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Die Liberalisierung Indiens

Indien hat sich jahrzehntelang wirkungsvoll vom Weltmarkt abgekoppelt. Sein Anteil am Welthandel ging seit der Erlangung der Unabhängigkeit ständig zurück. Man konzentrierte sich auf eine binnenorientierte Wirtschaftsentwicklung, betonte die Importsubstitution und vernachlässigte den Export. Nach einer Zahlungsbilanzkrise im Jahr 1991 leitete die indische Regierung eine dramatische Wende der Wirtschaftspolitik ein. Für den Historiker bedeutet das eine epochemachende Entscheidung, deren Voraussetzungen und Folgen es sich zu untersuchen lohnt, auch wenn die Archive darüber noch keine Auskunft geben. Dietmar Rothermund hat sich dieser Aufgabe gewidmet und legt in einem ersten Bericht nach einem Forschungsaufenthalt in Indien die Hintergründe der Reformpolitik der indischen Regierung dar. Dieses Projekt fügt sich gut in die neue Schwerpunktbildung am Südasieninstitut ein.

Unter britischer Kolonialherrschaft war Indien den Kräften des Weltmarkts unterworfen, freilich zu Bedingungen, die die Kolonialherren diktierten. Diese huldigten den Prinzipien des Freihandels, solange sie selbst nicht von Konkurrenz bedroht waren, danach gingen sie zu einem Regime von Schutzzöllen über, das durch Zollpräferenzen für britische Güter durchlöchert war. Indische Nationalisten erkannten die negativen Wirkungen dieses Regimes und forderten einen ungeschmälerten Protektionismus zugunsten der einheimischen Industrie. Der wurde erst im unabhängigen Indien durchgesetzt, wobei man neben prohibitiven Schutzzöllen sogar Importverbote für bestimmte Güter erließ. Es kam hinzu, daß die Kolonialregierung im Zweiten Weltkrieg ein Interventionsinstrumentarium errichtet hatte, um die Nahrungsmittelversorgung zu garantieren und indische Industrieprodukte für den Heeresbedarf aufzukaufen. Dieses Instrumentarium wurde von Indiens erstem Premierminister Jawaharlal Nehru übernommen, um seine planwirtschaftlichen Ideen durchzusetzen. Die indischen Großindustriellen, die im Rahmen der Kriegszwangswirtschaft Gewinne gemacht hatten, hatten bereits 1944 einen Plan für die Nachkriegszeit vorgelegt, der eine „gemischte Wirtschaft“ empfahl, in der der Steuerzahler das Kapital für die Schwerindustrie aufbringen durfte, während der private Sektor sich der Konsumgüterindustrie annahm, die eine rasche Rendite versprach. In diesem Sinne kam es zu einer Symbiose von Privat- und Staatswirtschaft. Der Wettbewerb wurde durch ein Lizenzsystem ausgeschaltet, weil Nehru glaubte, daß sich nur reiche Länder den Wettbewerb leisten konnten, während Indien seine knappen Ressourcen sorgfältig verwalten mußte. Der von der Kolonialregierung übernommene, aber nun mit indischen Beamten besetzte Verwaltungsapparat nahm sich dieser Aufgabe, die ihm zusätzliche Macht einbrachte, sehr gern an. So entstand ein stabiles System, das ein langsames aber stetiges Wachstum garantierte. Der indische Wirtschaftswissenschaftler Raj Krishna prägte das geflügelte Wort von der „Hindu rate of growth“, der Hindu-Wachstumsrate, von 3,5 Prozent pro Jahr, die bei einem Bevölkerungswachstum von zwei Prozent immerhin zirka 1,5 Prozent Wachstum des Prokopfeinkommens pro Jahr bedeutete.

Hätte Indien seine Industrialisierung selbst finanzieren können, wäre es nicht genötigt gewesen, das binnenorientierte, planwirtschaftliche Regime aufzugeben, doch die Einfuhr dringend benötigter Investitionsgüter erforderte Devisen, ebenso der Erdölimport, der mit dem Fortschritt der Industrialisierung schnell anstieg. Indien hatte zwar eigene Erdölvorkommen, die jedoch erst langsam erschlossen wurden, was wiederum die Einfuhr entsprechender Geräte erforderte. Indiens Handelsbilanz war daher meist negativ. Die Zahlungsbilanz konnte nur durch Entwicklungshilfe, Kredite oder den Export von Arbeitskräften ausgeglichen werden.

In den frühen Jahren der Industrialisierung waren die Lieferanten der Investitionsgüter die eifrigsten Befürworter staatlicher Entwicklungshilfe; sie drängten Indien keineswegs, das planwirtschaftliche Regime abzuschaffen, das ihnen gute Aufträge sicherte. Als die Erdölimporte immer teurer wurden, konnte Indien seine Zahlungsbilanz durch die Überweisungen der indischen Arbeitskräfte ausgleichen, die in großer Zahl in die Länder am Golf strömten. Zugleich ermöglichten die Petrodollars, die in den Weltkreditkreislauf hineingepumpt wurden, eine kommerzielle Kreditvergabe zu günstigen Bedingungen, die auch Indien in die Schuldenfalle lockte. Doch ein weiterer Faktor deckte Indiens Devisenbedarf: Die Auslandsinder parkten ihre Gelder in Indien, wo sie hohe Zinsen kassieren und dabei ihre Gelder doch jederzeit wieder abziehen konnten, weil die Regierung die Konvertibilität garantierte.

Bereits in den 1980er Jahren unter Indira und Rajiv Gandhi kam es zu einer allmählichen Kurskorrektur. Es wurde immer deutlicher, daß Indien im Weltzusammenhang mehr und mehr ins Hintertreffen geriet, während anderswo die „kleinen Tiger“ große Sprünge nach vorn machten. Doch statt zunächst den internen Wettbewerb zu fördern und die bürokratischen Hindernisse zu beseitigen, ging man den Weg des geringsten Widerstandes und baute die Schutzzollmauern ab. Wirtschaftswissenschaftler mögen argumentieren, daß sich auf diesem Wege in der Tat die raschesten Fortschritte erzielen lassen. Doch in Indien stiegen nun die Importe und brachten der Regierung Zolleinnahmen in ungeahnter Höhe ein. Da solche Einnahmen ausschließlich der Bundesregierung zugute kommen, stärkte dies ihre finanzielle Position gegenüber den Bundesländern und erlaubte ihr zugleich, den öffentlichen Sektor weiter aufzublähen. Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor wuchs von 1981 bis 1991 von 15 auf 19 Millionen an, während die Zahl der Erwerbstätigen im privaten Sektor nur von 7,4 auf 7,6 Millionen anstieg. Von den Arbeitnehmern im öffentlichen Sektor sind zudem nur zehn Prozent in der Industrie (Manufacturing) tätig, im privaten Sektor aber 60 Prozent. Das bedeutet, daß die Aufblähung des staatlichen Sektors in erster Linie dem Dienstleistungssektor zugute kam, das heißt im Klartext: mehr Verwaltungsangestellte, Türsteher, Boten und so weiter.

Eine Analyse des Strukturwandels der indischen Wirtschaft kann aus diesen Gründen einen völlig falschen Eindruck vermitteln. Wenn man sich dabei auf die Anteile des primären, sekundären und tertiären Sektors bezieht, ergibt sich das Bild einer sich gut entwickelnden „modernen“ Wirtschaft, die den aus allen Industrieländern bekannten Entwicklungspfad rasch nachvollzieht. Der Anteil des Primärsektors (Landwirtschaft) am Sozialprodukt ist von 1950 bis 1990 von zirka 60 auf 33 Prozent geschrumpft, der Anteil des sekundären Sektors (Industrie) ist von 15 auf etwa 27 Prozent und der des tertiären von rund 30 auf 40 Prozent angestiegen. Wenn man aber berücksichtigt, daß immer noch rund 60 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig sind, dann bemerkt man die krasse Diskrepanz zwischen der bedauernswert niedrigen Produktivität in der Landwirtschaft und der vergleichsweise hohen Produktivität der Industrie. Der Dienstleistungssektor, der in den modernen Industrieländern eine führende Rolle spielt, dort aber eine Fülle unterschiedlichster Arbeitsplätze außerhalb des öffentlichen Dienstes bietet, wird in Indien zum großen Teil vom Staat beherrscht. Die Zolleinnahmen ermöglichten es der Regierung, alles beim alten zu belassen und sogar die alten Fehler noch zu vermehren. Der weitere „Fortschritt“ in diese Richtung wurde jedoch durch eine politische Krise gebremst, die sich zu einer Zahlungsbilanzkrise ausweitete.

Nach der Erlangung der Unabhängigkeit war der aus dem Freiheitskampf hervorgegangene Nationalkongreß zur staatstragenden und staatsgetragenen Partei geworden. Das Mehrheitswahlrecht wirkte sich in Indien zugunsten der Kongreßpartei aus, da sich stets linke und rechte Opposition gegenseitig aus dem Feld schlugen. Nur 1977 kam es zu einer Kombination der oppositionellen Kräfte, und Indira Gandhi wurde besiegt. Doch diese Kräfte zerstritten sich bald wieder, und Indira Gandhi kam 1980 erneut an die Macht. Nach ihrer Ermordung 1984 gewann ihr Sohn Rajiv die rasch anberaumten Wahlen mit einem großen Sympathiebonus. In den fünf Jahren seiner Regierungszeit verlor er diese Sympathie. Es zeigte sich, daß er den „Seiteneinstieg“ in die indische Politik nicht bewältigen konnte. Wieder kam es zu einer Kombination der oppositionellen Kräfte. Ihr Einsatz reichte dazu aus, Rajiv Gandhi 1989 zu besiegen, aber nicht dazu, eine Regierung zu bilden, die eine Mehrheit im Parlament finden konnte. Geduldete Minderheitsregierungen, die in ihrer Handlungsfähigkeit sehr beschränkt waren, beherrschten nun das Feld. Die politische Instabilität setzte die Kreditwürdigkeit Indiens herab, obendrein fügte der Golfkrieg Indien schweren Schaden zu, weil die in Kuweit tätigen Inder in einer Blitzaktion evakuiert werden mußten und nun nicht mehr mit ihren Überweisungen zu rechnen war.

Bei einem Gespräch mit Indira Gandhi im Jahr 1981 hatte sie auf meine Frage, ob sie sich nicht davor fürchte, daß eine unerwartete Krise in der Golfregion Indien schwer treffen könne, geantwortet: „The Arabs need us“ und damit alle Bedenken vom Tisch gewischt. Neun Jahre später wurde diese Frage hochaktuell, und Indien war in der Tat schwer betroffen. Als Indien auf den Staatsbankrott zutrieb, zogen auch die Auslandsinder ihre Gelder ab und machten damit die Zahlungsbilanzkrise unvermeidlich.

In Indien war zu der Zeit, als sich die Krise zuspitzte, der Wahlkampf im vollen Gange. Rajiv Gandhi fiel mitten im Wahlkampf im Mai einem Attentat zum Opfer. Wieder einmal kam seiner Partei wohl ein Sympathiebonus zugute. Die Kongreßpartei verfehlte die Mehrheit nur knapp und mußte wieder eine Minderheitsregierung bilden, deren Duldung jedoch unproblematisch war, weil zu dieser Zeit niemand an Neuwahlen Interesse haben konnte. Der neue Premierminister P.V. Narasimha Rao trat sozusagen die Flucht nach vorn an und optierte für ein Liberalisierungsprogramm, das ganz und gar den Vorstellungen von Weltbank und Welt- währungsfonds entsprach. Er ernannte Dr. Manmohan Singh zum Finanzminister, der selbst Beamter der Weltbank gewesen war. Singh garantierte, daß Indien die Auflagen erfüllte, die diese Institutionen mit der Gewährung umfangreicher Kredite verbinden. Dabei wurden diese Auflagen in diesem Fall gar nicht einmal erwähnt. Indien sollte nicht das Gesicht verlieren, und das Ansehen des Finanzministers bürgte für die Erfüllung der üblichen Konditionen. Er wertete denn auch prompt die Währung um 18 Prozent ab und setzte sich energisch für die Reduktion des Haushaltsdefizits ein. Da Indien auf diese Weise seine Kreditwürdigkeit zurückgewonnen hatte, flossen auch die Gelder der Auslandsinder wieder nach Indien, das bald über beträchtliche Devisenreserven verfügte, doch es ruhte sich nicht auf diesem Polster aus. Die Regierung nutzte sozusagen die Gunst der Krise, um Maßnahmen zu ergreifen, zu denen es bisher an politischem Mut gefehlt hatte. Ausländischen Unternehmern wurde erlaubt, Mehrheitsanteile an indischen Firmen zu erwerben, ja diese unter Umständen ganz zu besitzen. Die Privatisierung von Betrieben des öffentlichen Sektors wurde vorangetrieben. Der Staatshaushalt wurde so weit wie möglich ausgeglichen, und der Griff in die Kasse der staatseigenen Reserve Bank of India eingedämmt, denn dieser Griff bedeutete zwangsläufig das Ankurbeln der Notenpresse und damit das Anheizen der Inflation.

Leider zeigten sich auch bald die Bremsspuren, die diese Finanzpolitik verursachen mußte. Der Bund kürzte seine Transferleistungen an die Länder und forderte auch diese auf, ihre Ausgaben im Sinn der Haushaltsdisziplin zu kürzen. Sie taten das auch, aber nicht auf den Gebieten, auf denen es nötig gewesen wäre (Verwaltungsausgaben, Beamtenapparat), sondern auf solchen, auf denen es am leichtesten möglich war (Erziehung, Gesundheitswesen, Sozialleistungen). Bremsspuren gab es auch in bezug auf die Investitionstätigkeit, und so erlebte die indische Industrie eine gewisse Rezession in den Jahren 1991 bis 1993, der sie aber recht schnell wieder entkam. Nur die erwarteten ausländischen Direktinvestitionen strömten noch nicht im erwarteten Maße ins Land, dafür drängten die spekulativen Anleger (zum Beispiel amerikanische Pensionskassen, die Milliardenbeträge günstig anlegen müssen) auf den indischen Aktienmarkt. Dadurch ergaben sich Abhängigkeiten, die die von den Geldern der Auslandsinder in den Schatten stellten. Das Geld von kleineren ausländischen Anlegern, das dem Aktienmarkt größere Stabilität verleihen würde, kann das vorsintflutliche, verstaatlichte indische Bankensystem einfach noch nicht bewältigen. Hier kann nur eine rasche Privatisierung und Modernisierung dieser Banken Abhilfe schaffen.

Das Tempo der Liberalisierung verzögerte sich jedoch nach 1993. Die Zeit, in der die Gunst der Krise den Mut zum Handeln beflügelte, war vorbei. Landtagswahlen zeigten an, daß das Wählervolk wohl die Bremsspuren, aber noch nicht die Vorteile, die die neue Wirtschaftspolitik mit sich brachte, bemerkt hatte. Die Regierung bekam Angst vor der eigenen Courage, das zeigt sich schon an einer bemerkenswerten Sprachregelung: Das Wort Liberalisierung wurde tunlichst vermieden und nur noch von Wirtschaftsreformen gesprochen. Allerlei populistische Maßnahmen wurden getroffen, die kaum durchdacht und koordiniert waren. Es ging allein nur noch darum, die Wähler zu beeindrucken. Doch die Schlappe der Kongreßpartei bei den Wahlen vom Mai 1996 zeigt, daß dieses Ziel offensichtlich verfehlt wurde. Die neue Regierung wird nun nach den Wahlen Zeit haben, den Reformkurs wieder aufzunehmen, dabei kommt ihr zugute, daß keine Partei diesen Kurs grundsätzlich ablehnt. Von den Führern der rechten Bharatiya Janata Party bis zu Jyoti Basu, dem kommunistischen Ministerpräsidenten Bengalens, sind alle politischen Kräfte für die Liberalisierung. Doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und daher sollen hier abschließend noch einige Probleme behandelt werden, die einer Lösung harren.

Die bisherige Reformpolitik hat sich weitgehend auf makroökonomische Weichenstellungen beschränkt, die ohne Zweifel dringend notwendig waren, aber ohne entsprechende institutionelle Reformen keine ausreichende Wirkung haben. Hier sollen nur einige Fragen angedeutet werden, die die Haltung des Staates zum Agrarmarkt, zum Arbeitsmarkt und zur Armutsbekämpfung betreffen. Die Intervention des Staates auf dem Agrarmarkt hatte geradezu absurde Züge angenommen, die sich nicht leicht korrigieren lassen, weil die betreffenden Absurditäten von den Bauern im Sinne der Besitzstandswahrung verteidigt werden. Etwa ein Sechstel der gesamten Getreideernte wird vom Staat jedes Jahr aufgekauft, dann sozusagen im öffentlichen Interesse gehortet und schließlich über 400 000 „fair price shops“ verteilt. Der staatliche Aufkaufpreis (procurement price) liegt oft über dem Marktpreis. Die Bauern haben auf diese Weise eine Absatzgarantie, und zwar nicht zu niedrigen, sondern zu Höchstpreisen. Die „Hortung“ ist verlustreich, das eingelagerte Getreide wird zu einem guten Teil von Ratten gefressen, aber auch von Angestellten der betreffenden staatlichen Lagerhaltungsgesellschaft (Food Corporation of India) veruntreut. Die „fair price shops“ sollen das Getreide zu billigen Preisen an die Armen abgeben, aber es ist schwer, den Wohlhabenden den Zugang zu diesen Läden wirkungsvoll zu verweigern. Da die Regierung das System nicht mit einem Federstrich abschaffen wollte, hat es die Preise in den „fair price shops“ ansteigen lassen, bis sie nahezu den Marktpreis erreichten, dadurch nahm die Nachfrage ab und die Regierung sitzt jetzt auf einer monströsen Vorratshalde von etwa 36 Millionen Tonnen Getreide. Auch wenn man nur einen Bruchteil davon auf dem Weltmarkt verkaufte, würde dieser damit völlig ruiniert. Indien braucht für Notzeiten einen Vorrat von etwa zehn Millionen Tonnen, und der Rat von Weltbank und Weltwährungsfonds, stattdessen eine Geldreserve anzulegen, mit der das Getreide auf dem Weltmarkt besorgt werden könnte, sollte lieber nicht befolgt werden. Zimbabwe hat damit in jüngster Zeit schlechte Erfahrungen gemacht. Doch das in Indien bestehende System muß dringend reformiert werden.

