Vergangenheitsbewältigung in der unmittelbaren Nachkriegszeit
„Vergangenheitsbewältigung“ ist seit Jahrzehnten ein immer wiederkehrendes Schlagwort in der öffentlichen Diskussion Westdeutschlands. Wie die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit tatsächlich geführt worden ist, wird außerordentlich kontrovers beurteilt – zwei Buchtitel können als Ausdruck einer völlig gegensätzlichen Bewertung dienen: Ralph Giordano: „Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein“ (1987) – Manfred Knittel: „Die Legende von der ,Zweiten Schuld‘. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer“ (1993). Die Erörterungen konzentrieren sich hier wie auch sonst auf die Zeit seit der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland, während die unmittelbaren Nachkriegsjahre zumeist ganz ausgeblendet werden, sieht man von einigen Spezialarbeiten über die Kirchen oder zur Entnazifizierung ab. Allgemein scheint in der Forschung stillschweigend Übereinstimmung zu bestehen, daß nach 1945 zunächst ein gewisser Grad an Normalität erreicht sein mußte, bevor legitimerweise eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Dritten Reiches erwartet werden konnte. Eike Wolgast vom Historischen Seminar zieht eine Bilanz der Jahre 1945-1948/49.
Es ist ein offenes Forschungsfeld, wie sich die Deutschen unter dem unmittelbaren Eindruck des Zusammenbruchs der nationalsozialistischen Herrschaft zu ihrer eben noch Gegenwart gewesenen jüngsten Geschichte stellten. Von den materiellen und geistigen Resten dieser Zeit waren sie allenthalben umgeben, das Dritte Reich ragte gewissermaßen unmittelbar in ihre Lebenswelt hinein – der Anstoß, nach den Ursachen der Gegenwartsmisere zu fragen, war also durchaus gegeben.
Das Vorhaben, dessen Grundzüge im Folgenden skizziert werden sollen, beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Bewertung der nationalsozialistischen Herrschaft in der Zeit von 1945 bis 1948/49. Die Forschungen sind zwar noch keineswegs abgeschlossen, einige Zwischenergebnisse lassen sich jedoch schon formulieren. Als Untersuchungsfeld sind nicht „die Deutschen“ schlechthin gewählt worden, sondern die nicht oder nur am Rande durch das Regime kompromittierten Überlebenden der deutschen Bildungs- und Funktionseliten, die sich angesichts des Fehlens gesamtstaatlicher Institutionen als Sprecher ihrer Sozialgruppe oder Organisation und darüber hinaus als Sprecher des deutschen Volkes verstanden und artikulierten. Das waren in erster Linie Vertreter der christlichen Kirchen und der Universitäten sowie der sich neu formierenden politischen Parteien, ferner Publizisten und Literaten. Der Katalog ließe sich noch erweitern, soll aber zunächst auf diese Gruppen beschränkt bleiben.
Hindernisse für eine objektive Wahrnehmung
In seiner „Rede an die deutsche Jugend“ diagnostizierte der Dichter Ernst Wiechert, der 1938 mehrere Monate in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen war, im November 1945 in München: „In diesen zwölf Jahren war fast ein ganzes Volk bis auf den Grund seiner Seele verdorben und vergiftet. ... In diesen zwölf Jahren waren auch die letzten Fäden durchschnitten worden, die ein Volk an seine Vergangenheit binden und mit der Umwelt anderer Völker verknüpfen. In ihnen war das Recht gestorben, die Wahrheit, die Freiheit, die Menschlichkeit.“ Wiechert beschrieb prägnant die Orientierungslosigkeit, die nach dem Ende des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs in Deutschland herrschte. Die Erfahrung des politischen Zusammenbruchs und der militärischen Niederlage traf jeden einzelnen ganz unmittelbar – anders als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs konnte niemand die Geschehnisse mit Formeln wie „Im Felde unbesiegt“, „Dolchstoß der Heimat in den Rücken der kämpfenden Front“ oder ähnlichem umdeuten und damit die bisherigen Herrschaftsinhaber und das alte System von der Verantwortung für die Katastrophe freisprechen. Ungleich dramatischer als 1918 stellte sich 1945 die Frage nach dem moralischen Scheitern der deutschen Gesellschaft und dem Sinnverlust der eigenen Geschichte.
Mit den Verbrechen des Dritten Reiches waren viele Deutsche spätestens direkt vor Kriegsende oder kurz danach persönlich konfrontiert worden, als die Todesmärsche der ausgemergelten Insassen der geräumten Konzentrationslager Städte und Dörfer passierten und nach der Befreiung der Lager die alliierten Truppen die Einwohner der nächstgelegenen Orte zwangen, die Schinderstätten des Systems zu besichtigen. Trotz dieser schockartigen Aufklärung ist die unmittelbare Nachkriegszeit nach allen Zeugnissen gekennzeichnet nicht so sehr durch ein Nachdenken über Schuld und Schuldursachen, als vielmehr durch die Hinwendung der meisten Deutschen zu ihrem eigenen Schicksal und dem ihnen selbst zugefügten Leid. Die letzte aktuelle Erfahrung, die sie gemacht hatten, bestand darin, daß ihr Land selbst Opfer des Regimes und des Krieges geworden war. Gründe für die Konzentration auf das eigene Unglück gab es genug und sie waren auch durchaus plausibel: Tod von Angehörigen, Obdachlosigkeit und Eigentumsverlust, vielfältige Formen sozialer Deklassierung und Verelendung, Kriegsgefangenschaft, millionenfache völlige Entwurzelung durch die Flucht aus den deutschen Ostgebieten und durch die von Verbrechen und Grausamkeiten begleitete Vertreibung aus den polnisch und tschechisch gewordenen Regionen. Insgesamt ließ der Kampf um das physische Überleben in der Not des Nachkriegs offenkundig wenig Raum für Reflexionen über das Vergangene.
Dieser Kampf um die Sicherung der materiellen Existenz verband sich sehr rasch mit dem Zwang, vor den Siegern Rechenschaft über die eigene Vergangenheit abzulegen. Die Entnazifizierung nötigte jeden, der mehr als die Stellung eines gewöhnlichen Arbeiters innehatte oder anstrebte, Auskunft über sein Verhalten im Dritten Reich zu geben. Allerdings blockierte diese Maßnahme eher eine konkrete und individuelle Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, als daß sie sie gefördert hätte. Jedes Eingeständnis eigenen Versagens oder schuldhaften Verhaltens wurde zu einer gerichtsverwertbaren Selbstbezichtigung. Das ist offensichtlich der Grund für das durchgängig zu beobachtende Verhalten: Ausflucht und Entschuldigung oder einfaches Verschweigen kompromittierender Tatsachen in der Hoffnung, sie blieben verborgen oder ließen sich mit dem formalen Entnazifizierungsbescheid zudecken. Vielfach erfolgte auch eine Selbststilisierung zum Opfer des Regimes und zum Fast-Widerstandskämpfer. Distanzierung vom eigenen früheren Verhalten oder ein Widerruf, der ein gewandeltes Bewußtsein dokumentiert hätte und damit zu einer moralischen Katharsis beitragen konnte, blieben unter diesen Umständen aus.
Welche Versuche unternahmen die Vertreter der geistigen und politischen Eliten 1945-48, sich selbst und dem deutschen Volk die Vergangenheit zu erklären? Was war geschehen – warum konnte es geschehen – welche Schlußfolgerungen waren zu ziehen? Dies mußten die Leitfragen bei der Wahrnehmung des Dritten Reiches und bei der Auseinandersetzung mit ihm sein. Gefordert waren nüchterne Bestandsaufnahme, umfassende Analyse und entschiedene Therapievorschläge.
Wieweit die Überlebenden dabei die Meinung der Gesamtbevölkerung wiedergaben, ist schwer zu sagen – einen gewissen Anhaltspunkt über die Volksstimmung bieten die Ergebnisse der Meinungsumfragen der amerikanischen Militärregierung, denen zufolge 1945/46 mehr als ein Drittel (mit Werten bis zur Hälfte) daran festhielt, daß der Nationalsozialismus eine gute Idee gewesen sei, die aber schlecht durchgeführt wurde; lediglich zwischen 37 Prozent und 48 Prozent hielten ihn für eine schlechte Idee. Selbst der liberale Historiker Friedrich Meinecke, der im Nationalsozialismus den „Durchbruch des satanischen Prinzips in der Weltgeschichte“ sah, gestand ihm noch 1946 durchaus einen Anteil zu an der Idee der Verschmelzung der nationalen und der sozialistischen Bewegung, die zur Schaffung einer fruchtbaren Volksgemeinschaft und zur Beendigung der Verwahrlosung der Jugend geführt habe. Er relativierte dieses Zugeständnis allerdings durch den Hinweis, daß für Hitler dies alles nur Mittel zum Zweck der brutalen Machtausübung gewesen sei. Gutes im Nationalsozialismus fanden auch diejenigen, die zur Entschuldigung ihrer eigenen Zustimmung oder Beteiligung eine zeitliche Zäsur setzten, mit der sich der wahre Charakter des Regimes entlarvt habe. Als solche Zäsur wurde zumeist der sogenannte Röhm-Putsch im Juni 1934 genannt – bei dieser Datierung blieben aber unberücksichtigt die fundamentalen Verletzungen der Menschenrechte, die prinzipielle Verleugnung des Rechtsstaats sowie die in aller Öffentlichkeit demonstrierten Demütigungen und rechtswidrigen Verfolgungen der Funktionäre der Linksparteien und der Repräsentanten der Weimarer Republik wie der deutschen Juden, deren Entrechtung im Berufsbeamtengesetz im April 1933 die Emanzipation prinzipiell widerrufen hatte. Wer die Zäsur statt auf Februar 1933 auf Juni 1934 ansetzte, zeigte noch im Nachhinein seine mindestens partielle Geringschätzung des rechtsstaatlichen Gedankens und seine segmentierte Wahrnehmung der großen Zahl der Opfer jenes ersten Jahres.
Wer trägt die Verantwortung, wer hat schuld?
Eine besondere Stellung nahmen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches als selbsternannte Sprecher für das deutsche Volk die beiden christlichen Kirchen ein. Sie waren die einzigen Anbieter einer konsistenten Alternativideologie und die einzigen intakten Institutionen im Chaos. Beide Kirchen hatten Anpassung und Widerstand gleichermaßen geübt. Ihre Führungen hatten mindestens zu Beginn das nationalsozialistische Regime durchaus unterstützt und auch später niemals öffentlich Fundamentalkritik am System geübt. Dennoch schienen sie so geringfügig korrumpiert, daß sie Reputation bei den Besatzungsmächten genossen, zugleich hatten sie hinreichend opportunistisch agiert, so daß die Deutschen ihr eigenes Verhalten bei ihnen widergespiegelt finden konnten.
Anders sah es bei den Universitäten aus. Sie waren durch zahlreiche Staatseingriffe und durch ihre geistig-moralische Kapitulation vor dem Nationalsozialismus 1945 nahezu völlig unglaubwürdig geworden. Ihre Repräsentanten setzten dem aber ein nur wenig gebrochenes Selbstbewußtsein entgegen, das ihr Versagen nach 1933 minimalisierte oder in die Abstraktion entrückte. Wie die Kirchen beanspruchten auch die Universitäten die Wegweisung im Chaos.
Die Politiker, die sich 1945 zu Wort meldeten, waren zumeist Opfer des Regimes gewesen. Sie waren verfolgt worden, mußten oft jahrelange Haft im Konzentrationslager erleiden oder waren zur Emigration gezwungen gewesen. Hindernis für ihre Akzeptanz in der Bevölkerung war jedoch, daß nach den Erfahrungen mit der NSDAP die Menschen weithin politik- und parteimüde waren, außerdem mit den Parteien die letzten turbulenten Jahre der Weimarer Republik identifizierten.
Wenn man die Äußerungen der ersten Nachkriegszeit prüft, so fällt auf, wie wenig Raum das Dritte Reich in den Aufrufen, Reden, Artikeln und anderen repräsentativen Texten einnimmt. Zumeist wurde jeweils nur einleitend auf die Schrecken der Vergangenheit eingegangen, um sich nach diesem oft als bloße Pflichtübung erscheinenden Präludium vor allem den Gegenwartsproblemen und den Aufgaben einer politisch-geistigen Neuordnung zuzuwenden.
Das Urteil über das Dritte Reich fiel dabei eindeutig und einschränkungslos negativ aus, während die Variationsbreite der verwendeten Negativstereotypen nicht groß war. Das Dritte Reich wurde als Terrorregime bezeichnet, als Herrschaft von Verbrechern, die in Machtbesessenheit mutwillig den Krieg und damit den Untergang Deutschlands herbeigeführt hatten. Um eine repräsentantive Formulierung zu zitieren: Im Berliner Gründungsaufruf der Liberaldemokratischen Partei vom 5. Juli 1945 wird von „zwölfjähriger Tyrannenherrschaft und fast sechsjährigem Krieg“ gesprochen – mit dieser Floskel war der Rückblick in die Vergangenheit auch schon beendet. Beklagt wurde häufig die moralische Deformierung der Deutschen durch eine Weltanschauung, die Ethik und christlich-humanistische Wertevorstellungen sowie die Freiheit der Wissenschaft – eine spezifische Klage in universitären Reden – verneint und bekämpft hatte. Auch die Unchristlichkeit des Regimes und die Kirchenverfolgungen wurden sehr häufig – natürlich vor allem von den Kirchen – angesprochen. Schriftsteller verurteilten die Zerstörung der Sprache, den Mißbrauch der Begriffe, die Aufblähung „in neuen Bildungen, die allesamt einem Klappertopf und einer Kuhschelle gleichen: hohl, nichtssagend und vollkommen wertlos, ausgesät und angesiedelt an den Wegrändern der Sprache, auf ihren Schutt- und Abfallhaufen“ (Elisabeth Langgässer).
Bemerkenswert selten erscheint im Anklagekatalog der Verlust der politischen und individuellen Freiheitsrechte, wie er sich in der Absage der Nationalsozialisten an die Ideen von 1789 und in der Aufhebung dieser Rechte schon durch die Notverordnung vom 28. Februar 1933 manifestiert hatte. Am ehesten war noch bei den Liberalen davon die Rede; häufig wies etwa Theodor Heuss 1945/46 darauf hin. Sonst aber bestanden vielfach, wie noch zu zeigen sein wird, Vorbehalte gegen Liberalismus und Individualismus, und das Schweigen über die Freiheitsrechte, wenn ihr Verlust nicht unter den Begriff des Terrors subsumiert wurde, zeigt, daß sie für viele auch nach dem Fall des totalitären Regimes jedenfalls keinen singulären Stellenwert besaßen.
Auffallendes Schweigen über den Verlust der Freiheitsrechte
Wenn auch über die nationalsozialistische Herrschaft, ihre Ideologie und ihre Praxis weithin Einigkeit bestand, fielen die Erklärungen der Ursachen des Dritten Reiches sehr unterschiedlich aus. Sie entsprachen den jeweiligen geistig-ideologischen Vorprägungen der Urteilenden und nahmen nicht selten Argumentationsmuster aus der späten Weimarer Republik wieder auf. Sehr häufig wurde jedoch eine eigentliche Ursachenanalyse überhaupt nicht vorgenommen, so daß vielfach ein deutliches Rationalitätsdefizit vorherrscht. Besonders bei den Universitätsvertretern ist der Verzicht auf rationale Erklärungen auffällig. In den Reden zur Wiedereröffnung der Hochschulen begegnen einem 1945/46 gehäuft irrationale Metaphern, die das Dritte Reich als etwas Unabwendbares und letztlich Unerklärliches bezeichneten: Dämonie; Netz, in das man verstrickt wurde; Geschick, das einen betroffen hat; Bergsturz, der hereinbrach; einer Naturkatastrophe gleich; Seuche; Phantom, das von der Straße lockte, und dergleichen mehr. Der irrationale Fatalismus zeigte sich auch in der häufigen Verwendung des Begriffs Tragik, was ebenfalls ein der menschlichen Verfügung Entzogensein unterstellte. Die Erklärungen der Ursache des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus lassen sich in vier Gruppen systematisieren.
1) Die Volkscharakter-Erklärung: Danach waren der deutschen Mentalität im Gegensatz zu den romanischen und angelsächsischen Völkern gewisse Eigenheiten zuzuschreiben, die den deutschen Sonderweg begründeten. Dazu gehörten politisch-bürgerliches Desinteresse, Furcht vor der Freiheit (Sternberger), Schwanken zwischen „uferloser Romantik und kleinbürgerlichem Versorgungsideal“ (Heuss), „Ablehnung der freiheitsbewahrenden Institutionen zugunsten eines Staatsgedankens eigenen Wuchses“ (Ebbinghaus), Prägung durch Untertanengeist und Obrigkeitsgläubigkeit (Kogon, Röpke). Bei der Begründung für die Defekte des Volkscharakters gingen katholische wie liberale Autoren bis zu Luther und seiner Zwei-Reiche-Lehre zurück. Jaspers wie Adenauer sahen den Grund in der preußischen Geschichte, die Militarismus und Gehorsamsidee, verbunden mit Ablehnung der bürgerlichen Freiheit, bei den Deutschen ausgebildet habe. Alfred Weber setzte in sehr eigenwilliger Geschichtskonstruktion den Beginn der deutschen Fehlentwicklung auf den Dreißigjährigen Krieg und die damit verbundene Zerstörung eines selbstbewußten Bürgertums an. Für linke Publizisten wie Ernst Niekisch und Alexander Abusch (mit plakativen Buchtiteln: „Deutsche Daseinsverfehlung“ und „Irrweg einer Nation“) war die ganze deutsche Geschichte der Neuzeit eine einzige Fehlentwicklung und nahezu zwangsläufig auf das Dritte Reich hin orientiert. Hier wurde dann auch die Kontinuitätsreihe Luther – Friedrich der Große – Bismarck – Wilhelm II. – Hitler aufgenommen.
2) Die kultur- und gesellschaftskritische Erklärung: Sie wurde neben den Kirchen besonders von den Repräsentanten des Bildungsbürgertums vorgetragen. In dieser Sicht erschien das Dritte Reich einerseits als Folge des Kollektivismus, andererseits aber genauso als Folge eines bindungs- und hemmungslosen Individualismus. Für beides wurde die säkularisierte Gesinnung, wie sie durch Aufklärung und Französische Revolution verbreitet worden war, verantwortlich gemacht. Insbesondere Vertreter beider Kirchen ordneten das Dritte Reich in einen Säkularisierungsprozeß ein, der von Gott zum Besitz, vom Glauben zum Materialismus geführt habe. Für den Historiker Gerhard Ritter war die Volkssouveränität und das Wesen der modernen Demokratie, wie sie sich in der Französischen Revolution und im Jakobinertum herausgebildet hatten, die wichtigste Wurzel des totalitären Staates. Vor allem katholische Autoren sahen die Menschen der totalitären Verführung durch einen sogenannten Geist des individualistischen Liberalismus und die aus ihm herrührende Auflösung aller gesellschaftlichen und transzendentalen Ordnungen in die Arme getrieben. Auch die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit der Entwurzelung des Proletariats und der angeblichen Vermassung der Gesellschaft diente in diesem Zusammenhang als Ursachenbegründung. Nationalsozialismus und Drittes Reich verloren in dieser Interpretation ihren besonderen Charakter und wurden lediglich zur deutschen Akzentuierung einer gemeineuropäischen Tendenz. Die Vermassungs- wie die Individualismustheorie erklärte nicht, warum diese angeblich europäische Tendenz zum totalitären Staat gerade in Deutschland zur politischen Macht geworden war, während die auf 1789 und den Liberalismus fundierten westeuropäischen Staaten unbetroffen geblieben waren.
3) Die sozio-ökonomische Erklärung: Die marxistische Ursachenforschung begnügte sich weithin mit ihrer traditionellen holzschnittartigen Imperialismustheorie, derzufolge Hitler nichts als ein Knecht der reaktionären Kräfte des Großkapitals gewesen war. Wie der kultur- und gesellschaftskritischen Erklärung fehlte auch diesem Ansatz die Berücksichtigung der besonderen deutschen Entwicklung – warum der Imperialismus gerade in Deutschland zu diesem Ergebnis geführt hatte, blieb offen.
4) Die zeitgeschichtliche Erklärung: Vielfach wurden ausschließlich Faktoren der jüngsten deutschen Geschichte für das Dritte Reich verantwortlich gemacht – der Versailler Vertrag und die Politik der Sieger des Ersten Weltkriegs. Das mit der angeblichen Demütigung Deutschlands operierende nationale Ressentiment, das schon das politische Klima in der Weimarer Republik zutiefst vergiftet hatte, wurde nach 1945 zur Erklärung des Dritten Reiches durchaus weitergepflegt, wenn auch begreiflicherweise in sehr viel gemäßigterer Tonart. Die Mitschuld des Auslands wurde zumeist auch auf die Zeit nach 1933 erstreckt mit dem Vorwurf, die Westmächte hätten Hitler nicht rechtzeitig aufgehalten, sondern mit ihm verhandelt, sein Regime dadurch aufgewertet und das deutsche Volk gewissermaßen mit seinem Diktator allein gelassen. Hier wurde zur eigenen Entschuldigung eine internationale Solidarität angemahnt, die vor allem dazu diente, die Sieger von 1945 ins Unrecht zu setzen. Zu den zeitgeschichtlichen Erklärungsfaktoren zählten auch vermeintliche Strukturfehler der deutschen Republik: die Übernahme des westeuropäischen Modells der Demokratie, das Wahlrecht und der angeblich exzessive Parlamentarismus, ferner die wirtschaftliche Not und die Arbeitslosigkeit am Ende von Weimar. Im Entwurf für die erste Nachkriegsverlautbarung der katholischen Bischöfe von August 1945 hieß es, Hitler habe sich Massenzulauf verschafft „mit dem Versprechen, die Deutschen von der Not zu erlösen, den deutschen Namen wieder zu Ehre und Ansehen zu bringen und breite Massen des Volkes mit nationaler Gesinnung zu erfüllen.“ Dies alles hatte nach Meinung der Bischöfe die Weimarer Republik versäumt.
Auch die Universitäten beanspruchten die Wegweisung im Chaos
Mit der Frage nach den Entstehungsgründen des Dritten Reiches mußte sich zwangsläufig die Prüfung des eigenen Verhaltens verbinden und ebenso des Verhaltens der Sozialgruppe oder Institution, deren Repräsentanten in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Wort ergriffen. Die Frage nach ihrer Verantwortung war die Kehrseite des kaum beschädigten Selbstbewußtseins der deutschen Eliten. Die Kollektivschuld ist in den Jahren nach 1945 lebhaft diskutiert und durchgängig verneint worden. Aus Gründen des Selbstschutzes wurde aber auch individuelle oder institutionelle Schuld nicht oder nur in allgemein-unverbindlicher Form artikuliert. Jeder, der das Dritte Reich überlebt hatte, wußte, daß er, wenn nicht aus Überzeugung, so doch aus strukturellem Opportunismus kompromittierend hatte handeln müssen, und sei es durch die Verwendung der vorgeschriebenen Formel „Heil Hitler“ in Schriftstücken an Behörden, auch wenn er den Führer verabscheute. Intensiv hat sich bekanntlich besonders Karl Jaspers 1945/46 mit der Schuldfrage auseinandergesetzt, da für ihn ein geistig-moralischer Neuanfang nur möglich war, wenn ihm eine Selbstreinigung des einzelnen vorausging. Jaspers unterschied zwischen vier Arten von Schuld:
- Kriminelle Schuld wegen individuell zurechenbarer Verbrechen;
- politische Schuld als Staatsbürger eines Staates, der Verbrechen anordnete und beging;
- moralische Schuld, die sich aus Handlungen oder Unterlassung von Handlungen des Einzelnen ergab: Anpassung, Nichtwiderspruch gegen Unrecht, Trägheit des Herzens – diese Schuldkategorie traf nach Jaspers auf die meisten Deutschen zu;
- metaphysische Schuld als Mensch, der als solcher mitverantwortlich ist für Unrecht und Ungerechtigkeit.
Die Repräsentanten von Kirchen, Universitäten und Parteien übten auffällig wenig Selbstkritik. Lediglich die Evangelische Kirche in Deutschland gab im Oktober 1945 die Stuttgarter Schulderklärung ab. Gleichwohl handelte sie hierbei nicht aus eigener Initiative, sondern wurde dazu aufgefordert durch eine Delegation ausländischer Kirchenvertreter. Der Text blieb sehr allgemein. Daß mindestens einige Bischöfe und zahlreiche Geistliche, vom Kirchenvolk ganz abgesehen, das Dritte Reich und seine Politik durchaus begrüßt und unterstützt hatten, blieb in der Schulderklärung ungesagt.
Kirchen, Universitäten, Parteien: auffällig wenig Selbstkritik
Noch uneindeutiger äußerten sich die katholischen Bischöfe. Sie sprachen sich und die von ihnen repräsentierte Institution 1945 ausdrücklich von jeder Schuld frei und verwiesen auf die Verfolgungen. In bischöflichen Verlautbarungen wurde die kirchliche Zurückhaltung gegenüber den Verbrechen des Dritten Reiches mit Opportunitätsgründen entschuldigt: Um Schlimmeres zu verhüten, habe man zu Vielem geschwiegen. In salvatorischer Absicht erklärte der Freiburger Erzbischof Gröber, der in den ersten Jahren des Dritten Reiches die Diktatur emphatisch begrüßt hatte, in einem Hirtenbrief im September 1945, die Bischöfe seien an sich zum Martyrium bereit gewesen, hätten aber damit nur den Wunsch ihrer Gegner erfüllt, die Herde ohne Hirten zu lassen. Sehr viel stärker als die Evangelische Kirche betonten die katholischen Bischöfe nach 1945 die Legalität der Regierung Hitler und ihre angeblich „guten ersten Verlautbarungen“, die „das Beste (versprachen) und ... zu Beanstandungen keinen Anlaß“ gaben – die Absage an den Rechtsstaat in der Regierungserklärung Hitlers vom 23. März 1933 blieb dabei ausgeblendet. Mit dieser Haltung sollte offensichtlich vor allem der Abschluß des Reichskonkordats gerechtfertigt werden, auch wenn dies niemals ausdrücklich gesagt wurde. Allerdings wurde die Schuld der Deutschen nicht verschwiegen. So erklärte der erste Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz (23. August 1945): „Furchtbares ist schon vor dem Kriege in Deutschland und während des Krieges durch Deutsche in fremden Ländern geschehen. Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen (sc. der katholischen Gläubigen), haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben, leisteten durch ihre Haltung Vorschub den Verbrechen, viele sind selbst Verbrecher geworden.“ Die Schuldzuweisungen erfolgten differenzierter (betören lassen, gleichgültig geblieben, Vorschub leisten, Verbrecher geworden) und ausführlicher als im Stuttgarter Bekenntnis, wurden aber aus der distanzierten Haltung des eigenen Unbetroffenseins vorgenommen. Das identifizierende „Wir“ von Stuttgart fehlte.
Die Universitätsvertreter schwiegen gemeinhin über das Versagen der eigenen Institution völlig. Während Widerstand und Regimeopfer aus der eigenen Gruppe oder Institution durchaus gewürdigt wurden, blieb der Widerstand gegen das Dritte Reich generell in öffentlichen Erklärungen weithin ausgespart. Als tief gestört erwies sich das Verhältnis zum deutschen Exil. Nicht selten wurde die Sorge artikuliert, daß Emigranten, die den deutschen Verhältnissen durch ihre langjährige Abwesenheit angeblich entfremdet seien, zu großen Einfluß bei den Militärregierungen erhielten. Nur wer im Lande geblieben sei und das Schicksal des deutschen Volkes geteilt habe, könne zutreffend über die Vergangenheit urteilen und für die Zukunft planen. Diese Argumentation war weit verbreitet und gewann zusätzlich einen fatalen Akzent, da die meisten Emigranten Juden waren, denen mitunter unverhüllt Rachegelüste unterstellt wurden. Andererseits beschloß die Göttinger Rektorenkonferenz bereits im September 1945, „den aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung verdrängten oder ausgewanderten deutschen Hochschullehrern“ die Wiederherstellung ihres früheren Status oder materielle Versorgung anzubieten. Die erste – und einzige – gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz richtete im Juli 1947 an alle, die emigrieren mußten, „den herzlichen Ruf“, nach Deutschland zurückzukehren.
Ein besonderes Gewicht bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mußte der Judenverfolgung und dem Genozid zugemessen werden. Auf sie paßten die Erklärungen für die Ursachen des Dritten Reiches nur wenig – weder aus der Fehlentwicklung der deutschen Geschichte der letzten Jahrhunderte noch aus dem Volkscharakter noch aus der zeitgeschichtlichen Begründung ließ sich der Massenmord mit dem Vorsatz, die gesamte Judenheit auszurotten, herleiten. Zudem war es bei der Judenverfolgung noch schwieriger als bei anderen Unrechtstaten des Regimes, die Thematisierung eigener Schuld im Wegsehen, Schweigen, Nichtwissen- und Nichtwahrhabenwollen zu umgehen. Eine Mitschuld ließ sich hier kollektiv wie individuell durchaus konstatieren. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – blieb die Wahrnehmung des Dritten Reiches in diesem Sektor sehr partiell und ließ in ihrer Beschränkung eine tiefe Unsicherheit erkennen. Diese Unsicherheit dokumentierte sich schon in der verwendeten Wortwahl. Die Judenverfolgung und der Holocaust wurden in öffentlichen Stellungnahmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit weithin nicht beim Namen genannt, sondern mit verdeckenden Bezeichnungen umschrieben: Rassenwahn, Massentötung, antisemitische Ideologie. Das Wort „Jude“ oder „jüdisch“ begegnet in den Quellen nur ganz selten; sein Gebrauch war offensichtlich stillschweigend tabuisiert. Nicht selten wurden auch die antijüdischen Klischees weitergepflegt.
Nirgends wurden, soweit sich dies erkennen läßt, in repräsentativen öffentlichen Aussagen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit die historischen Hintergründe des Antisemitismus erörtert, weder die christlichen Wurzeln des Antijudaismus noch der Honoratiorenantisemitismus des Bildungsbürgertums seit Treitschke und Stoecker oder der Popularantisemitismus der breiten Massen.
Eine objektive Wahrnehmung des Dritten Reiches wurde in den öffentlichen Aussagen häufig – vor allem von den Kirchen, aber auch von den Universitätsvertretern, weniger von den Politikern – verstellt durch eine entschuldigende Parallelisierung und Verrechnung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes mit der Politik der Siegermächte vor wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Singularität der deutschen Verbrechen wurde relativiert, indem den Alliierten, auch und gerade den Westmächten, vorgehalten wurde, daß sie wegen ihrer eigenen Untaten im Krieg (Bombardierungen und Zustimmung zur Vertreibung) und in ihrer Nachkriegspolitik kein moralisches Recht hätten, die Deutschen zur Verantwortung zu ziehen. Unterstellt wurde vielfach, die Sieger bedienten sich derselben Methoden wie die Nationalsozialisten oder sogar noch schlimmerer, und dies im Namen von Recht, Humanität und Religion. Vor allem bei Schulderörterungen kam man sehr rasch von der eigenen Schuld zur Schuld der Sieger, durch die die eigenen Verbrechen wenigstens indirekt immer wieder verkleinert wurden, wenn man nicht sogar behauptete, vergangenes deutsches Unrecht werde jetzt durch größeres Unrecht überboten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Aufrechnungsmentalität in der nicht selten anzutreffenden Parallelisierung des deutschen und des jüdischen Schicksals.
Versuch, die Verbrechen zu „verrechnen“
Im Zeichen des Kalten Krieges breitete sich bald eine besondere Form von Parallelisierungsargumentation aus. Der Nationalsozialismus profitierte im Nachhinein von der akuten Bedrohung der westlichen Demokratie durch den totalitären Kommunismus. Er ließ sich jetzt als primär antibolschewistisch motiviert ausgeben – das Dritte Reich geriet in den Schatten des Sowjetimperiums. Unter diesem Zeichen stand dann auch die problematische personelle Kontinuität, indem viele Amtsträger des vergangenen Regimes erklärten, sie hätten sich lediglich aus antikommunistischer Gesinnung dem Nationalsozialismus verschrieben, und damit erreichten, daß sie nach nur oberflächlicher Entnazifizierung in den Dienst der neuen Demokratie übernommen wurden.
Die Wahrnehmung des Dritten Reiches und die Auseinandersetzung mit ihm standen in engem Zusammenhang mit Zukunftsentwürfen. Diese wurden je nach ideologischer Interessenlage unterschiedlich konzipiert. Die Kirchen sahen eine Rechristianisierungschance – und auch sonst galt die Religion vielfach als Basis des Neuanfangs, wenn auch nicht unbedingt im Sinne eines Offenbarungsglaubens, sondern instrumental als versittlichendes Element und als Sinnstifterin. Ein anderes Ordnungsmodell ließ sich mit dem Stichwort Sozialismus oder Sozialisierung umschreiben – als Veränderung der sozioökonomischen Zustände durch Enteignung und Gemeineigentum oder als „Sozialismus der wiedergeretteten und erneuerten Menschenwürde“ (Alfred Weber). Der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung standen die konservativ Gesinnten unter dem Eindruck des Scheiterns der Weimarer Republik häufig skeptisch gegenüber.
Die Nachkriegszeit ist vielfach pauschal unter das Verdikt der Restauration gestellt worden. Der linkskatholische Publizist Walther Dirks hat in der Rückschau 1950 in den „Frankfurter Heften“ die Restauration als „natürlichen Vorgang“ bezeichnet. „Jede Revolution oder Veränderung hat die Hoffnung der besseren Zukunft für sich, Restauration die größere Sicherheit der besseren Zukunft.“ Sie ist „das Ergebnis der Schwerkraft der menschlichen Natur.“ Nach dem gewalttätigen Totalexperiment des Dritten Reiches und in der existenziellen Not der ersten Nachkriegszeit war die Orientierung auf die „größere Sicherheit“ begreiflich.
Im Laufe der Jahre vertiefte sich jedoch auch ohne intensive Auseinandersetzung der Bruch mit den unheilvollen ideologischen Elementen der Vergangenheit, die die deutsche Sonderentwicklung charakterisiert hatten. Werte und Normen früheren politischen Sozialverhaltens wurden pragmatisch oder bewußt aufgegeben, so der Nationalismus, der Militarismus und der Autoritarismus. Politik und Politikvorstellungen wurden entemotionalisiert. Der neue demokratische Staat wurde 1949 mit größeren institutionellen Absicherungen ausgestattet: Unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit und Prinzip der streitbaren Demokratie, die aktiv gegen antidemokratische Tendenzen einschreitet. Damit waren trotz der Defizite bei der Wahrnehmung des Dritten Reiches aus der Erfahrung der deutschen Geschichte heraus verläßliche Grundlagen für die zweite deutsche Republik gelegt.
Autor:
Prof. Dr. Eike Wolgast, Historisches Seminar, Grabengasse 3-5, 69117 Heidelberg,
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