimat gelte, die im Dritten Reich wieder auflebte , geht auf Fehlurteile zurück, die Stresemann während seiner USA-Reise erworben hatte. Außerdem glaubte er an die Aussagen der Marinefachleute und Professoren des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, die "bewiesen", daß Großbritannien durch den unbeschränkten U-Boot-Krieg in die Knie gezwungen werden könne, bevor die USA aktiv in Europa eingriffen. Die wichtigste Ursache für Stresemanns rückhaltlose Unterstützung der Forderung nach dem unbeschränkten U-Boot-Krieg lag aber in seiner bis zum Sommer 1918 dur chgehaltenen Überzeugung, daß Deutschland den Krieg nur mit einem Diktat- und Siegfrieden, aber nicht mit einem Verhandlungs- und Verständigungsfrieden beenden durfte. Am Ende des Jahres 1916 galten auch für ihn die U-Boote als die einzig verbliebene "Wun derwaffe", um ein solches Kriegsende doch noch erzwingen zu können. Die Einzelheiten des von ihm gewünschten Siegfriedens wechselten je nach Kriegslage, aber im Kern lief sein "unangreifbares, größeres Deutschland der Zukunft" immer auf eine wirtschaftliche, politische und militärische Hegemonie Deutschlands über Europa hinaus, arrondiert um ein deutsches Kolonialreich in Zentralafrika. Die Furcht vor der zukünftigen wirtschaftlichen Übermacht der USA war ein zentrales Motiv seines Plans. Denn nur ein von Deutschen dominierter europäischer Wirtschaftsraum hätte die Größe und die Rohstoffbasis, um im "Kampf um den Weltmarkt" mit den USA und dem Britischen Empire bestehen zu können. Auch diese Idee wurde unter rassischen Vorzeichen ab 1940 in Deutschland wie der populär. Wenn der liberale Nationalökonom Stresemann auch keinen autarken Wirtschaftsraum forderte, so war das agonale, blockbildende Element im Verhältnis zu den USA ungleich stärker ausgeprägt als in der Weimarer Republik. Stresemann, dem 1926 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, hatte aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg gelernt, daß die USA und Europa nur ein eingedämmtes, nicht-hegemoniales und dem Grundsatz des friedlichen Wandels verpflichtetes Deutschland hinzune hmen bereit waren. Hitler zog ganz andere Lehren aus der Niederlage. Er war entschlossen, den Kampf um die Weltmacht noch einmal zu führen, allerdings radikaler und raumgreifender als die Annexionisten des Ersten Weltkriegs. Der nächste Krieg würde ein ra ssisch begründeter Ausrottungs- und Eroberungskrieg werden. Deutschland werde, so verkündete Hitler in "Mein Kampf", Weltmacht oder überhaupt nicht sein. Obwohl er als Soldat im Ersten Weltkrieg die Chance hatte, sich - wie der verwandelte Stresemann - ei n realistisches Bild von den USA zu machen, blieb Hitlers Entwurf einer Herrschaft auf den europäischen Raum und die Landheere fixiert. Von den weltweiten Möglichkeiten der angelsächsischen Seemächte, besonders der USA, hatte er nie eine angemessene Vorst ellung. Außerdem haßte er das Wasser. Zu Lande, schrieb er im Jahr 1928, sei er ein Held, auf dem Meer ein Feigling. Hitlers Einschätzung der USA, auch des Präsidenten Franklin D. Roosevelt, fand eine innere Grenze an seiner dogmatischen Weltanschauung. Der fanatische Autodidakt, der als Ideologe und Programmatiker für sich in Anspruch nahm, im Krieg und Kampf der Rassen (Völker) um knappen Lebensraum zugleich den ewigen Inhalt und herzustellenden Sinn der Weltgeschichte erkannt zu haben, nahm auch über die USA nur jene Informationen auf, die mit seinen Vorurteilen übereinstimmten. Neben dieser dogmatischen Sperre behin derten andere Umstände ein realistisches Verständnis der USA - nämlich, daß er nie in einem angelsächsischen Land gewesen war, kein Englisch sprach und demokratische Traditionen eo ipso für jüdisch, internationalistisch und ein Verbrechen an der Menschhei t hielt. Insgesamt führten seine Vorurteile über Amerika zu noch stärkeren Verzerrungen der Realität als bei anderen berühmten deutschen "armchair-travellers", etwa Heinrich Heine, Karl Marx oder Karl May. Hitlers Amerikabild stand in zwei deutschen Traditionen. Einerseits wiederholte er Urteile und Vorurteile über die USA, die seit der Romantik Bestandteil der deutschen Amerikakritik waren, wie die Kulturlosigkeit und der Materialismus der Amerikaner. Ande rerseits wurde ein Randphänomen dieser Kritik nach dem Ersten Weltkrieg bei Hitler dominant: der antisemitisch-rassistische Anti-Amerikanismus der extremen deutschen Rechten. In Stresemanns Weltbild - seine Frau entstammte einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie - fehlte dieser Aspekt völlig. Die rassische Komponente des Hitlerschen und nationalsozialistischen Antiamerikanismus trat nach der Machtergreifung im Jahr 1933 aus Gründen politischer Opportunität zunächst in den Hintergrund. Sie wurde erst zum integralen Bestandteil der Partei- und Staatsideologie, als sich für Hitler seit 1937 schrittweise herausstellte, daß die USA den Nationalsozialisten die erwünschte "freie Hand" zum Aufbau eines Rasseimperiums vom Atlantik bis zum Ural verweigerten. Für Amerikas Eintritt in den Ersten Weltkrieg hatte Hitler die Juden verantwortlich gemacht: die jüdische Rasse, die jüdische Presse, das jüdisch beherrschte "internationale Leihkapital", die "Kapital- und Trustdemokratie". Als deren Marionette habe Präsi dent Woodrow Wilson das amerikanische Volk in den Krieg getrieben. Die angebliche jüdische Verschwörung war eindeutig das Hauptmotiv für Hitlers Antiamerikanismus der frühen Jahre. Den amerikanischen Materialismus brachte er in einen engen Zusammenhang mi t den Juden: "Die Amerikaner stellen alles über das Geschäft. Geld bleibt Geld, auch wenn es mit Blut getränkt ist. Beim Juden ist der Geldbeutel das Heiligste. Amerika hätte zugegriffen mit oder ohne U-Boot." Größeren Aufschluß über Hitlers Amerikabild geben seine Bücher "Mein Kampf" und das "Zweite Buch", die er in den Jahren 1924 bis 1928 verfaßte. Damals löste die starke wirtschaftliche und kulturelle Präsenz der USA in Deutschland unter dem Stichwort "Amer ikanismus" auch bei der äußersten Rechten eine neue Diskussion über die Bedeutung der USA aus. Hitler wurde gezwungen, sein Amerikabild zu präzisieren. Es ist also kein Zufall, daß erst in seinem "Zweiten Buch" aus dem Jahr 1928 längere Passagen über die USA zu finden sind. Die wenigen Äußerungen in "Mein Kampf" haben einen durchweg bewundernden Unterton und unterscheiden sich erheblich von der Kritik der frühen Jahre: Aufgrund einer richtigen Einwanderungs- und Rassepolitik sei der Germane Herr der USA, wenn auch stets vom jüdischen "Bazillus" gefährdet. Amerika war für Hitler zu der Zeit ein (fast) vorbildlicher Rassestaat. Auf jeden Fall war es ein vorbildlicher Raumstaat, der wegen des günstigen Verhältnisses von Bevölkerung und Fläche - das entscheid ende Kriterium in Hitlers Ideologie - das Muster einer Weltmacht darstellte, dazu bestimmt, das britische Weltreich abzulösen. Diese Ansätze treten in seinem "Zweiten Buch" noch klarer hervor. Die USA erscheinen als Prototyp einer Weltmacht mit angemessen em Lebensraum und richtiger Rassepolitik durch Einwanderungsgesetze, mit einem großen Binnenmarkt, hohem Lebensstandard, außerordentlicher Produktivität und technischer Innovationsfähigkeit sowie mit Mobilität und Massenproduktion. Sie erscheinen aber zugleich auch als Gefahr und Herausforderung für Europa und Deutschland. Hitler kritisierte die "unglaubliche bürgerlich-nationale Naivität", die meine, man könne dieser Herausforderung im Rahmen einer freien Weltwirtschaft und eines freien Welthandels begegnen. Er attackierte genau jenes Konzept weltwirtschaftlicher Integration, das Außenminister Stresemann praktizierte. Ebenso kritisierte Hitler die paneuropäische Bewegung seiner Zeit, die sich der Illusion hingebe, der drohenden Heg emonie Amerikas durch die Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa" zu begegnen. Der notwendige Kampf mit den USA - ein friedliches Nebeneinander konkurrierender Staaten gab es in seiner Vorstellungswelt nicht - könne nur durch ein rassisch revolution iertes Europa unter deutscher Hegemonie geführt werden. Nur ein solcher Staat werde Nordamerika "in Zukunft ... die Stirn zu bieten vermögen". Als Hitler im Jahr 1933 Reichskanzler wurde, war sein ambivalentes Bild von den USA vollständig. An seinen Urteilen, Vorurteilen, Klischees, Stereotypen, Feind- und Haßbildern änderte sich bis zum Jahr 1945 nichts mehr. Er aktivierte je nach politischer L age die negativen oder die positiven Komponenten seines Bildes, und die NS-Propaganda folgte jeweils seiner Linie. Das ambivalente Amerikabild der Weimarer Republik konnte in den Friedensjahren von 1933 bis 1938/39 fortwirken, weil die Nationalsozialisten einen publizistischen Freiraum tolerierten. Die USA hatten in der Weltwirtschaftskrise an Bedeutung verloren. Der aussenpolitische Isolationismus, die Neutralitätsgesetze der dreißiger Jahre und das amtliche Wohlwollen gegenüber dem New Deal - dem wirtschaftlichen Reformprogramm Roosevelts - trugen ebenso dazu bei wie Hitlers langgehegte Hoffnung, daß die USA politis ch und militärisch nicht wieder nach Europa zurückkehren würden. Die USA waren im Alltag des Dritten Reichs auf vielfältige Weise präsent - zum Beispiel in Film und Jazz, der Werbung, als Touristen -, und die Nazis sahen offensichtlich keinen Grund, das zu verhindern, solange das Rassedogma nicht berührt wurde. Die Auseinandersetzung mit den USA als Symbol der Moderne, mit dem positiv oder negativ bewerteten "Amerikanismus" lief weiter, allerdings in verminderter Intensität. Die alten Leitmotive der Ameri kaperzeption aus der Weimarer Republik wie Technik, Rationalität und Produktivität, die Medien- und Warenwelt Amerikas, Massenkonsum und Massenunterhaltung sowie Freizeitindustrie, Sport und Körperkult verschwanden nicht aus der veröffentlichten Meinung. Auch die traditionellen Stereotypen der Kulturkritik wie die Vorwürfe des Materialismus und der Kulturlosigkeit galten weiter. Die Pluralität und Ambivalenz in der Produktion von Amerikabildern änderte sich erst mit der berühmten Quarantänerede Roosevelts im Oktober 1937, in der dieser zum ersten Mal eine aktive Außenpolitik gegen die "Aggressornationen" anzukündigen schien. Das Meinungsklima in der gelenkten NS-Presse wurde feindlicher und schlug nach der Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941 in offenen Haß um. Hitler selbst kehrte zu seiner Amerikaperzeption der frühen Jahre zurück. Das überragende Thema der Propaganda gegen die USA wurde seine Grundüberzeugung, daß Roosevelt nicht selbständig handele, sondern als Agent des internationalen Judentums; daß der jüdische Kapitalismus und die jüdische Weltverschwörung, die die USA, Großbritannien und die Sowjetunion umfasse, auch das amerikanische Volk in den Krieg treibe. Weil Hitler vom Tag des amerikanischen Kriegseintritts an kein Mittel besaß, um den politischen Willen der USA zu beeinflußen, entlud er sich in haßerfüllten und zusehens aller Realität entrückten Monologen im Hauptquartier über den "Gangster" Roosevelt und das "verjudete" und "vernegerte" amerikanische Volk. Politisch gab er sich nur noch Illusionen hin. Er hoffte auf einen Bruch zwischen England und den USA, auf ein Scheitern Roosevelts bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1944 und schließlich, nach dem Tod des ihm zutiefst verhaßten Präsidenten am 12. April 1945, auf eine Wiederholung des "Mirakels des Hauses Brandenburg", das durch den plötzlichen Tod der Zarin Elisabeth im Jahr 1762 gerettet worden war. Doch das Mirakel blieb aus. Hitler führte das Reich nicht zur Weltmacht, sondern in den Untergang. Die Fehlperzeption der USA hat Millionen Menschen das Leben gekostet.

Autor:
Prof. Dr. Detlef Junker
Historisches Seminar, Postfach 10 57 60, 69047 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 22 76

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang