Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Persilschein und Glockenturm

Fußangeln für den Übersetzer fremdsprachlicher Texte bilden Worte, deren Bedeutung nur im Kontext der nationalen Kultur zu verstehen ist, etwa "die Zeit der Persilscheine". Wenn die spanische Übersetzung dem Leser nahelegt, es handle sich um eine Zeit, in der es modern war, alles weiß zu streichen, ist ihm der wahre Sinn des Wortes entgangen. Hilfe in dem Dickicht bietet dem Übersetzer bald die Arbeit von Nelson Cartagena und seinem Team am Institut für Übersetzen und Dolmetschen. Sie erstellen ein Wörterbuch der "Realienbezeichnungen" in der lateinamerikanischen Literatur, die besonders reich an derartigen Begriffen ist, dem Stand der Technik entsprechend als interaktive Datenbank.

Übersetzer und Kontrastivisten (vergleichende Sprachwissenschaftler) sehen sich immer wieder mit Ausdrücken in den einzelnen Sprachen konfrontiert, welche auf Realitäten verweisen, die in der Kultur, in deren Sprache sie das Werk übersetzen wollen, unbekannt sind. Dies ist der Bereich der "Realien" oder "Realia", das heißt der spezifischen landesbeziehungsweise kulturkonventionellen Sachverhalte politischer, institutioneller, sozialer sowie geographischer Art und des dazugehörigen Wortschatzes. Diese Worte begrifflich abzugrenzen, inhaltlich und sprachlich zu klassifizieren sowie die Problematik ihrer Übersetzung zu beschreiben, ist Ziel und Gegenstand unseres Forschungsprojekts am Institut für Übersetzen und Dolmetschen. Dazu erstellen wir eine multilinguale Realiendatenbank.

Zunächst zu den Wörtern Realie(n) und Realia. In der verwendeten Bedeutung stellen sie Termini dar, die in keinem der gängigen Wörterbücher und Lexika zu finden sind. Diese berücksichtigen in der Regel nur die Pluralform "Realien" im Sinne von "wirkliche Dinge, Tatsachen", "Sachkenntnisse" und, mit dem Vermerk "veraltet", "Naturwissenschaften als Grundlage der Bildung und als Lehrfächer". Eine nähere Erklärung über letztere Verwendung bietet das DTV-Wörterbuch zur Geschichte von 1972 "Realien, realia studia (lat). Im Unterschied zu den Humaniora das Unterrichtsfach Mathematik und ähnliche naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer. Erst seit dem 17. Jh. fanden die Realien an den Schulen zunehmende Berücksichtigung: an den Realanstalten nahmen sie einen besonderen Raum ein." Einen vergleichbaren Eintrag zum Stichwort "Realia" wird man demgegenüber vergeblich suchen.

Beide Termini verwendet die übersetzungswissenschaftliche Literatur oft und synonymisch. Zwar werden des öfteren Ratschläge erteilt, wie die ealien/Realia zu behandeln seien, wie und in welchen Fällen sie überhaupt zu übersetzen sind, doch zumeist werden diese Begriffe nicht eindeutig, nicht zutreffend oder gar nicht definiert. Sie rücken immer erst dann ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es um die prinzipielle (Un-)Übersetzbarkeit von Kulturspezifika oder um die Frage des Gebrauchs von Lehn- und Fremdwörtern geht.

Die Realienproblematik kann nicht allein in der einzelsprachlichen Beschreibung festgestellt werden. Sie erscheint erst in der kontrastiven Analyse beziehungsweise in der Übersetzung, wenn Begriffslücken, Fehlstellen beim interlingualen Vergleich oder Transfer entdeckt werden, das heißt, im Rahmen eines 1:0-Verhältnisses, das als denotative Nulläquivalenz bezeichnet wird. Das fehlende Denotat, die Erscheinung, das Ding, wird Realie genannt, das entsprechende sprachliche Zeichen Realienbezeichnung. Um die Nulläquivalenz zu überwinden, bleiben dem Übersetzer nur sehr wenige Möglichkeiten, Realienbezeichnungen adäquat und äquivalent in die Zielsprache zu übertragen. Er kann das Fremdwort übernehmen, es lexikalisch anpassen, Erläuterungen in Form von Fußnoten, Anmerkungen oder Glossaren anfügen, eine Lehnübersetzung, Lehnübertragung, Lehnschöpfung vornehmen und diese Möglichkeiten kombinieren.

Die oft fehlerhafte Wiedergabe von Realienbezeichnungen ist nicht so sehr auf unzulängliche Handhabung der erwähnten Verfahren zurückzuführen, sondern eher auf Unkenntnis der Sachverhalte, also der fremden Kultur, oder auf leichtfertigen Umgang mit Texten. Dies scheint bei den deutschen Übersetzungen lateinamerikanischer Autoren gar nicht selten zu sein. So stellt Anneliese Ebling in ihrer Diplomarbeit an unserem Institut 1994 fest, daß bei der Übersetzung von García Márquez' "El amor en los tiempos del cólera" in knapp einem Drittel der 98 im Text vorkommenden Realienbezeichnungen die deutsche Wiedergabe als ungeeignet erachtet werden muß. Ein Beispiel dazu: "...una patrulla... secuestró a dos viajeros de la caravana y los colgó de un campano a media lengua de la ranchería..."(S.92). In der deutschen Wiedergabe wird der Campano-Baum, auch árbol de lluvia, cenicero, laro, saman genannt, der in den tropischen Gebieten Südamerikas wächst, in einen "Glockenturm" verwandelt, denn der Übersetzerin mag vielleicht das Wort campanario geläufiger gewesen sein. Manchmal können solche harmlosen Verwechslungen sogar nationale Gefühle verletzen. Dies vermag zum Beispiel die Übersetzerin von Vargas Llosas "La tía Julia y el escribidor", wenn es ihr gelingt, auf den Kopf eines Denkmals, das das peruanische Vaterland darstellt, einen höchstwahrscheinlich typisch chilenischen Gegenstand zu setzen. Das Original lautet:
"..la dama con túnica que, en la parte central del monumento, representa la patria...llevaba un extravagante auquénido aposentado en su cabeza" (S.234). In der deutschen Wiedergabe steht für den extravagante auquénido "das extravagante araukanische Gebilde", an Stelle einer hyponymischen Adaptation wie etwa ein "lama-artiges Gebilde", denn auquénido ist ein Oberbegriff für die vier Arten "alpaca, llama, guanaco und vicuña", typische Tiere der Andenfauna, von denen dem Deutschen vielleicht das Lama am bekanntesten ist.

Deutsche Realienbenennungen bereiten dem spanischen Übersetzer in der Regel ähnliche Schwierigkeiten. Die Übersetzung folgender Erklärung von Günter Grass möge dies belegen: "Es war nunmal die Zeit des Zwinkerns, DER PERSILSCHEINE und des schönen Scheins" (Die Rättin, S. 354). "Es cierto que era la época de los guiÑos, DE LOS BLANQUEOS y de las hermosas apariencias" (S. 347). Mancher spanische Leser wird sich vielleicht auf irgendeine Weise vorstellen müssen, daß es damals dem Zeitgeschmack entsprechend üblich war, alles "weiß zu machen, zu tünchen, zu waschen oder aber zu kalken beziehungsweise zu blanchieren" - spanisch: BLANQUEAR (Verb), BLANQUEO (Substantiv). Ein anderer wird womöglich an Geldwäsche denken, "blanquear dinero". Es ist aber kaum anzunehmen, daß der Durchschnittsleser an Hand der Vorstellung des Reinwaschens auf die Bedeutung Entlastungszeugnis, Bescheinigung der Entnazifizierungsbehörden, daß sich jemand nichts hat zuschulden kommen lassen, gelangen kann.

Wegen der großen Bedeutung, die die oben skizzierte Realienproblematik für sprach- und kulturvergleichende Disziplinen sowie die darauf basierenden Berufe besitzt, und weil ein brauchbares, dem modernen Forschungsstand im Bereich der Lexikographie und der Informatik rechnungtragendes deutschspanisches landeskundliches Wörterbuch bislang fehlt, haben wir am Institut für Übersetzen und Dolmetschen begonnen, einen ersten Schritt in Richtung dieses allgemein anerkannten Desiderats zu machen. Unser Projekt, eine kleindimensionierte, streng abgegrenzte Realiendatenbank zu erstellen, wird bisher von keiner Institution finanziell getragen und kann somit nur als Nebenprodukt unserer Lehr- und Forschungstätigkeit mit der technischen Unterstützung und fachlichen Betreuung des institutseigenen Heidelberger Computerbereichs allmählich fortschreiten.

Zur Erstellung des Wörterbuchs wählten wir das Datenbanksystem zur Verwaltung lexikalischer und terminologischer Daten "MultiTerm für Windows Professional" (Version 1. Release 1.52c. 1992, 1993, 1994, Trados G.m.b.H.). Drei Vorteile dieses Systems bestimmten hauptsächlich unsere Wahl. Erstens die Möglichkeit, die Daten individuell zu gestalten durch die Erstellung von jederzeit veränderbaren Erfassungsmasken, das heißt, Beschreibungsmustern. Die von uns programmierte Struktur berücksichtigt folgende Felder: Sachgebiet, Realieneintrag, Definition der Realie mit Quellenangabe, Originalbeleg, Übersetzung mit abgekürzter Angabe des verwendeten Wiedergabeverfahrens und Übersetzungsbeleg. Indem man zusätzliche Felder anlegt, kann jeder Eintrag jederzeit ausgebaut werden, zum Beispiel mit englischen oder französischen Übersetzungen oder durch Heranziehung anderer deutscher/spanischer Übersetzungen.

Der zweite Vorteil besteht darin, daß MultiTerm speicherresident arbeitet, so daß Datenbankabfragen von anderen Anwendungsprogrammen - zum Beispiel einer Textverarbeitung - aus durchführbar sind. Dies erlaubt dem Übersetzer, den PC-Bildschirm zu halbieren: Auf der einen Hälfte hat er den Text, den er aktuell bearbeitet, auf der anderen sein elektronisches Wörterbuch, seine eigene Datenbank, von der er sogar jederzeit Informationen in den Text transferieren kann.

Da MultiTerm weitgehend interaktiv arbeitet, ermöglicht es dem Benutzer drittens, nicht nur den Haupteintrag abzurufen, sondern auch die jeweiligen Übersetzungen. So kann man zum Beispiel in Sekundenschnelle nicht nur erfahren, welche Übersetzungen für cholo belegt sind, sondern auch für welche Realienbezeichnungen - etwa cholo, zambo, mestizo die Übersetzung Mischling verwendet wurde. Dasselbe gilt für die Bestimmung von erwünschten Frequenzverhältnissen.

Das Material für die EDV-Verarbeitung, bis jetzt die in 20 ausgesuchten spanischen, lateinamerikanischen und deutschen literarischen Werken belegten Realienbezeichungen und Eigennamen, stammt aus Diplomarbeiten unserer Studenten, die in einer ersten Phase von uns elektronisch verarbeitet wurden.

Erst seit einem Semester liefern die Studenten ihre Diplomarbeiten auf MultiTerm-Disketten ab, die nach entsprechender Korrektur direkt in die Datenbank gespeichert werden können.

Bis jetzt hat sich gezeigt, daß die Forschung sehr ergiebig ist, vor allem hinsichtlich lateinamerikanischer Werke, die zahlreiche Realienbezeichungen aus vielen Bereichen aufweisen: geographische Begriffe und ethnographische Realien, Begriffe aus Folklore und Mythologie, Alltagsrealien wie Speisen und Getränke, Kleidung, Kopfbedeckung und Schmuck, Wohnung, Geräte, Geschirr, Transportmittel, Musikinstrumente, Tänze, Spiele, Maße, Geld; außerdem gesellschaftliche und historische Realien wie administrative oder territoriale Einheiten, Personen, Dienststellung, Berufe, Titel, Rang, Institutionen, Organisationen, Staatsorgane, Mitglieder von Parteien, patriotischen und religiösen Gruppierungen und vieles mehr.

Die Erforschung der Übersetzungsproblematik von Realienbezeichnungen ist auch aus einer allgemeineren Perspektive gerechtfertigt. Die historische Entwicklung der Disziplin zeigt uns, daß die Übersetzungstheorien im Laufe der Geschichte ständig zwischen zwei Polen pendelten: dem Primat des Ausgangstextes und dem Primat des Zieltextes, was zwei Grundarten des Übersetzens entspricht. Die Beschäftigung mit der Übertragung von Realienbezeichnungen zeigt vorzüglich die Dynamik dieser Möglichkeiten, so daß sie in didaktischer und theoretischer Hinsicht als besonders relevant erscheint. Man kann und muß manchmal sogar Realienbenennungen unkenntlich machen, verschwinden oder aber sie in den Vordergrund treten lassen.

Dadurch bestimmt man jeweils und nicht in unwesentlichem Maße - um es mit den Worten Goethes auszudrücken -, daß "der Autor einer fremden Nation zu uns hinübergebracht [wird], dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen können" oder aber, daß, "wir uns zu dem Fremden hinüberbegeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen". Eine angemessene Entscheidung unter Berücksichtigung aller dabei eine Rolle spielenden Faktoren zu treffen, ist letzten Endes die ureigene Aufgabe des Übersetzers.

Autor:
Prof. Dr. Nelson Cartagena
Institut für Übersetzen
und Dolmetschen, Plöck 57a, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221)54 72 46

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang