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Der Forscher als Schamane

Germanistik und Ethnologie haben mehr gemeinsam als es vordergründig scheinen mag. Beide im 19. Jahrhundert entstanden, bedienen sie sich Methoden, die mit einem enzyklopädischen Anspruch entwickelt wurden, um systematisch den "Charakter" von Völkern und Epochen zu bestimmen. Ethnologen wie Literaturwissenschaftler brauchen Intuition, Phantasie und Einfühlungskraft, um sich fremden Kulturen zu nähern oder "im Gespräch mit dem Text die Geister der Toten zu beschwören". Nach einem düsteren Kapitel der Abschottung an deutschen Universitäten steht heute Interdisziplinarität wieder hoch im Kurs. Die Chancen für interdisziplinäre Grenzüberschreitungen zwischen Philologie und Kulturanthropologie lotet Dietrich Harth, Germanistisches Seminar, aus.

Jeder Wissenschaftler glaubt sie zu kennen, die Grenzen, die sein Fach abstecken, an denen seine Kompetenz endet und jenseits des Zauns andere Wissenschaftsdialekte ihre Herrschaft entfalten. Niemals aber sind diese Grenzen starr und unwandelbar. Sie verändern sich mit der Zeit, mit der Ausdifferenzierung oder Vermehrung der zum Stoff bewußten Erinnerns versteinerten Gegenstände und nicht zuletzt mit den Fragestellungen, auf die eine Zeit jene Antworten verlangt, mit denen sie glaubt, leben zu müssen. Wächst der Druck akkumulierten Wissens, wachsen die von außen kommenden gesellschaftlichen Rechtfertigungsansprüche, dann schlägt für gewöhnlich die Stunde der Interdisziplinarität. Die Fachgrenzen werden in dieser Stunde nicht nur von innen, sondern auch von außen vermessen, um die gemeinsamen Schnittmengen herauszufinden, die möglicherweise wie fruchtbare Brachfelder zwischen benachbarten oder verwandten Disziplinen schlummern. Von solchen Schnittmengen soll hier die Rede sein. Sie haben, wie sich hier und da zeigen wird, etwas mit dem schamanischen Grenzgänger zu tun, dessen mythologischer Name Hermes in der "Hermeneutik" benannten Deutekunst alle wissenschaftlichen Revolutionen überlebt hat.

Vor wenigen Jahren erschienen gleichzeitig zwei Bücher, deren hier verkürzt wiedergegebene Titel - "Die Wissenschaft vom kulturell Fremden" und "Kulturthema Fremdheit... Problemfelder der Fremdheitsforschung" - sich inhaltlich kaum unterscheiden. Doch was sie verbindet, das trennt sie auch. Hinter dem einen Titel verbirgt sich ein Lehrbuch der Ethnologie, hinter dem anderen der Versuch, einer noch jungen Disziplin Profil zu geben, die sich Interkulturelle Germanistik nennt. Wer kennt nicht die Germanistik, die Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur, diese nicht immer in Ehren ergraute Nationalphilologie? Eben da aber liegt die Crux: Was hat diese Philologie mit dem Fremden zu schaffen? Ist sie im 19. Jahrhundert doch mit dem Ziel gegründet worden, das Eigene, das heißt: die deutsche Sprach- und Literaturüberlieferung um der nationalen Kulturidentität willen zu hegen und zu pflegen. Die Ethnologie indes, deren Geburtsstunde ebenfalls ins vorige Jahrhundert fällt, scheint frei von solchem Bemühen. Ihre Spezialität sind die Kulturen der anderen Völker (éthne), das, was fern ist, was dem Eigenen als das ganz Andere, als das Fremde kontrastreich entgegensteht und zum Vergleich einlädt. Und noch eine andere, weiterreichende Grenzmarkierung ist nicht zu übersehen: Versenkt sich der Nationalphilologe in die schriftlichen Texte seiner Eigenkultur, so reist der Ethnologe auf der Suche nach solchen Lebensformen in die Fremde, die noch unabhängig sind vom kulturellen Gedächtnis der Schrift. Der eine bleibt bei sich selbst und verbringt seine Forscherstunden sitzend und lesend, über ein kleines bedrucktes Geviert gebeugt, der andere ist unterwegs, geht (auch aus sich) heraus und beobachtet draußen im weiten "Feld", wie man in anderen Gesellschaften lebt.

Nichts als Unterschiede, sollte man meinen, gäbe es da nicht die Abenteuer des Lesens, zum Beispiel das zauberische Über- die-Schwelle-Gehen in den Spuren der ersten Sätze und die anschließende Reise durch imaginäre Welten; und gäbe es nicht auch die Nötigung für die Ethnologen, in der fremden Welt - nach dem Schritt über die Schwelle zwischen den Kulturen - wie in einem Text zu lesen und dann, heimgekommen, als ethnographische Schriftsteller zu beschreiben, was sie draußen beobachtet haben. Das Beschreiben ist ein besonderes, keineswegs allein nur die Distanz des Beobachters einhaltendes und die Nähe des Mitspielers reflektierendes Geschäft. Denn der Ethnograph interpretiert oft so ähnlich wie der geschulte Literaturinterpret. Und wenn er beschreibt, bringt er ähnlich wie dieser, ohne sauber trennen zu können, zugleich die fremde Sache, seine subjektiven Erfahrungen und die Wahrnehmungsmuster der eigenen Kultur zum Ausdruck. Vertraute literarische, ja romanhafte Muster des Erzählens dringen oft unmerklich in seine Schreibweise ein, von deren wissenschaftlicher Objektivität er selbst felsenfest überzeugt sein mag: Ethnographie wird zur Ethnopoesie und zum Gegenstand der Literaturkritik.

Läßt man die Disziplinbeschilderungen - hier "Ethnologie", dort "Germanistik" - einmal beiseite, so ist Verallgemeinerung angesagt. Sagen wir daher fürs erste: Die genannten Fä- cher fügen sich unter das Dach der Kulturwissenschaft; "Kultur" ist ja auch das Fahnenwort, das, neben dem "Fremden", die oben zitierten Buchtitel auf etwas Gemeinsames verpflichtet. Bequemerweise aber ist "Kultur" auch ein Passepartoutwort und bedarf daher, um Begriff im eigentlichen Fachverstande zu werden, seinerseits der präzisierenden Grenzziehung, der Definition. Aufschluß ist hier am ehesten von der Ethnologie zu erwarten, die sich in den höheren Etagen des Wissenschaftsgebäudes gern Kulturanthropologie nennt. Viel wäre über das dort anzutreffende Gewimmel der Kulturbegriffe zu sagen. Vielseitigkeit des Wortgebrauchs verwehrt vereinfachende Antworten. Schon die lateinische Frühform cultura umfaßt das ganze semantische Alphabet von Ackerbau bis Zeremoniell. Nur eines läßt sie aus, das, was ihr Anderes ist: die ungezähmte, die unkultivierte Natur. Eben die aber wird für den Anthropologen, der im "Naturvolk" das glücklichere Gegenbild zu seiner eigenen, komplizierteren Kultur sucht, leicht zum trügerischen Paradies.

Wie alle wissenschaftlichen Disziplinen hat auch die Kulturanthropologie verschiedene Schulen hervorgebracht. Da ist die ganzheitliche, sozialwissenschaftlich geprägte Sichtweise, mit dem Namen Bronislaw Malinowskis verbunden, die zwischen Kultur und Gesellschaft kaum unterscheidet und alles, was das Zusammenleben trägt und bedingt, unter dem Begriff der "Kultur" zusammenfaßt: Institutionen, Organisation der Arbeit, Herrschaftsformen, symbolische Medien (Sprachgebrauch, religiöse Riten, Wissenschaft, Künste). Da ist andererseits die mikroskopische Sichtweise, eine Art Miniaturmalerei, die hofft, "im Kleinen zu finden, was sich uns im Großen entzieht" (Clifford Geertz). Diese hält sich an Phänomene im engeren Sinn einer in symbolischen Praktiken ausbuchstabierten "Kultur": an Mythen, Übergangsriten, religiöse Weltdeutungsmuster, profane oder sakrale Feste und an das, was als habitueller "Gemeinsinn" (common sense) die Alltagskultur bestimmt. Interdisziplinarität und die Methoden des Kulturvergleichs gehören wie selbstverständlich zu beiden Varianten kulturanthropologischen Forschens.

Die Frage liegt nahe, wie sich die aus den Philologien herausgewachsenen Textbeziehungsweise Literaturdisziplinen, die sich neuerdings als Kultur-Wissenschaften verstehen wollen, zu all dem verhalten. Anders gefragt: Welchen Nutzen können sie aus dem interdisziplinären Kontakt mit jener Anthropologie ziehen, deren globaler Kulturbegriff sie auf den ersten Blick doch zu überfordern scheint? Ist denn die Literatur einer Gesellschaft, um nur über sie zu reden, identisch mit ihrer Kultur? Bildet sie nicht vielmehr nur einen kleinen, wenn nicht gar elitären Teil der Gesamtkultur, und auch das nur, wenn diese bereits literarisiert, also schriftzentriert ist? - Schieben wir die möglichen Antworten noch etwas hinaus, um zunächst den Blick auf das zu richten, was beiden Seiten gemeinsam ist; besser: was ihnen gemeinsam war, denn das Gemeinsame liegt in ihren Entstehungsgeschichten offener zutage als in den Spezialisierungen, die sie heute trennen. Die großen Fragen der Anthropologie, der Universalgeschichtsschreibung und der bewahrenden Überlieferung (in der Bedeutung der Philologie) haben im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung und der Kritik, die Prägung erhalten, die sie auch in der Folgezeit, in der Kleinteiligkeit einzelwissenschaftlicher Spezialisierungen, nie ganz verloren haben. Groß sind diese Fragen schon deshalb zu nennen, weil sie menschheitsumspannende Dimensionen besaßen, obwohl sie von Interessen gespeist wurden, die so nur in Europa zu finden waren. Beherrschend wurde zum Beispiel die Frage, wie sich angesichts der beginnenden Modernisierung das tradierte Wissen verwalten und zugleich für Gegenwart und Zukunft nutzbar machen ließ. Ein enzyklopädischer Schub war die Antwort. Und es gibt kaum eine Geisteswissenschaft, die nicht mit einer enzyklopädischen, ihr gesamtes Wissen inventarisierenden und systematisierenden Phase begonnen hätte. Eine Vorreiterrolle auch für die später entstehenden historisch-philologischen Universitätsfächer spielte in Deutschland die Klassische Altertumswissenschaft, also jene Disziplin, die sich der Pflege des sogenannten humanistischen Erbes verschrieben hat. Ihr Ziel sei es, notierte 1807 einer ihrer bedeutendsten Repräsentanten, Friedrich August Wolf, systematisch den "Charakter" von Völkern und Epochen zu bestimmen. Um dieses Zieles willen entwickelte sie Methoden des Archivierens, der Textkritik und der Historiographie, die von anderen - gerade auch von den Nationalphilologien und sogar von der frühen Ethnologie - als vorbildlich übernommen wurden.

Die Geistes- beziehungsweise Kulturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, heißt es oft, sind Kinder des Historismus; einer seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts vor allem an deutschen Universitäten geübten wissenschaftlichen Betrachtung, die alle dokumentierten Lebensäußerungen an ihrer geschichtsbedingten Einmaligkeit messen wollte. Es war ein Ziel dieser individualisierenden Betrachtungsweise, die geistigen oder seelischen Eigentümlichkeiten, kurz: den "Charakter" der Völker zu verstehen. Das romantische Konzept des "Volksgeistes" hat vor allem in der Germanistik von Anfang an eine Schlüsselrolle gespielt. Den Gründervätern der Disziplin, Wilhelm und Jacob Grimm, gab es den entscheidenden Anstoß, ähnlich wie die ganzheitlich orientierten Anthropologen unseres Jahrhunderts, möglichst die gesamte kulturelle Überlieferung der Deutschen unter Einschluß ihrer Sprachformen, Mythen, Bräuche, Rechtsgewohnheiten, religiösen Kulte und so weiter zu sammeln, zu inventarisieren, zu befragen. Die Vorläuferin der Ethnologie, die "Volkskunde", war zunächst ein Teil der philologisch-historischen Altertumskunde, die zum kulturhistorischen Gesamttableau der "Deutschen Philologie" das ihre beitragen sollte. Zu Jacob Grimms Zeiten war diese keineswegs engstirnig nationalistisch oder gar völkisch orientiert. Sie stand vielmehr noch im Bann jener weltliterarischen und ästhetischen Interessen, von welchen sich die mythen-, sprach- und literaturvergleichenden Unternehmungen der romantischen Wissenschaft anfeuern ließen. Der "Volksgeist" artikulierte sich nach Grimm in "aller Wissenschaften Wissenschaft", in der Sprache der Poesie, und "ein echter deutscher Dichter", schrieb er 1846, "könnte sich gefallen lassen, Germanist zu heißen." Eine bemerkenswert liberale Auffassung von Wissenschaft, die den Unterschied zwischen dem Forscher und seinem Objekt verwischt, um die Kreativität beider hervorzuheben. In der Kulturanthropologie, jener modernen Überwindung der alten Volkskunde, ist der Grimmsche Gedanke durchaus noch vorhanden. "Der Forscher als Schamane" - ein Titel, der den Wissenschaftler daran erinnern soll, daß es nicht allein die begrifflichen Klassifikationsschemata sind, die ihm einen verstehenden Zugang zur Fremdkultur öffnen, sondern daß er dafür auch Intuition, Phantasie und Einfühlungskraft (Empathie) benötigt. Ist das ein Privileg des Anthropologen? Beileibe nicht. Denn es gibt eine uralte und dauerhafte (von J.L.Borges und Stephen Greenblatt wiederholte), an magische Zauberriten anknüpfende Redeweise, die den Philologen in der Rolle des Schamanen sieht, der im Gespräch mit dem Text die Geister der Toten beschwört. Hermes, der alte Seelenführer, weist ihm den Weg.

Unser Weg aber führt vom Historismus direkt zum Gründer der deutschen Ethnologie, zu Adolf Bastian (1826-1905). Bastian war ausgebildeter Arzt, schrieb unter anderem über Geschichte und Weltanschauung, war unermüdlich auf Reisen und suchte in den Kulturen der "Naturvölker" das, was er die "Elementargedanken" der Menschheit nannte: eine von der fortgeschrittenen Zivilisation verdeckte Schicht universeller psychischer Erfahrungen. Es erschien ihm nicht problematisch, jene philologisch-historischen Methoden auf die Untersuchung fremder Kulturen anzuwenden, die in den Werkstätten der europäischen Gelehrtenrepublik entstanden waren, auch wenn es sich bei seinen Objekten um illiterate, also schriftlose Gesellschaften handelte. Wiederholt berief er sich auf die Eigenständigkeit einer jeden Kultur, ein von seinem geistigen Mentor Herder leidenschaftlich vertretener Gedanke. Dem damit einhergehenden drohenden Relativismus, der auf die Gleich-Gültigkeit aller Kulturen hinausläuft und den Kulturanthropologen nur zu gut vertraut ist, suchte er, mit der Theorie der "Elementargedanken" zu entgehen. Wie die meisten wissenschaftlichen Ethnographien der ersten Stunde wirken auch die Bastians wie ein Echo auf Friedrich Schillers Worte über die Entdeckungsreisen der europäischen Seefahrer: "Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unsrer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen und den verlornen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen." Schillers Sätze geben sehr schön zu verstehen, daß der europäische Entdecker, Ethnologe und Universalhistoriker die fremden, außerhalb seiner Zivilisation liegenden Kulturen wie einen Spiegel benutzt, in dem er hofft, auf dem Umweg über das Bild der "Primitiven" mehr über sich selbst zu erfahren. Doch was für Schiller noch selbstverständlich war, die Existenz der "rohen Völkerstämme" in der Gegenwart, das war für Bastian, der die Folgen der imperialistischen Kolonisierung außereuropäischer Kontinente vor Augen hatte, schon Vergangenheit. Die "Furie des Verschwindens" (Hegel) warf ihren Schatten. "Jetzt gerade", schrieb Bastian 1881, "wo uns im Contact mit den ethnischen Welten, das Bewußtsein, oder doch die Ahnung auftaucht der Offenbarungen, die hier zu erwarten sind, da bricht, mit der Reibung des Contacts selbst, jene Feuersbrunst aus, die sie vor unseren Augen zerstört." Eine Aura des Melancholischen umgibt seitdem - Malinowski und Claude Lévi-Strauss sind Zeugen - die Kulturanthropologie. Susan Sontag hat dafür die Formel gefunden: "Anthropology is Necrology." Ein größerer Abstand zum Erkenntnisoptimismus Schillers läßt sich kaum denken.

Dennoch war die Gründung der "Cultural Anthropology" zu Beginn unseres Jahrhunderts in den USA durch den deutschen Immigranten Franz Boas, der unter anderem auch in Heidelberg studiert hatte, weit von jedem Pessimismus entfernt. Boas kam von der Naturwissenschaft zur Anthropologie und war ein überzeugter Anhänger exakter Beschreibungsmethoden. Er erweiterte den Gegenstandsbereich, baute die kulturwissenschaftliche Forschung auf eine Allgemeine Anthropologie (unter Einschluß des Physischen, der Künste und Literaturen) und erklärte, als wolle er damit das von Bastian beklagte Verschwinden "ethnischer Welten" kompensieren, auch das moderne Leben zum Objekt des verfremdenden anthropologischen Blicks. Hier lebte er wieder auf, der enzyklopädische, nun ausdrücklich als interdisziplinäres Netzwerk entfaltete Anspruch. Und Boas rechtfertigte die in dieses Netz einzuholenden Einsichten mit dem großherzigen ethischen Argument: Wer Anthropologie studiert, erzieht sich selbst zur kulturellen Toleranz - ein amerikanisches Thema.

Als Boas an der Columbia University die Herausgabe der "General Anthropology" vorbereitete, wurde in Deutschland gerade die Toleranz erwürgt, und eine andere "Feuersbrunst" vertilgte, was die Nazis willkürlich für "entartet" erklärten. Die deutsche Ethnologie schrumpfte wieder aufs Gartenzwergmaß völkischer Volkskunde (in der Heidelberger Universitätsgeschichte ein tiefbraunes Blatt); die Germanistik wandte sich ab von ihrer besseren, ihrer Grimmschen Vergangenheit, ging in die innere Emigration oder verlor den Verstand an rassistische Ideologien. Es dauerte lange, sehr lange, bis in Deutschland - erst Ende der 60er Jahre - der nach der NS-Zeit über die Universitäten sich klebrig ausbreitende Provinzialismus gelüftet und der Anschluß an die gewaltsam unterbrochene Moderne wieder gesucht und gefunden wurde. Der Prozeß ist noch im Gange, abzulesen an den schleppenden Versuchen, die Fachgeschichten jener Jahre zu erzählen. Spät, aber nicht zu spät wurde im Herbst 1990 in Marbach ein offizieller Arbeitskreis zur Geschichte der Germanistik ins Leben gerufen. Heute ist Grenzgängerei, sprich Interdisziplinarität, in den Philologien mit Recht wieder gefragt; zumal in dem Teilbereich, der sich Literaturwissenschaft nennt. Auch ein Grund, um an die alte enzyklopädische Welt philologischen Wissens zu erinnern. Die Literaturwissenschaft ist eigentlich kein selbständiges Fach, sondern ein nicht einmal von oben einsehbares, ein "überdachtes Labyrinth" (E. Lämmert), das sich durch die schönen Literaturgärten der Einzelphilologien (wie Romanistik, Anglistik, Slawistik, Germanistik) schlingt. Wie in den neuen Schreibweisen der deutschschreibenden Immigranten und in den "Weltliteraturen" der neuen englischen, auch frankophonen Literaturen rührt sich zaghaft auch in den Literaturwissenschaften ein ozeanisches Gefühl für internationale und -kulturelle Verflechtungen. Von der Institution wird das zarte Pflänzchen nicht gerade begünstigt, da Universität und Schule zäh an den Strukturen der nationalphilologischen Facheinteilungen festhalten. Den Fremdsprachenphilologien sollten die längst fälligen Strukturveränderungen leichter fallen. Denn hier können die kulturwissenschaftlich- interdisziplinären Expansionswünsche direkt an die Informationsbedürfnisse der alten Landeskunde anknüpfen. Doch Landeskunde ohne Länderkunde ist einäugig; auch hier ist daher Kulturvergleich angesagt, und wäre es nur deshalb, weil die Idee Europa großzügige Ansichten verlangt.

Die Annäherungsversuche der Literaturwissenschaften an kulturwissenschaftliche Disziplinen von der Art der Kulturanthropologie verändern, was nicht zu verschweigen ist, das Zielgebiet der Literaturanalysen. Das poetische Werk erscheint in kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht mehr als Solitär, sondern als ein Fädchen im bunten Teppichgewebe vielfältiger kultureller Praktiken und Gewohnheiten. Literatur- als Kulturwissenschaft soll, schreibt der Germanist Gerhard Neumann unter Berufung auf die "Kulturpoetik" des amerikanischen Literaturhistorikers Stephen Greenblatt, "Lebenswelt und Literatur, Agieren und Zeichenbilden, Faktisches und Fiktives, Dokument und Poesie als Elemente eines kulturellen Gewebes beobachten und deuten." Das liest sich, als wolle der Literaturwissenschaftler nun wirklich unter die Ethnologen gehen. "Beobachten" wie diese will er, nicht allein lesen, und zitiert mit dem Bild des "Gewebes" ein Schlüsselkonzept jener "Interpretive Anthropology", die Clifford Geertz aus größter Nähe zu literaturwissenschaftlichen Verfahren entwickelt hat.

Lösen sich die Fachgrenzen hier vollends in Verwirrung auf? Wirrwarr ist fruchtbar, wenn er zu neuen Unterscheidungen anregt, und vielleicht liegt hier bereits der Anfang des Fadens, der ins Labyrinth nicht nur hinein-, sondern auch wieder herausführt. Zunächst: Die kulturanthropologische Spielart, die auf Geertz und - fügen wir hinzu - auf Victor Turner zurückgeht, ist für den Literaturwissenschaftler deshalb besonders attraktiv, weil sie Verfahren anwendet, die in der Literaturkritik ihre Wurzeln haben. Geertz und Turner berufen sich darüber hinaus auf Grundlagen, die auch dem Geisteswissenschaftler bekannt sind oder doch sein sollten: etwa auf Wilhelm Diltheys Hermeneutik, auf Max Webers verstehende Soziologie und auf Ernst Cassirers Lehre von den symbolischen Formen der Wirklichkeitsaneignung. Kulturen lesen Turner und Geertz ähnlich wie "Texte" (=Gewebe) und "Kon-Texte", und sie beschreiben die sie konstituierenden Handlungsformen - zum Beispiel Rituale des Übergangs (Geburt, Hochzeit, Tod) und des Alltags - wie dramatische Inszenierungen (performances). Wer als Mitglied einer bestimmten Kultur an solchen Inszenierungen teilnimmt, und wir tun das alle, der ist Mitspieler und Beobachter zugleich. Das kann aber (nach Geertz und Turner) heißen: Er spielt eine Möglichkeit extremer gesellschaftlicher Grenzerfahrungen durch, ohne seinen Status in Frage zu stellen und somit den sozialen Schutz zu verlieren. Hinter dem Hahnenkampf, den der Reisende auf Bali nur als unterhaltsames Spektakel wahrnimmt, erkennt der interpretierende Anthropologe die Textur eines kulturellen Musters, das auf paradoxe Weise Anarchie und soziale Kontrolle verknüpft. Das sind Beobachtungen, die den Literaturwissenschaftler, der den Gebrauch und die Wirkungen ästhetischer Ausdrucksmittel unter kulturspezifischen Aspekten untersuchen will, fesseln werden, auch wenn er vom literarischen Einzeltext ausgeht und, nach dem Durchgang durch kulturelle Kon-Texte, wieder zu diesem zurückkehrt. Verfahren der Zeichenanalyse (Semiotik), der Stilkritik und der Textauslegung gerinnen unter den Händen der Ethnologen zu Modellen der Kulturhermeneutik. Sie verändern sich in diesem Prozeß, werden gleichsam kulturtheoretisch aufgeladen. Im interdisziplinären Grenzbereich greift sie der Philologe wieder auf, um mit Hilfe der so verwandelten und verfremdeten Kategorien seine hauseigene Logik von Frage und Antwort umzubauen und zu erweitern.

Und wie stehen nun die Chancen für mutige, in die Zukunft weisende Grenzüberschreitungen? Von der Literaturwissenschaft aus gesehen läßt sich ganz allgemein auf dieses und jenes hinweisen; zum Beispiel auf die Gründung eines interdisziplinären Zentrums für allgemeine Literaturforschung in Berlin oder auf die jüngste Einrichtung eines internationalen Arbeitskreises für Toleranzforschung im Rahmen der Interkulturellen Germanistik Bayreuth. Welche Rolle in diesen Fällen die Kulturanthropologie spielen wird, steht noch dahin. Was aber geschieht hier und jetzt - in Heidelberg? Ist hier das grenzüberschreitende Gespräch zwischen "Hermeneut" und "Schamane" verpönt? Gewiß, was vor Ort fehlt, ist das Fach "Vergleichende Literaturwissenschaft"; das ist beschämend genug, aber kein Grund zu verzagen. Eine Mahnung geht schon von der Tradition aus, die von den Ausflügen des Ethnologen Mühlmann in die vergleichende Literaturbetrachtung über die kulturvergleichende Symboltheorie des Indologen Heinrich Zimmer bis zurück zu dem romantischen Mythologen Görres führt. Groß und noch unausgeschöpft im interdisziplinären Gespräch sind die kulturtheoretischen und -hermeneutischen Schätze, die im Werk Max Webers und Hans-Georg Gadamers verborgen liegen. Der mit diesen Namen nur knapp umrissene kulturwissenschaftliche genius loci hat Früchte getragen, als sich Mitte der 80er Jahre an der Universität ein informeller, bis heute regelmäßig tagender Gesprächskreis für Kulturanalyse bildete, dessen Mitglieder aus den verschiedensten Kulturwissenschaften kommen. Die Ergebnisse der aus der Mitte dieses Gesprächskreises hervorgegangenen, ohne schwerfälligen Aufwand durchgeführten Veranstaltungen sind heute in Büchern (alle herausgegeben von Assmann/Harth und Hölscher) greifbar, deren Titel etwas über die thematische Weite dieses interdisziplinären Projekts verraten: "Kultur und Gedächtnis", "Kultur und Konflikt", "Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung", "Kultur als Lebenswelt und Monument", "Revolution und Mythos". Damit war ein Anfang gemacht, der auf weite Horizonte und Generalisierungen zielte. Heute kommt es darauf an, im Rahmen von einigen wenigen Disziplinen das interdisziplinäre Gespräch fortzusetzen, ohne freilich jene produktiven Tugenden der Freizügigkeit und Experimentierlust aufzugeben, die zum Witz aller Grenzüberschreitungen gehören.  

Autor:
Prof. Dr. Dietrich Harth
Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 32 07 (Literaturliste beim Autor erhältlich)

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