Siegel der Universität Heidelberg
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Suchet ihr, so suchet!

Altgermanisten der Universität Heidelberg müssen bei ihrer Suche nach mittelalterlichen Handschriften oft ungewöhnliche Wege gehen. Ihr Ziel ist es, Zeugnisse deutscher Literatur und Sprache im östlichen Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit aufzuspüren. Dazu durchforsten sie die Bibliotheken vor Ort, stöbern in unzähligen Kisten und Kästen nach Hinweisen auf mittelalterliche Schriften oder sichten in Archiven tagelang staubbedeckte, fast vergessene Konvolute. Zu den Fahndungserfolgen der engagierten Forscher zählt so manch prächtiges Schriftstück, das nicht nur Forscherherzen höher schlagen läßt. Freimut Löser und Dietrich Schmidtke vom Germanistischen Seminar berichten von ihrer oft unerwartet spannenden Arbeit.

"Suchet ihr, so suchet!" So lautet ein angebliches Augustinus-Zitat in einer Predigt Meister Eckharts. Als die Predigt im Jahr 1919 gedruckt wurde, konnte der Herausgeber nur vermerken: "In dieser Form fand ich kein Augustinus-Zitat." Inzwischen hat man anders gesucht: nicht nach dem Zitat, sondern nach weiteren mittelalterlichen Handschriften der Predigt. Eine davon hielt die Antwort dann auch bereit: "Suochet, daz ir suochet, und niht da ir suochet." Das war nun mühelos als Augustinus-Zitat identifizierbar: "Quaerite quod quaeritis, sed ibi non est, ubi quaeritis." Nicht immer also sind Antworten dort zu finden, wo man sie sucht. Aber die Suche nach mittelalterlichen Handschriften lohnt.

Das Bundesministerium des Innern hat geholfen, die Rahmenbedingungen für diese Suche ein Stück weit zu verbessern. Seit dem Wintersemester 1993/94 finanziert es am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg eine Stiftungsprofessur für Ältere Germanistik. Diese hat zur Aufgabe, besonders die deutsche Literatur und Sprache im östlichen Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu vertreten. Der Professur ist eine Forschungsstelle zugeordnet. Sie soll die deutschsprachige geistliche Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit in den ehemals deutschen Siedlungsgebieten erschließen. Das wird hauptsächlich durch ein Repertorium geschehen, das die einschlägigen Denkmäler und deren Überlieferung verzeichnet. Bisher wurde Material für etwa 600 Artikel gesammelt.

Im Rahmen dieses Heidelberger "Repertoriums" haben wir uns auf die Suche nach Handschriften östlicher Provenienz gemacht. Manchmal wird man freilich dort fündig, wo man nicht gesucht hätte. So hat der Fund eines der wichtigsten Texte aus dem Deutschen Orden an einem unerwarteten Ort zu einem Durchbruch in der Erforschung der ostmitteldeutschen Bibelübersetzung vor Martin Luther geführt.

In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren Mitglieder des Deutschen Ordens und ihm nahestehende Autoren vornehmlich im Deutschordensland darum bemüht, den Ritterbrüdern biblische Texte in der Volkssprache zu vermitteln. Dies geschah auf Anregung der Hochmeister zunächst durch eine Reihe von Bibeldichtungen, die den Brüdern "Glaubenskämpfer und Gotteshelden" des Alten Testaments als Vorbilder schilderten. Später verschob sich das Interesse hin zum neutestamentlichen Stoff und zur Prosa. Neben einer Übersetzung der Apostelgeschichte und einer der Apokalypse ragt die gewaltige Leistung der Übersetzung der "Catena aurea" des Thomas von Aquin heraus. (Der Text wird im Rahmen der Stiftungsprofessur gemeinsam mit der Berliner Kollegin Ursula Hennig ediert.) Das großangelegte bibelexegetische Werk, in seiner deutschen Fassung etwa 1370/80 zu datieren, enthält eine abschnittsweise Übersetzung der Evangelien; diesen folgt jeweils der übersetzte Kommentar des Thomas. In der Gesamtschau aller biblischen Einzelabschnitte konnte man eine eigenständige und bedeutende, von der Forschung noch nicht gewürdigte Evangelienübersetzung erkennen.

Merkwürdig war dabei der Umstand, daß der Orden die Evangelien nur in Form eines Kommentars besessen haben soll; reine Evangelienübersetzungen wurden in Buchkatalogen des Ordens zwar erwähnt, waren aber bisher nicht nachzuweisen. Erst jetzt fand sich im österreichischen Benediktinerkloster Melk eine ostmitteldeutsche Handschrift des 14. Jahrhunderts mit den Evangelien, wortwörtlich identisch mit den Evangelienabschnitten der Catena aurea. Dazu kam ein zweiter Band, der die erwähnte Apostelgeschichte des Ordens enthält, zusammen mit den apostolischen Briefen. Die Übersetzung ist flüssig zu lesen. Hier waren nicht die "Buchstabilisten" am Werk, gegen die Luther später wetterte. Der Deutsche Orden zielte vielmehr auf eine flüssige deutsche Sprache und – das war die eigentliche Sensation des Fundes – nach der jetzt möglichen Interpretation auf ein vollständiges Neues Testament.

Wer nach mittelalterlichen Handschriften aus den genannten Gebieten sucht, kann sich also nicht nur auf östliche Bibliotheken beschränken. Er braucht einen weiten Blick. Und er tut gut daran, seine Suche in Berlin zu beginnen. In der dortigen Staatsbibliothek werden in zahllosen Kisten und Kästen handschriftliche Beschreibungen mittelalterlicher Handschriften verwahrt. Angefertigt wurden sie am Anfang unseres Jahrhunderts im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Man findet dort auch die Beschreibung deutschsprachiger Handschriftenbestände der Bibliotheken Ostmitteleuropas, wie sie vor dem Krieg vorhanden waren. Die Quelle ist von großem Wert, denn vieles, was beschrieben ist – manchmal sogar detailliert abgeschrieben oder photographiert – ist inzwischen verloren. So gibt es dort Filmaufnahmen verlorener Königsberger Fragmente, die ebenfalls zu den Bibelübersetzungen des Deutschen Ordens gehören.

Ein zweites Beispiel sei genannt. Seit einigen Jahren hat eine zweite deutsche Bibelübersetzung aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der Forschung aus zwei Gründen stark erregt. Denn erstens zielte der Übersetzer in mehreren Einzelteilen insgesamt auf eine Vollbibel, und zweitens bestimmte er diese ausdrücklich für die Laien. Vorreden zu seinem Werk verteidigen die Übersetzung vehement und betonen das Recht der Laien auf eine volkssprachige Bibel. Dieser Verteidigung bedurfte es besonders deshalb, weil der Übersetzer selbst Laie war (weder Kleriker noch universitär ausgebildet), und weil ihn Gegner aus dem Klerus für seine Tätigkeit heftig angegriffen hatten. Seine Bibelübersetzungen und Auslegungen zeichnen sich durch eine flüssige Sprache und die Orientierung an der Zielsprache aus. Sie gelten inzwischen gemeinhin als die stilistisch beste und herausragende Leistung vorlutherischer deutscher Bibelübersetzung. Der Übersetzer stammte aus Österreich, aber seine Werke waren nach Ausweis der Handschriften auch in Schlesien und Böhmen weit verbreitet. In der Forschung nennt man das Werk des "österreichischen Bibelübersetzers" inzwischen "die erste deutsche Bibel".

Neben seinen Übersetzungen aus der Bibel hat der Anonymus aber auch ein umfangreiches Traktatwerk verfaßt. Darin geht es vornehmlich um die Juden und gegen die Ketzer, besonders gegen Waldenser und Katharer. Die antiketzerischen Traktate waren bisher nur aus einer einzigen Handschrift bekannt: Sie wird heute in Wien aufbewahrt und stammt erst aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist mithin 150 Jahre nach der Entstehung der Texte geschrieben. In einem der Berliner Kartons aber fand sich eine knappe Beschreibung eines Pergamentfragments aus dem böhmischen Kloster Tepl. Es wird in das 14. Jahrhundert datiert und als bairisch-österreichisch lokalisiert. Das Fragment selbst ist noch nicht wieder aufgefunden worden. Aber die Abschrift bezeugt das Vorhandensein einer Handschrift, die unmittelbar in die Zeit und in den Raum des Verfassers führt. Sie zeigt auch, wie das Übersetzungswerk einzuordnen ist: Als Abwehr "ketzerischer" Bemühungen um die volkssprachige Bibel und als Versuch, solchen "Ketzer-Bibeln" eine eigene "korrekte" Bibelübersetzung und Auslegung entgegenzustellen. Der Laie, der sich darum bemühte, verstrickte sich so in eine Auseinandersetzung an zwei Fronten: Kampf gegen die "Ketzer" einerseits und Verteidigung gegen die Orthodoxie andererseits.

Bibeln fürs Volk, Traktate gegen Ketzer

"Ketzer" und die Polemik gegen sie spielen auch im 15. Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Dies zeigt ein Widerruf, der im Rahmen der Heidelberger Forschungsstelle näher untersucht werden soll: Er ist, unter anderem, in einer deutsch-tschechischen Handschrift der Prager Universitätsbibliothek überliefert; in der Germanistik wurde er vernachlässigt; sein Verfasser wird etwa im Standardwerk der Altgermanistik, dem "Verfasserlexikon", nicht erwähnt. Interessant ist der Text deshalb, weil er ein grelles Licht auf die Verhältnisse wirft, die in Prag nach der Verurteilung und Verbrennung von Jan Hus (im Jahr 1415 in Konstanz) herrschten. Er zeigt das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Vertretern der Orthodoxie und Anhängern der Lehren des Jan Hus. Das Dokument (in lateinischer, deutscher und tschechischer Sprache überliefert) trägt die Überschrift: "Dy Wyderrufung des meisters Peters Predeger der deuczen zu Sant Clementen in der Stat zu Prag". Der Dominikaner Peter von Unicùov widerruft vor den anwesenden Lehrern der Prager Universität aber nicht, wie man erwarten könnte, "hussitische Irrtümer". Er widerruft vielmehr seine früheren Äußerungen gegen Hus: "Ich, Bruder Peter, prediger ordens, ein lerer der heiligen schrift vnd prediger des Closters zu sent Clementen zu Prag [...] bekenne, das ich geprediget habe velschlich vnd irsamlich in manchen steten, das Meister Johannes Hus, vnd dy im anhangen [... ] sint vorleyter vnd vorfurer des volks zu Beheim, vnd zu vordirst der stat zu Prag [...] vnd das diselben betruger vnd vorleyter sollen also derkant werden, das sie haben spiczige nasen vnd bleich antlitcz vnd helle stimme, vnd sint grosze buler [...] Sie sint ouch teuflisch lewt vnd tragen lange meszer. Sie schlahen vnd töten die leut." Peter bekennt weiter, er habe solche Hetzreden verbreitet, um "czweyung" und "krig" zu erwecken und "zu reiczen das auslenderisch volk wider das konigreich zu Behem". Er widerruft alles, was er gegen Hus und seine Anhänger gesagt habe, besonders, daß der "ersame meister Johannes Hus ketczerey vnd ander vorkarte lere" gepredigt hätte. Vielmehr hätte dieser stets "das gebot gots vnd die ler der heiligen lerer" verkündet.

Der Text soll gemeinsam mit dem tschechischen Kollegen Václav Bok aus Budweis ediert und untersucht werden. Er scheint uns aus einer Reihe von Gründen interessant:
– Der nationale und religiöse Gegensatz in Prag scheint deutscherseits von Predigern wie dem Dominikaner Peter geschürt worden zu sein.
– Die hussitische Lehre fand in Prag offenbar auch unter der deutschen Bevölkerungsgruppe Widerhall, so daß man sich genötigt sah, dagegen vorzugehen.
– Die Machtverhältnisse in Prag waren im Jahr 1417 so, daß ein Hauptwidersacher von Hus sich gezwungen sah, die Polemik zurückzunehmen und Husens Rechtgläubigkeit zu betonen.
– Mit der Veröffentlichung des Widerrufes in deutscher und tschechischer Sprache wollte man gezielt beide Volksgruppen erreichen.

Die Suche nach Handschriften läßt sich meist nur vor Ort in den Bibliotheken bewerkstelligen. Der Förderung durch die Heidelberger Universitätsgesellschaft ist es zu verdanken, daß vom wissenschaftlichen Mitarbeiter der Forschungsstelle vor etwa einem Jahr eine vierwöchige Reise durch tschechische Bibliotheken unternommen werden konnte. Dabei wurde gezielt nach Handschriften geistlichen Inhalts gefahndet. Manchmal findet man bei seiner Detektivarbeit aber auch etwas, wonach man gar nicht gesucht hat. Die Szene spielt in einem tschechischen Archiv: Ein Altgermanist aus Heidelberg hat sich dort mit seinem dürftigen Tschechisch vorgestellt, er ist auf freundliches Entgegenkommen getroffen; man erlaubt ihm, zwei Tage lang alle deutschen Handschriften des Archivs einzusehen. Die muß er erst mühsam aus handschriftlichen Katalogen in tschechischer Sprache ermitteln. Weil er sich besonders für geistliche Texte interessiert, freut er sich über einige Handschriften mit Liedern und Lebensberichten von Wiedertäufern oder die ins Deutsche übersetzte Auslegung der Ordensregel durch den Dominikaner Humbert von Romans. Er ärgert sich, weil eine deutsche Bearbeitung des "Beichtspiegels" des Kanzlers der Pariser Universität, Jean Gerson, gerade gestohlen wurde. Zwar sei der Codex von der Polizei schon wieder entdeckt, aber noch nicht ins Archiv zurückgebracht. Wenn der Kollege aus Heidelberg dies wolle, könne er den Text im Polizeipräsidium einsehen. Er will nicht, bleibt im Archiv und stöbert weiter in Handschriften. Bei manchen ist der Staub so dick, daß er vermutet, er sei womöglich der erste Benutzer seit dem Mittelalter.

Überraschungsfund

Im Deckel eines dieser Konvolute klebt ein Fragment; ein Blatt, in der Mitte auseinandergeschnitten; die Schrift ist wohl in die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datieren. Der Text ist ein Lied, kein geistlicher Text, aber sogar dem Spezialisten für geistliche Prosa bekannt. Es handelt sich um ein Lied Walthers von der Vogelweide. Ein Lied, das bisher nur aus wenigen Handschriften bekannt war, und das in der Forschung kontrovers diskutiert wird (Cormeau Nr. 30 = Lachmann 53,25). Der erste Fund zur Überlieferung des bekanntesten Dichters des Mittelalters seit vielen Jahren: Teil einer größeren bairischen Liederhandschrift des 14. Jahrhunderts, gefunden in einem tschechischen Archiv. Später, zuhause, wird sich herausstellen, daß der Fund die Überlieferung der Lieder Walthers und die Bedeutung dieses einen Liedes in Walthers Gesamtwerk in neuem Licht erscheinen läßt; daß er dazu dient, den Text des Liedes auf eine neue Basis zu stellen; daß er die Version des vieldiskutierten Schlusses, die der berühmte Heidelberger Codex Manesse bietet, bestätigt. In unserer Zeit werden Einzelwissenschaften gerne an ihrem "Nutzeffekt" gemessen. Gewiß ließe sich darüber diskutieren, ob es "nutzt", die deutschen geistlichen Texte des Mittelalters in einem Repertorium zu beschreiben oder die Geschichte der vorlutherischen Bibelübersetzung im Deutschen Orden zu rekonstruieren. Doch ist es im modernen Europa wohl nicht ganz unerheblich, wenn Funde zur Literatur des Mittelalters immer wieder die enge Verbindung des Tschechischen mit dem Bairisch-Österreichischen belegen. Und sicher steht es einer Forschungsstelle der Universität Heidelberg gut an, in Zusammenarbeit mit tschechischen Kollegen Dokumente der Auseinandersetzung um Jan Hus an der Partneruniversität Prag zu studieren.

Daß der letzte Fund zu Walther von der Vogelweide durch eine Universität gefördert wurde, die mit dem Codex Manesse die größte Sammlung von Texten Walthers beherbergt, ist ein gelungener Zufall. Die Bedeutung solcher Entdeckungen läßt sich freilich nicht nach deutschen Mark, tschechischen Kronen oder Euro beziffern. Vielleicht liegt sie im Bewußtsein lebendiger europäischer Geschichte. Für uns gilt jedenfalls weiter Pseudo-Augustinus: "Suchet ihr, so suchet!"

Autoren:
Prof. Dr. Dietrich Schmidtke und Dr. Freimut Löser
Germanistisches Seminar, Hauptstraße 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 32 27 oder 54 32 16

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