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Just community – demokratische Strukturen im Strafvollzug

Es scheint nicht nur die Sensationspresse zu sein, die sich über die Verrohung der heutigen Jugend beklagt. Das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger ist seit einigen Jahren deutlich gesunken, und seriöse Studien stellen fest, daß die Straffälligkeit von Kindern und Jugendlichen bei einer insgesamt sinkenden Gesamtkriminalität steigt. Von den USA über Großbritannien bis nach Deutschland fordern in dieser Situation Politiker aller Couleur ein härteres Vorgehen, höhere Strafen, Mobilitätsbeschränkungen nach Einbruch der Dunkelheit sowie eine verstärkte Hinzuziehung straffälliger oder auch nur auffälliger Jugendlicher zu öffentlichen Arbeiten. Die Kriminologie besitzt freilich seit Jahren keinerlei Hinweise dafür, daß mehr Repression, schärfere Strafen, einen Rückgang der Kriminalität bewirken. Micha Brumlik berichtet über ein Forschungsprojekt, das dagegen auf Demokratisierung des Strafvollzugs setzt.

Angesichts des Versagens repressiver Maßnahmen sowohl im Bereich der Prävention als auch besonders des Vollzugs behalten Überlegungen und Programme, die auf Therapie, soziales Training und – wie vor Jahren erstmals in den USA praktiziert – auf Demokratisierung des Jugendstrafvollzugs setzen, besonderes, erneuertes Interesse. In diesem Rahmen existiert seit zweieinhalb Jahren in einer süddeutschen Justiz-Vollzugs-Anstalt in Adelsheim in einem Freigängerhaus das Modell einer „Gerechten Gemeinschaft“, also eine institutionelle Regelung für etwa zehn bis zwölf straffällige Jugendliche. Dem Leiter der JVA, Herrn Regierungsdirektor J. Walter und dem Justizministerium des Landes Baden-Württemberg ist für ihre großzügige Unterstützung an dieser Stelle ebenso zu danken wie den an dem Projekt beteiligten Sozialarbeitern und Vollzugsbeamten.

Die jungen Männer, die tagsüber außerhalb des Gefängnisses einer Arbeit oder einer Ausbildung nachgehen, haben – anders als andere Gefangene – in ihrem Haus die Möglichkeit, Konflikte aller Art, die unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Sanktionierung liegen, nach selbstgesetzten Verfahren zu bearbeiten. Zu diesem Zweck hat die Anstaltsleitung einen Teil ihrer Sanktionshoheit auf Zeit zur Disposition gestellt. Das Regelwerk, innerhalb dessen die Jugendlichen ihre Konflikte bearbeiten, umfaßt eine einmal in der Woche stattfindende Hausversammlung, die aus ihrer Mitte ein Leitungskommittee und im Fall der nötigen Vermittlung bei gravierenden Disziplinarfällen ein „Fairneßkommittee“ wählt. An dieser Hausversammlung sind nicht nur die Strafgefangenen, sondern auch die Sozialarbeiter und Vollzugsbeamten mit gleichem Sitz und gleicher Stimme beteiligt und gehalten, sich an die dort ergangenen Beschlüsse zu halten. In diesem Rahmen wird darüber beraten, wer wann welche häuslichen Pflichten zu erledigen hat, wie jemand sanktioniert werden soll, der seinen Abwasch nicht gemacht, den Kühlschrank unsachgemäß genutzt hat oder zu wichtigen Treffen regelmäßig zu spät gekommen ist – Konfliktanlässe, die auch im täglichen Leben in Freiheit virulent werden, unter den beengten Bedingungen der totalen Institution jedoch von besonderer Brisanz sind. Dieses, und auch vorhergehende Projekte in den USA, werfen eine Reihe von theoretischen, methodologischen und praktisch-pädagogischen Fragen auf, die seit mehr als zweieinhalb Jahren im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Vorhabens erforscht werden.

Die Delinquenz von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden bietet sowohl bezüglich allgemein sozialisationstheoretischer als auch kriminologischer Fragestellungen besondere Erkenntnischancen. Im Unterschied zum öffentlichen Schulwesen ist bei den Probanden im Strafvollzug generell – so eine ganze Tradition US-amerikanischer Forschung – von einer deutlich niedrigeren Ausbildung des moralischen Urteilsvermögens auszugehen, im Vergleich zu Jugendlichen, die ansonsten über das gleiche Sozialprofil verfügen und nicht einsitzen.

Hausversammlung und Fairneßkommittee regeln die Konflikte

Auf der Basis dieser Annahmen entstanden vor allem in den sechziger Jahren in den USA Modellprojekte, die eine Steigerung der moralischen Urteilsfähigkeit durch eine Demokratisierung des Vollzugs anstrebten. Letztes Vollzugsziel dieser „Just community“-Projekte war und ist die Senkung der individuellen Rückfallshäufigkeit. Die Zielsetzung unterstellt also einen empirisch überprüfbaren Zusammenhang zwischen dem moralischen Urteilsvermögen der Probanden und ihrer Teilnahme an Gruppenzusammenhängen, in denen es um die Lösung realer und ernsthafter Konflikte geht. Diese Zielsetzung beruht auf einer ausgereiften Entwicklungspsychologie moralischer Urteilsbildung. Im Anschluß an und in Weiterentwicklung der Gedanken des Entwicklungspsychologen und Erkenntnistheoretikers Jean Piaget hat der seinerzeit in Harvard lehrende Lawrence Kohlberg in einem breit gefächerten Werk eine Entwicklungspsychologie des moralischen Urteilsvermögens begründet, die dieses als eine sich in irreversiblen ganzheitlichen Stufen entfaltende kognitive Kompetenz darstellt, die einer rekonstruierbaren Entwicklungslogik folgt und durch gezielte Stimulation gefördert werden kann. Dabei unterscheidet sich Kohlbergs Ansatz von anderen Formen der Moralpsychologie dadurch, daß er das Hauptaugenmerk nicht auf die jeweiligen Inhalte des moralischen Urteils, sondern auf dessen Begründungsmodi richtet.

Kohlberg und seine Schule operieren theoretisch und methodisch mit drei übergreifenden Stufen des moralischen Urteilvermögens bei der Klärung der Begriffe „gut“ oder „gerecht“, die sich alle an der jeweiligen Stellung des Urteilenden zu den normativen Üblichkeiten seiner Umgebung bemessen. Demnach begründet eine Person ihre Präferenzen präkonventionell, wenn sie mit Hinweis auf Abwehr individueller Schäden oder Mehrung gemeinsamen Nutzens argumentiert; sie urteilt konventionell, wenn sie auf das verweist, was entweder in ihrem engeren Lebenszusammenhang oder nach Maßgabe gesetzter Normen in ihrer sozialen Gemeinschaft gilt. Personen urteilen postkonventionell, wenn sie zum Maßstab ihres Urteilens komplexe Konzepte oder Intuitionen rechts- oder moralphilosophischer Art, wie die Vertragstheorie, den Utilitarismus, die Bergpredigt oder den kategorischen Imperativ, bemühen können.

Dieser Theorieansatz ließ eine Reihe von Fragen offen, die die einschlägige Forschung und Theorienentwicklung in der Folge bis heute beschäftigt hat: Wie ist das Verhältnis von Urteilen und Handeln? Wie ist das Verhältnis von moralischem Wissen und moralischen Gefühlen? In dieser Perspektive hat Robert S. Selman eine ebenfalls kognitivistische Entwicklungspsychologie interpersonalen Verstehens vorgelegt, in der Schritt um Schritt immer reichere Konzepte von Individualität und Subjektivität erworben werden: von der Einsicht in die Differenz von inneren Zuständen und äußeren Handlungen zur Einsicht in die Beobachtbarkeit der eigenen Handlungen und der Einsicht in die Stabilität von Charakterzügen bis zur Erkenntnis der Wandelbarkeit dieser Eigenschaften bei sich selbst und anderen. Der Mechanismus, um den es dabei geht, ist die soziale Perspektivenübernahme, also die Fähigkeit von Menschen, versuchsweise die Sichtweisen und Gefühle anderer bei sich zu realisieren. Auf der Basis dieser Annahmen waren die pädagogischen Ziele für Maßnahmen im Strafvollzug vorgegeben: Wenn eine konventionelle Urteilsstruktur tatsächlich eine immunisierende Wirkung gegenüber der Neigung zu delinquentem Verhalten hat, kann die Erziehung verurteilter Delinquenten und Inhaftierter zu einer solchen Haltung die Wahrscheinlichkeit künftiger Rückfälle senken. Daher sollte die Einrichtungen von partizipatorischen „Just communities“ im Vollzug den Inhaftierten die Chance einräumen, ihr kognitives Regelverständnis zu üben.

Die Einrichtung demokratischer Strukturen im Vollzug mit einer vergleichsweise großen Möglichkeit zu Diskussion, Dialog und Partizipation, vergleichsweise hohen Beteiligungs- und Entscheidungschancen der Insassen, könnte die individuelle Urteilsfähigkeit insofern fördern, als entsprechend institutionalisierte Regeln ihre Rolle als motivierende Faktoren im Prozeß des moralischen Lernens entfalten, indem sie selbst einem höheren Allgemeinheits- und Geltungsgrad einer höheren Stufe entsprechen. Ließen sich diese Annahmen in den einschlägigen Projekten in USA bestätigen?

Moralische Urteilsfähigkeit schulen

Die Effekte derartiger Maßnahmen im US-Strafvollzug stellten sich als uneindeutig dar. So berichten Hickey und Scharf von einer deutlichen Senkung der Rückfallshäufigkeit im Connecticut „Just Community“-Projekt, was von Feldman auf der Basis einer eigenen Untersuchung bestritten wird. Jennings u.a. berichten einen, bei einer kleinen Stichprobe beobachtbaren Zusammenhang von Rückfallsneigung und erreichtem moralischen Niveau derart, daß Rückfälle mit steigendem Niveau geringer werden. Der Umstand, daß bei Kontrollgruppen, die unter sonst gleichen Bedingungen nicht an entsprechenden Projekten teilnahmen, derlei Steigerungen nicht eintraten, läßt sich als zusätzlicher Beleg für die kausale Wirkung von Diskussionsgruppen werten. Damit hätten sich sowohl der „Blatt Effekt“, das heißt, die gezielte Förderung moralischer Entwicklung durch dosierte Überforderung, die im schulischen Bereich mehrfach nachgewiesen worden ist, als auch die entwicklungsförderliche Kraft der Debatten realer Probleme bestätigt.

Läßt sich auf der Basis dieser Daten die Einrichtung entsprechender Projekte im deutschen Strafvollzug rechtfertigen? Dafür sprechen einige gemeldete Erfolge und vor allem die ausgebliebenen Erfolge von Kontrollgruppen, die an entsprechenden Programmen nicht teilnahmen; dagegen sprechen nicht nur die im Überblick bezüglich der Rückfallshäufigkeit einander widersprechenden Daten, sondern auch die in der Regel sehr kleinen Teilnehmerzahlen an den entsprechenden Projekten, welche oftmals schon vor mehr als fünfzehn Jahren abgeschlossen wurden. Bevor solche Programme in Deutschland eingerichtet werden, muß daher geklärt werden, warum es – abgesehen von schlichten Meßfehlern und dem Fehler der kleinen Zahl – zu so widersprüchlichen Ergebnissen kommen kann. Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte in der neuerdings im Rahmen der Kohlbergschule aufbrechenden Debatte um eine unzureichende grundsätzliche und empirische Klärung dessen liegen, was Kohlberg selbst als „präkonventionelle“ Stufe bezeichnet hat.

Die pädagogischen Projekte der „Just Community“ gewinnen den Stoff zu entsprechenden, realen Dilemmadiskussionen dadurch, daß sie sich eine demokratische Verfassung geben, in denen das meist funktional begründete Autoritäts- und Weisungsgefälle zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Gefangenen, Vollzugspersonen und Gefängnisleitung bis auf wenige, durch das Gesetz des Staates definierte Vorbehalte so zurückgenommen wird, daß über alle wesentlichen Belange in demokratischen Verhandlungen und Beschlußfassungen entschieden wird. Dadurch werden sowohl reale Dilemmata generiert als auch – durch das Einräumen eines größeren Entscheidungsspielraums – Motivationen zu rationalem Verhalten geschaffen. Darüber hinaus ensteht theoretisch eine „moralische Kultur“, die als Ensemble gleichberechtigter Partizipationschancen von den Insassen mit erhöhter subjektiver Zufriedenheit wahrgenommen wird. Derartige moralische Kulturen bestehen freilich nicht nur aus institutionell garantierten Argumentations- und Handlungsspielräumen, sondern mindestens so sehr aus gehaltvollen, solidarischen und intimen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Institution, genauer gesagt, auf den Freundschaften von „peers“. Damit basiert die Theorie einer moralförderlichen institutionellen Kultur auf drei Bestandteilen: a) einer Theorie des Lernens durch Verantwortungsübernahme, b) einer Theorie akzeptierter und fairer institutioneller Regelungen und c) einer Theorie der die Reziprozität fördernden intimen sozialen Beziehungen. Dem entsprechen drei Aspekte moralischer Lernprozesse und ihrer institutionellen Voraussetzungen. Die Hypothese, daß größere Entscheidungsspielräume die Motivation zu rationalem Verhalten stärken, wird in der vier Stufen postulierenden Theorie moralischer Beschlußfassung, wie sie James Rest erläutert hat, entfaltet. Die auf der Basis derartiger, institutionell festgelegter Entscheidungsspielräume entstehenden Interaktionsstrukturen im Rahmen gemeinsam geteilter Normen werden von den Individuen in mehreren Dimensionen bewertet und repräsentieren damit die in einer Institution bestehende „moralische Kultur“. Als pädagogisches Setting und Lernfeld wird eine „moralische Kultur“ um so effektiver sein, je mehr Freiheitsspielräume und Chancen zur Verantwortungsübernahme sie ermöglicht.

Nach Rest läßt sich das Konzept „Moralität“ in vier Komponenten zerlegen. Menschen, die „Moralität“ besitzen, sind demnach dazu in der Lage, erstens die Verläufe möglicher Handlungen in Situationen, die das Wohl oder Wehe einer Person betreffen, als solche zu identifizieren und situationsbezogen zu interpretieren, um darauf zweitens zu beurteilen, welche der möglichen Handlungen den Anforderungen eines moralischen Ideals am besten entspricht und deswegen getan werden sollte. Drittens auf der Basis situationsangemessener Interpretationen und der Klärung dessen, was im Prinzip getan werden sollte, müssen die Individuen entscheiden, was sie selbst tun sollten, das heißt, wozu sie sich selbst verpflichten.

Das Thema akzeptierter und fairer, oder als fair empfundener institutioneller Regelungen, ist von Kohlberg und Higgins in Überlegungen zur Demokratie in der Schule erläutert worden. Unter Bezug auf Durkheim und Piaget unterscheidet Higgins 1991 fünf Aspekte, unter denen eine „moralische Kultur“ identifiziert werden kann: a) Niveaus der Einstufung einer Institution als Gemeinschaft; b) angebotene Stufen der Argumentation in der Bewertung einer Institution als Gemeinschaft, die Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils isomorph sind; c) Kriterien der kollektiven Reichweite, Akzeptanz und des Ursprungs institutioneller Vorschriften; d) Phasen des Unterstützens oder Beibehaltens von Verhaltensweisen, die mit gegebenen Normen übereinstimmen oder sie brechen; e) Stufen des Argumentierens, die jeweils als Legitimation jeder einzelnen Norm aufgeboten werden – isomorph mit Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils.

Damit orientiert sich auch noch Higgins letzter Vorschlag zur Erhebung dessen, was sie als „moralische Kultur“ bezeichnet, in eleganter und sparsamer Weise an Kohlbergs Moralentwicklungsmodell. Sie gewinnt damit die Möglichkeit, institutionell verfestigte Normen und ihre Begründungen objektiv und subjektiv einzustufen – das heißt, sowohl die Stufe der entsprechenden Normen selbst und die Gründe, die die Individuen für ihre Beibehaltung oder Kritik in ihrem Verhalten oder Argumentieren aufbieten, nach Maßgabe der Phasen moralischer Entwicklung zu bewerten. Eine „moralische Kultur“ ist dann jeweils durch unterschiedliche Grade der Kongruenz oder Dissonanz von objektiven Normen und subjektiven Verhaltens- oder Akzeptanzweisen gekenzeichnet. Auf welchem Wege die Individuen innerhalb derartiger „moralischer Kulturen“ dazu geraten, sie insgesamt zu akzeptieren oder zu verwerfen, erklärt sich freilich nicht durch die Struktur der Normen selbst, sondern ist eine Resultante beziehungsweise eine Funktion der intimen, mehr oder minder wechselseitigen Interaktionsbeziehungen, die die Individuen zueinander aufnehmen oder nicht.

Mit den vorgetragenen Überlegungen zur Untersuchung von Verantwortungsübernahmeprozessen vor dem Hintergrund gegebener moralischer Kulturen auf der Basis situativ gebundener, soziomoralischer Sinnkonstruktion stehen nun drei empirische Analyseebenen zur Verfügung, anhand derer die Beziehungen zwischen institutionellen Strukturen, subinstitutionellen Interaktionsverhältnissen und der internen Struktur individueller Lernprozesse untersucht werden können.

In unserem Forschungsprojekt untersuchen wir also, ob junge Leute durch Teilhabe an partizipatorischen Strukturen im Strafvollzug ihre moralische Urteilsfähigkeit steigern können, wie diese interaktiven Lernprozesse in Gruppen verlaufen, und ob sich neben der moralischen Urteilsfähigkeit auch eine gesteigerte Fähigkeit zum empathischen Bezug auf andere entwickelt hat. Schließlich ist von Interesse, ob sich durch die mögliche Steigerung von moralischer Urteilsfähigkeit und Empathie auch das Normenbewußtsein so weit entfaltet, daß die Jugendlichen nach der Entlassung in belastenden Situationen womöglich nicht mehr mit dem Bruch strafrechtlicher Normen reagieren. Freilich enthält diese Studie keine Untersuchung zur Rückfallshäufigkeit. Hierzu ist das Projekt auf die kriminologische Abteilung der Strafanstalt angewiesen.

Zur Überprüfung der moralischen Urteilsfähigkeit werden die Jugendlichen bei Eintritt und Austritt aus der für sie etwa zehn Monate währenden Maßnahme mit den von Kohlberg und Mitarbeitern entwickelten Interviews zu moralischen Dilemmata befragt. Diese Dilemmata, von denen das sogenannte „Heinz-Dilemma“ nur das bekannteste ist, konfrontieren die Interviewpartner mit hypothetischen Konfliktsituationen und explorieren die Argumentationsstruktur der Antworten. Bekannt geworden ist ein Dilemma, das danach fragt, ob im Konfliktfall die Rettung menschlichen Lebens vor absolutem Gesetzesgehorsam steht. Dieses qualitative Verfahren, das moralische Urteile in einer nicht reduktionistischen Weise ernst nimmt, enthält eine gut validierte und standardisierte Befragungs- und Auswertungstechnik.

Auf ähnliche Weise werden auf der Basis der von Robert Selman entwickelten Theorie und Methodologie im Rahmen entsprechend strukturierter Interviews Personenwahrnehmung, Personenkonzept und Empathie erhoben – hier sind es Erzählungen über Freundschaften, die als Anlaß zur Äußerung entsprechenden sozialen Wissens dienen.

Freiheit heilt

Die Lernprozesse, die in der Gruppe selbst ablaufen, das heißt, der Verlauf der einmal wöchentlich stattfindenden „Just Community“-Sitzungen werden per Video aufgezeichnet und abgeschrieben. Die Auswertung der Transskripte geschieht im Rahmen der Methodologie der von Ulrich Oevermann entwickelten strukturalen Hermeneutik, die Hansjörg Sutter für die Zwecke dieses Projekts weiterentwickelt hat. Die Gespräche zwischen den Gefangenen werden sequentiell analysiert und auf die Strukturen der Interaktionen hin betrachtet. Dabei steht besonders das Spannungsverhältnis zwischen den vorgegebenen Einschränkungen im Rahmen einer totalen Institution und ihrer Rollenanforderungen sowie der Eigenlogik einer auf Begründung setzenden Argumentation im Mittelpunkt des Interesses.

Nach nunmehr zweieinhalb Jahren lassen sich sowohl im theoretischen als auch im pädagogisch-praktischen Bereich deutliche Ergebnisse ablesen. Als Zwischenbilanz der bisherigen Forschung können wir – entgegen den oben referierten Annahmen der Kohlbergschule – zeigen, „daß das Konfliktverständnis der Insassen und deren Begründung von moralisch relevanten Handlungsentscheidungen über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg variiert“. Zudem hat sich gezeigt, daß einzelne Probanden schon bei Eintritt in die Maßnahme moralische Dilemmata auf dem Niveau der von Kohlberg postulierten Stufe Vier, der konventionellen Stufe, erörtern. Das in den US-amerikanischen Studien behauptete Überwiegen eines präkonventionellen Urteilsniveaus bei Strafgefangenen ließ sich nicht bestätigen. Damit stützen die hiesigen Ergebnisse umgekehrt kritische Untersuchungen zu Kohlberg, die aus entwicklungspsychologischer Perspektive die Annahme einer präkonventionellen Stufe bezweifeln und anstatt dessen – im Falle von Kindern – von Diskrepanzen zwischen konventionellen Wissensstrukturen und moralischer Motivation ausgehen.

Pädagogisch-praktisch hat sich ergeben, daß die allgemeine Zufriedenheit in der entsprechenden Unterabteilung des Vollzugs, und zwar seitens aller Beteiligten, gestiegen ist. Sozialarbeiter und insbesondere Vollzugsbeamte, die regelmäßig an einer theorieorientierten Fortbildung teilnehmen, haben über ihre beruflichen Routinen hinaus die Mitwirkung an der Maßnahme als Teilhabe an einer auch für ihr eigenes Selbstverständnis wichtigen pädagogischen Praxis zu schätzen gelernt.

Bei den jugendlichen Gefangenen ergibt sich ein spannungsreiches Gegeneinander zwischen der einerseits zunehmenden Fähigkeit, Konflikte argumentativ auszutragen und den immer wieder aufbrechenden Konflikten, Demütigungen und Herrschaftspraxen, die nicht immer an die Öffentlichkeit der „Just Community“ dringen. Es zeichnet sich freilich ab, daß die Existenz der „Just Community“ einen erkennbaren Rückgang brutaler Konfliktaustragung bewirkt. Das kann nicht heißen, daß die unaufhebbaren Herrschaftsstrukturen des Vollzugs damit Raum für eine in jeder Hinsicht demokratische Lebensform geben, wohl aber, daß die Spannung zwischen totaler Institution und demokratischen Prinzipien eine echte Spannung ist, und das Modellprojekt somit nicht nur als Camouflage subkultureller und institutioneller Repression dient.

Daß Freiheit heilt, mag heutzutage allzu emphatisch klingen. Daß eine durch medial vergröberte Darstellung von Delinquenz in ihrem Sicherheitssempfinden verunsicherte Bevölkerung und die an ihrem Zuspruch interessierte Politik neuerdings dazu neigt, repressiven Maßnahmen den Vorzug zu geben, ist nicht zu bestreiten. Daß dafür in der Sache kein Grund besteht, sondern daß Liberalität und Demokratie auch unter den extremen Bedingungen des Strafvollzugs erfolgreich an der Resozialisierung beteiligt sein können, haben die bisherigen Ergebnisse des Modellversuchs „Just Community“ durchaus ergeben.

Autor:
Prof. Dr. Micha Brumlik
Erziehungswissenschaftliches Seminar, Akademiestr. 3, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 75 17

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