Die Arbeitsmarktpolitik ist ebenfalls reformbedürftig. Sie hatte bisher das Ziel, jeden Arbeitsplatz zu bewahren, auch wenn er sich als völlig unproduktiv erweist. Viele Unternehmer haben ihre „kranken Betriebe“ (sick industries) der Regierung in den Schoß gelegt, die sie mit Verlust weiterbetreibt. Die privaten Unternehmer haben auf diese Arbeitsmarktpolitik damit reagiert, daß sie möglichst wenig Arbeiter einstellen und lieber teure Maschinen anschaffen, die Arbeitsplätze einsparen. Das ist ein für Indien völlig unangemessenes Verhalten, aber für die Unternehmer ist es unter den gegebenen Umständen durchaus rational. Eine weitere Reaktion auf die Arbeitsmarktpolitik ist die Auslagerung der Produktion in Zulieferbetriebe im „unorganisierten“ Sektor, das sind Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Arbeitskräften, die ohne Schwierigkeiten entlassen werden dürfen. Auch haben diese Kleinstbetriebe keinen Betriebsrat und entziehen sich weitgehend der staatlichen Kontrolle. Hier herrschen geradezu frühkapitalistische Zustände, doch widerspricht diese Produktionsweise natürlich der Regel, daß größere Betriebe durch hohe Stückzahlen billiger produzieren können. Die institutionellen Bedingungen verzerren den Markt, aber der „unorganisierte“ Sektor floriert. Man nahm an, daß im Gefolge der Liberalisierung die Zahl der Arbeitskäfte im organisierten Sektor zunehmen und im unorganisierten abnehmen würde, doch das Gegenteil ist der Fall. Solange die Liberalisierung den Arbeitsmarkt nicht völlig durchdringt, ist das auch gar nicht anders zu erwarten.

Die größten Probleme ergeben sich bei den staatlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. Die Armen befinden sich zumeist in der Landwirtschaft (landlose Landarbeiter) oder im „unorganisierten “ Sektor oder sie sind ganz einfach arbeitslos. Ihre Zahl auch nur annähernd korrekt zu erfassen, ist schier unmöglich. Die Debatten um den Bevölkerungsanteil, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, sind meistens Spiegelfechtereien. Die Regierung behauptet, es seien nur noch 19 Prozent der Bevölkerung. Kritiker setzen die Zahl weit höher an. Es kommt hinzu, daß die Armutsgrenze in Indien nach Kriterien der Nahrungsaufnahme gezogen wird, andere Grundbedürfnisse wie Kleidung, Wohnung bleiben weitgehend unberücksichtigt. Würde man sie einbeziehen, lebten sicher etwa 50 Prozent unter der Armutsgrenze. Die Regierung bekämpft die Armut in erster Linie durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für die ungeheure Beträge ausgegeben worden sind. Kritiker betonen, daß höchstens 15 Prozent dieser Beträge wirklich bei den Armen ankommen und beklagen, daß die geleistete Arbeit meist keine Wertschöpfung bedeute, sondern nutzlos sei. Man solle daher besser die Armen direkt mit Geld versorgen. Ein neues Programm für soziale Sicherheit (National Social Assistance Scheme) sieht vor, Alte, Kranke, bedürftige Mütter und Familien, deren einziges erwerbstätiges Mitglied gestorben ist, mit direkter Sozialhilfe zu versorgen. Das könnte sich als ein vielversprechender Ansatz erweisen, vor allem wenn die Verteilung durch lokale Selbstverwaltungsorgane erfolgt. Bis jetzt hat sich die Regierung kaum damit beschäftigt, wie Sozialhilfe sinnvoll zu gestalten und zu koordinieren ist. Programme wurden meist ad hoc verkündet und unzureichend durchgeführt, das Geld kam aber auf alle Fälle unter die Leute, wenn auch nicht unter die armen Leute. Die Lehrmeinung, daß die beste Armutsbekämpfung immer noch die Förderung des Wirtschaftswachstums sei, ist sicher richtig, aber soziale Korrekturen sind notwendig, weil sich der Zugewinn an Wohlstand im Zuge der Liberalisierung in den Händen der bereits privilegierten Schichten konzentriert.

Autor:
Prof. Dr. Dietmar Rothermund, Südasien-Institut, Abteilung Geschichte, Im Neuenheimer Feld 330, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 89 09

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